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Kapitel 7

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„Es hat geklappt!“, sagte Frau von Riefenstein und lächelte immer noch glücklich. „Annabelle war nun mal eine großartige Lehrerin. Alles war so verlaufen, wie sie es vorhergesagt hatte. Oder sind Männer so leicht zu lenken?

Wissen Sie, junger Mann, ich habe nicht viel Erfahrung mit Männern. Ich habe nur meine Erfahrung mit Jacob, meinem Leutnant.

Können Sie sich vorstellen, dass ich selbst heute nicht weiß, ob ich ihn meinen Leutnant oder Jacob nennen soll, wenn ich an ihn denke?

Er war genauso schön als Jacob wie als Leutnant."

Sie sah einen Augenblick versonnen auf eine Aufnahme, die sie wie zufällig aus dem Karton gefischt und vor sich auf den Tisch gelegt hatte.

„Und er hat nie so zackig gesprochen, so als hätte man ihm die Nase mit Wachs verkleistert, wissen Sie, so genäselt, wie man das aus alten Filmen kennt. Nein, das hat mein Jacob nie getan.

Und streiten konnte man mit ihm!

Natürlich wusste er alles besser, ich war ja noch sehr jung und ungebildet. Ein bisschen Französisch, ein klein wenig Geschichte, vor allem über das ehemalige Königreich Hannover, etwas Klavier. Das war aber schon alles.

Trotzdem nahm er mich ganz ernst, ließ sich auf ein langes Streitgespräch mit mir ein. Nur wenn er irgendwann ein wenig lächelte, so auf eine ganz bestimmte Art, die ich nicht beschreiben kann, nicht etwa hochmütig, eher nachsichtig, ja, nachsichtig, das ist das richtige Wort, dann wusste ich, er nahm mich nicht mehr ernst. Aber er verzieh mir mein dummes Geplapper.“

„Was ich noch wissen möchte“, nutzte ich die erste Pause, „wie ist der Nachmittag verlaufen?“

Frau von Riefenstein sah mich aus hellwachen Augen an.

„Er setzte sich zu mir, nicht ohne mich ganz artig gefragt zu haben.

Stellen Sie sich vor, ein Mann wie Jacob, schön und elegant, mit Erfahrung, so sagt man wohl, fragt so ein junges Ding wie mich, ob er sich neben mich setzen darf! Ich wäre fast geplatzt vor Stolz und Seligkeit.

Natürlich durfte er.

Er war ungeheuer amüsant. Er erzählte von Frau von Traunstein, die in jedem Jahr nach Bad Rehburg kam und sich erfolglos um Aufnahme in die besseren Kreise bemühte, und von dem alten Rittmeister, der sich vergeblich um all die reichen und adligen Witwen bemühte, nahm meine Hand und ahmte den Rittmeister nach, küsste den Handrücken, drehte die Hand um und hielt sie an seine Wange.

Da wurde er auf einmal ganz still, und – verzeihen Sie diese Übertreibung – ich hatte den Eindruck, sein Herz wäre stehen geblieben.

Und meins dazu.

Ich weiß nicht, was man heute empfindet, wenn man sich das erste Mal verliebt. Hätte es einen Ort gegeben, wohin ich mit diesem Mann hätte fliehen können, ich hätte es auf der Stelle getan.“

Wieder sah sie ganz weit in die Ferne. Ich hätte ihrem Blick folgen mögen, aber ich hätte nichts entdeckt, jedenfalls nichts, das für mich sichtbar gewesen wäre.

„Wollen Sie Schluss machen?“, fragte ich vorsichtig.

Sie schüttelte den Kopf.

„Ein wenig später, wir saßen immer noch nebeneinander auf der Bank, ach was, ein halber Meter war zwischen uns, da legte ich meine linke Hand auf die Bank. Und plötzlich spürte ich eine zarte Berührung und zog sie weg. Als ich sie wieder auf die Bank legte, spürte ich wieder diese Berührung. Und ich zog die Hand nicht mehr zurück. Ich ließ es zu, dass sie von seiner bedeckt wurde.

Junger Mann, glauben Sie mir, ich war noch nie in meinem Leben so glücklich.“

„Und Ihre Eltern haben nichts gemerkt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wie denn?

Mein Vater etwa? Dem reichte, wenn wir pünktlich beim Essen waren und keine Widerworte fanden.

Und meine Mutter? Die war zufrieden, wenn wir Kinder sie nicht störten. Warum sie überhaupt Kinder hatten, meine Eltern, das möchte ich heute noch gerne wissen. Ich denke, sie haben sie nur für den Kaiser bekommen.“

Ich wusste, es war indiskret, danach zu fragen, aber ich musste wissen, wie die Geschichte weiter ging.

„Sie wollen wissen, wann wir uns heimlich verlobt haben?“

Ich nickte.

„Ich glaube, nach fünf Wochen, kurz bevor ich nach Göttingen musste. Und Jacob hatte ja sein Herbstmanöver. Da war sowieso nichts mehr zu machen.

Wissen Sie, wie das ist, wenn man sich von dem Liebsten, was man hat und sich überhaupt vorstellen kann, trennen muss?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ganz sicher nicht. Das kann keiner nachvollziehen, der es nicht erlebt hat. Es ist, als ob es einen innerlich zerreißt.“

Sie machte eine Pause und betrachtete lange ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten.

„Jetzt erzähle ich Ihnen, was ich noch niemandem zuvor erzählt habe.

Wir waren wieder im Kurgarten, hatte die abgelegensten Orte aufgesucht, die wir in den Tagen und Wochen zuvor gefunden hatten, den Ententeich ganz hinten am Ende des Parks, doch der war uns noch nicht geheim genug. Also gingen wir weiter, nicht etwa panisch, eher in der Gewissheit, dass der Platz, den wir suchten, ganz sicher existieren würde.

Und dann standen wir vor ihm, einem Teich mit fast schwarzem Wasser, voller Seerosen. Noch nie schien jemand diesen Platz gefunden zu haben. Alles wirkte so unberührt, der schmale Saum aus fast weißem Sand, die tief herabhängende Äste und Zweige der Bäume.

Wir standen da, Hand in Hand, und sahen dieses Bild. Es war so überwältigend, dass wir kein Wort zu sprechen wagten. Libellen so schön, wie ich sie noch nie gesehen hatte, standen über dem Wasser, schossen plötzlich vorwärts oder zur Seite, schraubten sich in die Höhe, um gleich wieder eine andere Richtung einzuschlagen.

Jacob entledigte sich seines Jacketts, warf es auf den Boden, knöpfte noch während ich den Hut abnahm, meine Bluse auf, befreite mich von den unzähligen Stoffen, die meinen Körper gefangen hielten, und ich tat es ihm gleich, öffnete sein Hemd, sah zum ersten Mal seine männliche Brust, wollte sie küssen, doch es drängte mich vorwärts, seine Hose zu öffnen und abzustreifen.

Und plötzlich standen wir einander gegenüber, vollkommen nackt.

Und ich schämte mich nicht einmal!

Können Sie dich das vorstellen?

Ich habe ihn angesehen, diesen wundervollen Mann, habe ihn verschlungen, und ihm ging es wohl ähnlich. Er betrachtete mich, seine Hände glitten über meinen Körper, fanden die Stellen, die mir besondere Lust bereiteten.

Und ich fand nichts dabei!

Im Gegenteil, ich genoss seine Liebkosungen. Auf einmal wusste ich, ich hatte nur für diesen Augenblick gelebt.

Er fasste mich bei der Hand, zog mich in das fast schwarze Wasser, blieb stehen, als es uns bis zur Hüfte reichte, umarmte mich, und gemeinsam, Arm in Arm tauchten wir ein in das kühle Wasser.

Dann ließ er mich los, schwamm auf dem Rücken ein paar Züge weiter in die Mitte des Teiches, lockte mich, und als ich ihm folgte, umarmte er mich, und ich umschlang ihn, glitt um seinen Körper, war beseelt von seiner Berührung.

Nicht einen Augenblick dachte ich daran, dass ich nicht schwimmen konnte.

Er hielt mich. Das reichte aus, um mir Sicherheit zu geben.

Er zog mich ans Ufer, diesen schmalen Streifen feinen Sandes, legte sich neben mich und sah mich an.

Es war ein Einverständnis zwischen uns, obgleich keiner ein Wort sprach. Ich lag da, bereit für ihn, erwartete ihn. Und als er in mich eindrang, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, zerschmolz alles in mir.“

Gerne hätte ich sie gefragt, was sie damit gemeint hätte, aber ich hütete mich davor, ich hätte sie aus ihren Erinnerungen gerissen, und das wäre unverzeihlich gewesen.


„Natürlich blieb das Annabelle nicht verborgen. Ein diskreter Blick von der Seite reichte, und sie wusste, was geschehen war.

‚Wann hattest du deine letzte Mensis?’, fragte sie, und als meine Antwort sie wohl zufrieden gestimmt hatte, nahm sie mich in den Arm, und gemeinsam weinten wir vor Glück.

Ich hatte immer nur geglaubt, man weint, wenn man traurig ist, wenn man Schmerzen empfindet. Aber man kann auch vor Glück weinen.

Annabelle hat es mir mal erklärt: Wenn Glück so groß ist, dass man es nicht mehr aushalten kann, dann weinen wir.“

Sie hielt inne.

„Ist es nicht wunderbar, dass es so viel Glück gibt?“

Ich nahm das Bild in die Hand, das sie fast liebevoll, als wäre es eine unschätzbare Kostbarkeit, zur Seite gelegt hatte.

Es zeigte einen Mann von Ende zwanzig, sehr gut aussehend, hinter einem hochlehnigen Gartensessel stehend, auf dem eine bildschöne junge Frau saß.

Viktoria und ihr Leutnant.


Die Aufnahme war in einem Photostudio entstanden, der Stempel des Photographen war verblichen und nur noch schwach erkennbar.

„Eduard Bader, Bad Rehburg“ stand da und das Datum: „12. Juli 1914“.

„Waren wir nicht ein schönes Paar, der Jacob und ich?“ Frau von Riefensteins Stimme klang immer noch verliebt. Sie hatte ja Recht, es war ein schönes Paar.

Nur irgendetwas stimmte nicht. Ich griff noch einmal nach dem Bild, betrachtete es lange, drehte es wieder um, betrachtete den Stempel, vor allem das Datum.

Wenn ich richtig rechnete, dann müsste Frau von Riefenstein heute hundert und fünfzehn Jahre alt sein.

Das geborgte Leben der Viktoria von R.

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