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5 „WAS MACHEN SIE IN MEINEM BÜRO?“

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Frankfurt, Montag, 19. Juli 2010, 10:40 Uhr, Foyer zu Sinrots Büro

Frisch aufgebrühter Kaffee!, dachte er, und schloss: Die Messerschmidt! Die alte Vogelscheuche musste just das Büro verlassen oder betreten haben. (Dass Sinrot mit dieser Vermutung nicht richtiggelegen hatte, wurde bereits erwähnt.)

Er hatte den Bürokomplex erreicht. Unter schneidendem Klacken des Schlosses stieß er die Tür zu dem Vorraum auf, in dem Frau Messerschmidt saß, und stob kraftvoll auf „sein Reich“ zu. Während sein Blick sie grüßend gestreift hatte, war ihrer erschüttert von der Schreibmaschine hochgefahren. Frau Messerschmidt war entsetzt, denn gerade hatte sie Sinrots „alternative Version“ in sein Büro gehen sehen. Sie stammelte:

„Sie hier?“

Die Hand schon an der Klinke der Tür zu seinem Büro, verharrte Sinrot. Langsam und mit angespannten Lidern wandte er Frau Messerschmidt seinen Kopf zu. Ihr steif gesprühter, silbergrauer Pagenschnitt schien schwer wie eine gusseiserne Haube zu wiegen, ihr runzeliges Gesicht zusammenzudrücken.

„Natürlich bin ich hier“, sagte Sinrot nach drei Sekunden bohrender Blicke, „Wo sollte ich denn sonst sein?“

Frau Messerschmidt hielt den Atem an. Von den Wangen flutete Röte über ihre zuckende Nase. Hohn umspülte Sinrots Mund. Welch ausdrucksvolle Mimik!, dachte er.

„Ja, aber, aber“, stotterte Frau Messerschmidt, „Aber Sie sind doch gerade erst da rein gegangen. Wie können Sie denn dann ...“

„Frau Messerschmidt“, unterbrach er sie, „wann hatten Sie Ihren letzten Urlaub?“

„Im Juni. Wieso?“

„Nun“, erläuterte er schonungsvoll, „Ich denke, Ihnen würde ein Urlaub guttun. Sie wirken überarbeitet.“

„Ja, aber. Gerade eben sind Sie doch ...“

„Na, na, na, Frau Messerschmidt!“, pendelte Sinrot mahnend seinen Zeigefinger, „Vielleicht sollten Sie sich einen Termin bei unserem Doktor Teufel geben lassen. Was sagen Sie denn da?“

„Dass, dass, dass ich mir das nicht erklären kann, wieso Sie da schon wieder reingehen. Sie sind doch gar nicht raus!“

Sinrot hob die rechte Braue, neigte Frau Messerschmidt die Stirn zu, als suchte er einem beschränkten Kind die Summe von eins und eins zu erläutern, und erläuterte also:

„Selbstverständlich bin ich hier raus! Wissen Sie das nicht mehr?“

„Ja, aber vor einer halben Stunde! Und gerade eben noch mal rein und ...“

„Frau Messerschmidt!“, sagte Sinrot streng und fixierte sie aus schmalen Augen, „Sie werden sich noch heute einen Termin bei Teufel nehmen. Ich kann mir keine Mitarbeiter erlauben, die ihre Sinne nicht beisammen haben!“ Von ihrer Nase schob sich Blässe über ihre Wangen. „Haben Sie das verstanden, Frau Messerschmidt?“, schob er mild hinterher.

„Das hab ich.“

„Schön“, sagte Sinrot dürr, „Sie entschuldigen mich?“

„Aber natürlich, Herr Sinrot!“

Sinrot wandte seinen sich leerenden Blick ab, öffnete die Tür zu seinem Büro, und betrat den Raum.

Bevor wir Sinrot in diesen Raum begleiten, sei auf eine weitere Eigenheit seines Charakters hingewiesen, und zwar nicht, um sich des Ungemachs zügig zu entledigen, sondern weil diese zu kennen verstehen lässt, wie sein spezieller „Gefühlsapparat“ sein Leben behinderte, und wie die nun folgenden Ereignisse ihm helfen würden, diese Behinderung „alternativ“ zu „lösen“.

Zunächst zu Sinrots Behinderung: Ihm mangelte es deutlich an Gefühl, ja, in ihm offenbarte sich eine geradezu dämonische Gefühlsleere. Nicht, dass er jede affektive Anlage vermissen ließ. Als zum Beispiel sein Onkel, Dr. Ferdinand Sinrot, verstorben war, hatte es zart in einer Weise in ihm rumort, die man als Gefühl (als Trauer in diesem Fall) hätte beschreiben können (sogar seine Augen hatten sich befeuchtet!). Aber im Grunde war dies kein als Gefühl empfundenes Gefühl, sondern eher ein stummes Stammeln, jene Gefühlsmade, die ihm da in der Gurgel kroch, herauszuwürgen.

Sinrots Unvermögen zu tatsächlichem Gefühl macht nachvollziehbar, dass er erst recht nicht vermochte, ein höheres emotionales Bedürfnis wahrzunehmen, welches seine Lebenskonzepte hätte beeinflussen können. Was ist mit „höherem emotionalem Bedürfnis“ gemeint? Gesetzt den Fall, jemand empfindet Freude, ein Bild zu malen, ja, verspürt bei jedem neuen Bild ein Glücksgefühl, dann wird dieser jemand vermutlich das „höhere Bedürfnis“ entwickeln, Maler zu werden, Kunst schaffen zu wollen, Kunst schaffen zu müssen! – Nicht so bei Sinrot (bislang). Zwar hatte er in seiner Jugend gerne gemalt (deswegen das Beispiel) und Begabung hatte er auch (hatte es geheißen). Aber in diesem Hang zur Malerei das höhere emotionale Bedürfnis zu entdecken, sich kreativ zu betätigen, war ihm so wenig möglich wie dem Tetraplegischen, die liebende Hand der Gemahlin im Schoß zu fühlen. Sinrot war emotional taub, gelähmt, behindert eben!

Höhere „emotionale Impulse“ hatten bei Sinrot also keine Chance. Keine Chance also für Sinrots künstlerische Neigung, zur Berufung zu erblühen. Keine Chance also für Sinrot zu sehen, dass es mehr geben könnte im Leben als ein Plus in der Bilanz. Keine Chance also für ihn zu verstehen, dass sein Leben auch Erfüllung hätte sein können. Doch eine Chance hatte er! Und die bestand in dem, was gleich geschehen würde, wenn er sein Büro beträte: Er würde sich selbst begegnen. In Fleisch und Blut!

Inwieweit sollte darin eine Chance bestehen? Ganz einfach: Er und sein anderes Selbst würden feststellen, dass sie nun doppelt in ein und derselben Realität existierten. Und schnell würden sie begreifen, dass sie jetzt nicht einfach doppelt zur Arbeit erscheinen könnten, dass sie jetzt nicht einfach der einen Frau, die sie hatten, ein doppelter Ehemann sein könnten, dass sie jetzt nicht einfach ihr eines, aber nun doppelt vorhandenes Leben doppelt leben könnten, denn für dieses eine Leben gab es nun einmal nur einen Rahmen, nur eine Realität. Und genau aus dieser Einsicht ergäbe sich eine zwingende Konsequenz und mit dieser eine Chance:

Einer der beiden würde einen anderen Weg gehen müssen als der andere! Während der eine sein bisheriges Leben „weiterleben“ würde, würde der andere ein neues finden müssen. Aus dieser Notwendigkeit wiederum würde sich die Chance für jeden Sinrot ergeben, denn jeder Sinrot würde „sich selbst“ (im anderen!) beobachten können. Ohne vagen Emotionsnebel. Ohne madiges Rumoren. Gleichsam in einem experimentellen Setting. Sachlich und sezierend. Jeder der beiden würde hierbei feststellen, was ihm im Vergleich zum anderen fehle auf „seinem“ Weg, und instinktiv das einzig „wahre Gefühl“ „fühlen“, zu dem er in der Lage war: Neid. Neid, auf den Vorteil des anderen. Jeder der beiden würde also über „natürlich“ empfundenen Neid „fühlen“ können, dass es jenseits der eigenen objektivierbaren Vorteile noch anderes gebe, das zum Wohl der eigenen Person beitragen könne. Wäre ein einzelner Sinrot ohne Doppel nie in der Lage gewesen, eine alternative Erfüllung seines Lebens zu erkennen, würde dem gedoppelten sein Doppel genau die Krücke sein, ihm dieses Erkennen zu ermöglichen. Und nachdem wir nun um diese Mechanik wissen, können wir mit Sinrot dessen Büro betreten, die Szene also weiterlaufen lassen:

Sinrot sah Sinrot über einem Dokument vertieft an seinem Schreibtisch sitzen und blieb stehen. (Der Einfachheit halber sei der zuletzt in den Raum gekommene Sinrot schlicht Tornis genannt.) Wie im Reflex drehte sich Tornis nochmals zu Frau Messerschmidt um, ließ sie wissen, dass er jetzt nicht gestört werden wolle (sie hatte wieder eine diskretere Gesichtsfarbe angenommen und nickte verlegen), und warf die Tür hinter sich zu. Sinrot hatte diese schon sich öffnen hören, aufgeblickt, und erstaunt Tornis die Anweisungen in den Vorraum geben sehen. Nun schloss Sinrot seinen Mund und die beiden starrten einander an.

Das Cholesterin war doch okay gewesen. Ebenso Elektrolyte und Serumproteine. Handelte es sich hier um einen Scherz?

Sinrot erhob sich aus seinem Schreibtischsessel, kam bedachtsam hinter seinem Glasschreibtisch hervor und ging fünf Schritte auf Tornis zu. Auch dieser näherte sich seinem Gegenüber fünf Schritte an. Mit reglosen Mienen blieben sie einen Meter voneinander entfernt stehen und sahen sich in die Augen. Die seltenen Lidschläge glichen ihren Rhythmus einander an. Die feingeschnittenen Nasenflügel hoben und senkten sich sanft mit der Atmung. Die schmalen Lippen lagen still aufeinander.

„Wer sind Sie?“, fragte Sinrot plötzlich.

„Was machen Sie in meinem Büro?“, entgegnete Tornis prompt.

Sekunden verstrichen. Die beiden musterten einander. Einmal strich der Blick auf die Krawattennadel des Gegenübers – die gleiche Krawattennadel! Weißgold mit Saphir! –, einmal glitt er über dessen „Schmiss“ – und die gleiche Narbe! –, und schließlich verharrte er wieder in den winzigen Pupillen. Widerwille wich Entsetzten, Entsetzen Erstaunen. Aber Sinrot und Tornis begannen, das Wesentliche der Situation zu begreifen:

Der Kerl da, der war so echt wie er! Und jeder der beiden überlegte: Eigenartig. Obwohl er sich sicher war, sich selbst in die Augen zu sehen, verspürte er keine Sympathie für sein Gegenüber. Seltsam, denn er mochte sich, dachte er. Doch nun empfand er nichts. Gut, Reserviertheit, womöglich auch Befremden. Aber eigentlich empfand er nichts. Merkwürdig. Das musste an der besonderen Situation liegen. Man steht sich schließlich nicht jeden Tag gegenüber! Interessantes Phänomen.

„Ich schlage vor, wir lösen dieses Problem gemeinsam“, sagte Sinrot unvermittelt.

„Ich stimme mit Ihnen – ach, was sag ich denn da? – mit dir überein“, entgegnete Tornis, und schloss: „Aber setzen wir uns erst mal.“

Sinrot nickte. Ihm und Tornis war emotional, gar impulsiv zu reagieren suspekt wie dem Asketen das Fleisch. So wunderte es nicht, dass sie sich rasch von dem Schock ihres Aufeinandertreffens erholt hatten und harmonisch in ihren gewohnten „Modus operandi neutralis“ überglitten. Sinrot drehte sich um und sie steuerten gemessenen Schrittes ihren Schreibtisch an. Ohne das Momentum seiner Bewegung zu variieren, zeigte Sinrot auf einen der Gästesessel davor und schlug Tornis „neutral“ lächelnd vor:

„Hier, bitte schön!“

Tornis blieb stehen, sah Sinrot, der ihn nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, starr an, wies auf die Sitzpolster zweier Sessel, und sagte bestimmt:

„Setzen wir uns lieber hierhin.“

Sinrots Momentum gefror. Er hatte gerade an seinem Schreibtisch Platz nehmen wollen. Seine Fingerspitzen stützen sich noch auf die Tischplatte. Er zögerte, richtete sich auf und sagte:

„Gut.“

Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und die beiden nahmen, einer dem anderen gegenüber, in den Sesseln Platz. Argwöhnisch beäugten sie einander. Und ihre Gedanken kreisten um dieselben Fragen: Eindeutig sitze er sich selbst gegenüber und betrachte sich – aus der Distanz. Gleichzeitig aber befinde er sich – in sich selbst, der Person also, die er gerade denke und in diesem Sessel sitzen spüre, derweil selbst nicht betrachte. Und betrachte er sich selbst (beiden schaute jetzt auf ihre Knie), sei nichts – außer der Perspektive – anders am Eindruck seiner selbst. Genau. (Und sie sahen sich wieder in die Augen.) Beide Eindrücke schienen gleich, beide Perspektiven echt. Und in keiner fühle er sich näher oder weiter von sich selbst entfernt. Heiße dies, dass er sich selbst nah sei? Oder bedeute es Distanz? Gewöhnungsbedürftig jedenfalls, diese Situation.

Ihre Blicke verfinsterten sich, denn ein jeder vermutete, dass seinem Gegenüber die gleichen Fragen im Kopf herumspukten wie ihm selbst, was beide verunsicherte, ihnen ein Gefühl der Nacktheit gab. – Diese Situation war in der Tat gewöhnungsbedürftig! – Beiden rückten ihre Krawatte zurecht und sahen einander an.

„Wann warst du zuletzt hier?“, unterbrach Sinrot die Stille.

„Vor einer halben Stunde“, antwortete Tornis ob der Frage überrascht, denn dies habe er sich nicht gefragt! Sinrots Stirn legte sich in Falten. Sofort hatte er sich vergegenwärtigt, selbst genau so lange nicht in seinem Büro gewesen zu sein, bevor er gerade eben dorthin zurückgekehrt war. Tornis hatte das Stocken seines Gegenübers registriert und fragte gespannt: „Warst du während dieser Zeit hier?“

„Nein. Ich bin gerade erst zurückgekommen.“

Sie sahen einander scharf an.

„Und wo warst du?“, hakte Tornis ungeduldig nach.

„Bei einer Überraschungsvisite“, entgegnete Sinrot lapidar. „Kennst du ja wahrscheinlich, das Verfahren. Heute waren Mertens, Scheidt, Fräulein Bischof und Pechthold dran.“

Sinrot – und natürlich auch Tornis – pflegte zur Erhaltung eines produktiven, „friedlich–harmonischen“ Betriebsklimas Rundgänge im Haus zu tätigen, bei denen er ausgewählte Mitarbeiter ein wenig drangsalierte. Als Tornis die Liste der an diesem Tag „Erwählten“ vernommen hatte, zogen sich seine Brauen düster zusammen.

„Das war auch meine Runde“, sagte er zögerlich.

„Aha“, antwortete Sinrot, zog selbst die Brauen zusammen und sagte: „Seltsamerweise überrascht mich das nicht.“

„Mich auch nicht“, schnaufte Tornis, und überlegte, warum ihn nicht überrasche, dass diese Nummer Zwei da vor ihm dieselben Mitarbeiter ausgewählt habe! Das sei doch zum Teufel nicht zu verstehen! Frustriert ergänzte er: „Ich glaube, so kommen wir nicht weiter.“

Sinrot nickte. Und Tornis fragte sich, wie es denn weitergehen könne. Nach einem Moment spürte er ein hohles Saugen im Hals, als ziehe eine Ahnung in ihm auf, obwohl er doch von „Ahnungen“ nichts halte. Aber jetzt er habe sie, und sie sei nicht irgendeine, sondern die, dass diese bizarre Begegnung mit „sich selbst“ mit dieser Visite zu tun habe. Die Ahnung in Tornis wurde deutlich, als kläre sich ein Dunst, und er sehe nun ein Bild. Ja, das Bild dieses Lichts, das vorhin in seinen Augen gebrannt habe! Genau, das könne mit der Sache zu tun haben, sei es doch das einzig Besondere gewesen, heute, vor dieser „besonderen“ Begegnung. Klar! Besonnen fragte er Sinrot:

„Bei wem warst du zuletzt?“

„Bei Pechthold“, blickte Sinrot überrascht auf, wobei ihn nicht das Licht vor Herrn Pechtholds Tür überraschte (diese Erscheinung hatte er ja nicht gehabt!), sondern, warum sein Gegenüber dieses „unwesentliche“ Detail habe wissen wollen.

„Bei dem war ich auch, zuletzt!“, sagte Tornis, erleichtert, die eigene Ahnung bestätigt zu finden. Er dachte: Demnach könnte er richtig gelegen haben mit diesem Licht. Dies musste er jedoch erhärten. Er fragte Sinrot: „Gab’s bei dir was Außergewöhnliches?“

„Nein. Bei dir etwa?“

„Ja“, antwortete Tornis und besann sich, das Licht jetzt besser nicht zu erwähnen, sich jetzt besser auf den nachvollziehbaren, den unverdächtigen Teil des Ereignisses, die klassische Mechanik sozusagen, zu beschränken. Er fuhr also lediglich die „klassische Mechanik“ schildernd fort: „Als ich Pechtholds Zimmer verlassen habe, bin ich gestürzt.“

„Wie unangenehm!“, lachte Sinrot, neigte verständnisvoll die Stirn und ergänzte süffisant: „Kann allerdings passieren.“

Tornis Lider spannten sich an und er insistierte:

„Ist es dir passiert? Jetzt, nachdem du bei Pechthold warst.“

„Nein“, antwortete Sinrot, und fügte versunken an: „Ich sehe deinen Punkt: Wir haben hier einen Unterschied!“ Tornis nickte. Und Sinrot überlegte, versuchte, dem Sturz seines Gegenübers einen Sinn abzugewinnen. Aber ihm schien, als mache nichts einen Sinn, als fehle etwas. Und er fragte Tornis, weniger zielgerichtet, denn aus einem Instinkt: „Und wie ging’s nach deinem Sturz weiter?“

„Na ja“, antwortete Tornis fast ratlos die Hände hebend, „Ich bin in die Toiletten gegangen, um mich frischzumachen. Hatte mich merkwürdig gefühlt, irgendwie benommen.“

„Um dich ‚frischzumachen‘?“, horchte Sinrot auf.

„Ja, hab mir kaltes Wasser über die Hände laufen lassen. Dann ging’s wieder und ich bin zurück in mein Büro.“

Das passte!, stutzte Sinrot. Genau das hatte gefehlt! Nachdem er Pechtholds Büro verlassen hatte, hatte er Wasser aus den Toiletten rauschen hören! Hatte tatsächlich der da den Hahn geöffnet? Und wieder zugedreht? Dieser Typ da? Dieses komische Neben–Ich oder wie auch immer er sein ihm offenbar identisches Gegenüber bezeichnen sollte? Wieso überhaupt war es auf einmal hier, dieses Neben–Ich? Was überhaupt hatte es ...? Genau! Was hatte es überhaupt bei Pechthold zu suchen? Pechthold war schließlich sein Mitarbeiter! Sinrot pustete und fragte Tornis gereizt:

„Was hast du eigentlich bei Pechthold gemacht?“

„Das weißt du vermutlich selbst“, antwortete Tornis lauernd, „Hab den Knaben re–orientiert, er brauche sich nicht den Kopf über den Schmauch–Kredit zu zerbrechen, sondern solle unterschreiben.“

Tornis verschränkte die Arme und beäugte Sinrot misstrauisch, sich aber auch wundernd, worauf es denn hinaus wolle mit seiner Frage, sein Alter–Ego, oder wie auch immer er diesen Doppelgänger da vor sich bezeichnen solle.

Sinrot beachtete sein Gegenüber nicht, so sehr hatte ihn dessen Antwort entsetzt. – Er hatte den Kredit doch abgelehnt! – Aber schnell wich Entsetzen Verstehen. Ja, er beginne zu verstehen, wenngleich er es noch nicht greifen könne. Er sammelte sich, sah Tornis ernst an und erläuterte:

Ich hatte Pechthold gesagt, der Kredit sei abgelehnt!“

„Okay!“, entsetzte sich nun Tornis, „Wir haben hier zwei Filme!“ Er überlegte kurz – hätte er sich gleich denken können! – und schlug Sinrot vor: „Am besten gehen wir die letzte halbe Stunde Schritt für Schritt durch. Wir müssen das systematisch angehen.“

„Gute Idee“, nickte Sinrot.

Die beiden setzten sich in ihren Sesseln auf und verglichen – Punkt für Punkt, Minute für Minute – jede Station ihrer „Überraschungsvisite“. Doch bis auf die Unterschiede, die ihnen schon aufgefallen waren, stimmte alles miteinander überein. Ihre Erfahrungen divergierten lediglich ab dem Moment, in dem sie die Klinke in Herrn Pechtholds Büro heruntergedrückt hatten, um den Raum zu verlassen, aber auf einmal gezweifelt – und sich jeweils anders entschieden hatten: Der eine wie gehabt für, der andere dann doch gegen den Kreditantrag der Schmauchs. Diese Entscheidung – das müssten sie erkennen – stelle den ersten Unterschied dar, so verdrießlich dies auch sei, führe man sich die Nichtigkeit dieser Schmauchzwerge vor Augen. (Tornis und Sinrot hielten wenig von den Schmauchs; die Freundschaft zwischen diesen und dem Ehepaar Sinrot wurde, seitens der Sinrots, hauptsächlich von Frau Sinrot gepflegt.) Jedenfalls sei es nach dieser Entscheidung für jeden von ihnen – für Sinrot, und für Tornis – anders weitergegangen, seien sie „getrennte Wege“ gegangen, sozusagen. Bis sie sich getroffen hätten. Nachdem sie die Stationen ihrer Visite ein letztes Mal verglichen hatten, sanken sie in ihre Sessel zurück und sahen sich ratlos an.

„Was hat das zu bedeuten?“, resümierte Sinrot.

„Weiß nicht“, zuckte Tornis die Achseln, „Da es aber ab der Kredit–Entscheidung für jeden von uns anders weiterging, wird diese Scheiße wohl etwas mit Pechthold zu tun haben.“

„Und somit auch mit Stefan!“, seufzte Sinrot, und seine (und wie im Echo Tornis’) Oberlippe hob sich leicht, doch abgestoßen an. (Der Unmut der beiden gegenüber den Schmauchs bezog sich hauptsächlich auf Herrn Schmauch. Dieser sentimentale Trottel schaue immer wie ein Dackel drein, und er wundere sich wirklich, was denn die Damenwelt nur an derart hündisch Devotem finde.)

„Zum Kotzen!“, schloss Tornis dieses Thema ab.

Die beiden nickten und stierten vor sich hin. Und wie sie nun ihr eigentliches Problem, ihre Dopplung, überdachten, schoss ihnen – sei es durch die in Jugendtagen erzwungene „Nähe“ zur Physik, sei es ob der Erinnerung an manch jugendliche „Lektürestunde“ – die „Erleuchtung“ ins Bewusstsein, die Sinrot als erster und ganz gegen seine Art sorgenvoll formulierte:

„Weißt du, an was mich diese Situation denken lässt?“

„Nein“, entgegnete Tornis gespannt.

„An alternative Realitäten.“

„An alternative Realitäten?“, wiederholte Tornis, erstaunt, „seine“ Erleuchtung aus „anderem“ Munde vernommen zu haben.

„Ja, an alternative Realitäten“, bestätigte Sinrot.

„Verstehe“, nickte Tornis, „Du denkst an diese Variante der ‚Multiverse–Theorie‘, wonach sich die Realität bei jeder Entscheidung zwischen A und B in alternative Realitäten spaltet, und zwar in eine, in der es nach A, und eine, in der es nach B weitergeht.“

„Genau“, sagte Sinrot, „Auf diese Weise würden mit der Zeit unendlich viele Realitäten geschaffen, die alternativ, parallel also, nebeneinander existieren.“

„Diese Erklärung war unnötig!“, brummte Tornis mürrisch, und dachte: Für was für einen Idioten hält mich dieser Idiot da überhaupt?

„Ist ja gut!“, beschwichtigte Sinrot, „Jedenfalls weißt du, worauf ich hinauswill: Nach dieser Theorie wäre es möglich, dass unsere Entscheidung über den Schmauch–Kredit der Knackpunkt ist, die Entscheidung also ein Gabelungspunkt war, an dem unsere vormals einzige Realität zu zwei alternativen wurde, für jeden von uns eine.“

„Meinetwegen. Aber das erklärt einen Punkt nicht ...“

„Lass mich raten!“, unterbrach Sinrot Tornis, „Nach dieser Hypothese dürften wir uns hier gar nicht gegenübersitzen, da jeder von uns in seiner eigenen Realität weitermachen müsste, ohne vom anderen zu wissen.“

„Du triffst es!“, seufzte Tornis und ergänzte mit gerunzelter Stirn: „Also vermutest du dasselbe wie ich.“

„Ja. Dass irgendetwas an diesem Gabelungspunkt Schmauch–Kredit nicht funktioniert hat, und zwar damit, ...“

„... dass sich unsere Realitäten sauber voneinander gespalten haben, in jeweils eine für mich und eine für dich!“, vervollständigte Tornis Sinrots Satz, und gab zu bedenken: „Wobei der eigentliche Fehler bei der Spaltung unserer vormals gemeinsamen Realität kurz nach der Gabelung aufgetreten sein muss, denn ...“

„... sonst wären wir uns schon an Pechtholds Tür begegnet!“, vervollständigte nun Sinrot Tornis’ Satz. Sinrot kniff die Augen zusammen und schloss: „Unsere Realitäten müssen folglich einige Sekunden nebeneinander existiert haben, bevor das Malheur passierte!“

„Sehe ich genauso“, nickte Tornis.

Wie ausgewrungen hingen sie in ihren Sesseln und wussten nicht, was es momentan noch zu besprechen gäbe. Plötzlich beugte sich Sinrot vor und tippte Tornis an die Schulter.

„Lass das!“, fauchte ihn Tornis, in seinem Sessel hoch fahrend, an, „Ich hasse betatschen. Das müsstest du doch wissen!“

„Ich weiß es!“, beruhigte ihn Sinrot lächelnd, „Wollte nur sehen, ob du wirklich der bist, der du zu sein scheinst, und nicht bloß eine Art Fata Morgana.“

„Witzbold. Ich bin so wenig Fata Morgana wie du. Wir sind echt, verdammt! Und beide hier! In ein und derselben Realität!“

Sinrot nickte und die zwei sanken in ihre Sessel zurück. Ihre Blicke divergierten.

Sinrot starrte durch die Fensterwand nach draußen. Von hier oben hatte man eine Aussicht auf die Frankfurter Skyline bis hin auf die Höhen des Taunus. Herrlich!, dache er. Vielleicht sollte er doch noch mal wandern gehen. In letzter Zeit war er arg zugeschüttet gewesen mit Arbeit, hatte sich mit nichts anderem beschäftigt als mit der Bank. Bank, Bank, Bank!

Tornis beachtete ihn nicht, sondern stierte gedankenverloren auf eine weißblütige Gladiole, die in einer pyramidenförmigen Edelstahlvase auf einer Glasvitrine gegenüber der Fensterwand stand. Seine Frau hatte ihm die Blume (sie stammte aus ihrem Garten) ins Büro geschickt. Tornis fixierte eine der Blüten. So strahlt wahre Schönheit!, dachte er. Sein Blick glitt auf ein Bild, das neben der Blume hing, ein Replikat des Otto Dix Gemäldes „Die sieben Todsünden“. Tornis fokussierte die Nase des Geizes, die Augen des Neids, die Hörner des Zorns, den Mund des Hochmuts, die Sichel der Trägheit, den Schlund der Völlerei, und die Zitze der Wollust. Er lächelte. Im wahren Kunstwerk strahlte auch das Hässliche schön! Schade, dass er nicht mehr selbst malte. Was alles könnte er erstrahlen lassen! Ach „erstrahlen lassen“! Erstehen lassen könnte er ...

„Wie hat Frau Messerschmidt reagiert, als sie dich gesehen hat?“, unterbrach Sinrot Tornis’ „kreative Einkehr“.

Tornis schaute überrascht zu ihm hinüber und sagte:

„Sie dachte, ich sei schon in meinem Büro. Hab ihr einfach noch ein bisschen Urlaub empfohlen und darauf bestanden, dass sie sich einen Termin bei Teufel nimmt. Der solle sich mal um ihre verzerrte Wahrnehmung kümmern.“ Sinrot schien nicht überzeugt, was Tornis auffiel: „Um diese Dame brauchst du dir den Kopf nicht zerbrechen. Die haben wir doch im Griff!“

„Hast wahrscheinlich recht“, nickte Sinrot.

Tornis Blick hing wieder an dem Bild. Sinrot wirkte nachdenklich. Nach einigen Sekunden runzelte er die Stirn, richtete sich in seinem Sessel auf und sagte:

„Unsere Rekonstruktion der Ereignisse legt nahe, dass wir uns in meiner Realität befinden. Aber eben diese Ereignisse lassen mich gegenwärtig an jeder Rekonstruktion sowie an darauf beruhenden Schlüssen zweifeln. Wir sollten also klären, in welcher Realität wir uns befinden, tatsächlich.“

Tornis nickte. Sinrot stand auf, stellte sich an den Schreibtisch, griff den Telefonhörer und tippte eine Nummer ein. Er wartete mit ausdrucksloser Miene. Am anderen Ende der Leitung meldete sich jemand. Sinrot antwortete mit ebener Stimme:

„Schön, dass ich Sie gleich an der Strippe habe, Herr Pechthold. Könnten Sie mir bitte diese Schmauch–Sache noch mal vorbeibringen?“ Er horchte. Nach einem Moment sagte er missmutig: „Klar. Ich wollte trotzdem ein Detail nachsehen.“ Er horchte. Auf einmal sagte er: „Gut. Bis gleich.“ Lautlos legte er den Telefonhörer auf die Gabel, setzte sich und eröffnete Tornis ernst: „Tatsächlich in meiner: Der Kredit ist abgelehnt.“ Tornis pustete gereizt. Sinrot empfahl: „Am besten wartest du im Boudoir, bis Pechthold weg ist.“ (Mit „Boudoir“ hatte er ein Ruhezimmer gemeint, das neben seinem Büro lag. Gelegentlich zog er sich dorthin zurück, wenn er einen „Tapetenwechsel“ benötigte oder bei Musik und Cognac entspannen wollte.)

Tornis nickte, erhob sich, und schritt gemessen der Tür zum Boudoir entgegen. Als er die Gladiole passierte, zuckte sein rechtes Unterlid und unvermittelt – wie ein Krokodil aus Starre auf sein Opfer schießt – schlug er mit dem linken Handrücken kurz und scharf – und knapp über den Vasenhals zielend – auf den Stiel der Blume, sodass dieser sauber wie von einem Skalpell durchtrennt am Rand der Vase abschor und der einen Meter lange Blütenstand zu Boden fiel. Zwei Blüten waren – matt zur Seite gleitenden Ärmchen gleich – von dem auffedernden Blütenstand abgetropft. Tornis verschwand im Boudoir. Das Türschloss klackte.

Sinrot schüttelte den Kopf. Er stand auf, hob die Blüten und den Blütenstand auf, klemmte ihn in den Vasenhals neben den abgesunkenen Stiel und steckte sie in die Außentasche seines Sakkos. Sich sammelnd rückte er seine Krawatte zurecht und nahm an seinem Schreibtisch Platz. Seine Lider erschlafften.

tornissinrot

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