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Kapitel 4

Frau von Riefenstein machte bei meinem zweiten Besuch einen sehr viel agileren Eindruck als gestern.

Sie empfing mich voller Erwartung, und ihre Augen leuchteten, als ich die ersten Seiten hervorholte, die ich noch in der Nacht geschrieben hatte.

„Wie gut, dass ich schon alles vorbereitet habe, da können wir gleich beginnen“, sagte sie vergnügt und schenkte den Tee ein.

„Bitte lesen Sie es mir vor, meine Augen mögen heute nicht so recht. – Ich gebe Ihnen dann auch genügend neues Futter.“

Sie zeigte auf einen kleinen Stapel Bilder, der mit einem violetten Schleifenband zusammengehalten wurde.

Frau von Riefenstein schien einen ungeheuren Vorrat an Schleifenbändern und bunten Kordeln zu haben. Alles, was nur möglich war, wurde zusammengebunden. Briefumschläge schien sie zu verabscheuen.


„Violett“, erklärte sie, als sie meinen erstaunten Blick bemerkte, „violett ist die Farbe für Montag. Morgen werde ich gelb wählen.

Aber nun beginnen Sie endlich, junger Mann. Ich bin schon ganz neugierig.“


Sie war eine aufmerksame Zuhörerin.

Nicht einmal unterbrach sie mich, rieb sich ab und zu die Stirn, als wollte sie ihre Erinnerung heraufbeschwören, um sie mit meiner erfundenen zu vergleichen. Dann machte ich eine kleine Pause, um ihr Zeit zu geben. Wenn sie die Hand senkte und zu der anderen auf den Tisch legte, wusste ich, ich konnte fortfahren.

Manchmal schloss sie die Augen, lächelte ein wenig wie verklärt.

Ich war mir zwar nicht im Klaren darüber, was dieses Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert hatte, aber ich würde es irgendwann erfahren.

Als ich fertig war, legte sie ihre rechte Hand auf meine linke, die auf den wenigen Blättern ruhte.

Es war eigenartig, diese alten, schrumpeligen Hände, die übersät waren mit braunen Altersflecken, auf meinen zu spüren, und ich fragte mich, was diese Geste wohl zu bedeuten hatte.

Ich hatte keine Großmutter mehr, die eine war schon vor meiner Geburt gestorben, und die andere als ich gerade erst acht Jahre alt war. Sie war vor ihrem Tode lange krank gewesen, und ich habe sie nur sehr selten gesehen. Aber jedes Mal hat sie meine Hand in ihre kalten Hände genommen, und jedes Mal hat es mich vor Kälte erstarren lassen. Meine Eltern mussten mich am Ende zwingen, dieses Gefängnis zu ertragen.

Als meine Großmutter gestorben war, tat es mir leid, dass ich so hart zu ihren Händen gewesen war, doch trotzdem fror ich allein bei dem Gedanken daran.


Frau von Riefensteins Hände waren noch älter, noch schrumpeliger, die Handrücken waren von dunkelbraunen Altersflecken noch dichter überzogen, und mich drängte alles, meine Hände in Sicherheit zu bringen. Aber ich traute mich nicht, ertrug die Umklammerung.

Ich war ja nicht mehr acht.

„Danke“, sagte sie leise und noch einmal: „Danke.“

Sie zog ihre Hände fort, griff nach der Gebäckschale und reichte sie mir, dann zog sie die Schleife von dem kleinen Bündel Briefe auf, breitete das Band auf dem Tisch aus und fuhr zweimal mit der Handkante darüber, um es zu glätten.

Zufrieden mit ihrem Erfolg, legte sie das Band zusammen und deponierte es etwas weiter hinten auf dem Tisch.

„Sehen Sie, das war unser Haus in Bad Rehburg.“

Versonnen sah sie die alte Fotografie an, strich mit der Hand liebevoll darüber, nahm sie hoch und hielt sie vor die etwas kurzsichtigen Augen und gab sie mir.

„Hier habe ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht. Aber auch die schrecklichste.“

Sie kramte wieder in dem Rest ihrer Erinnerungen.

Ich traute mich nicht, sie zu unterbrechen, wartete, wenn auch ungeduldig, dass sie zu reden anfing.

Das nächste Bild zeigte einen kleinen Jungen im Matrosenanzug vor einem riesigen Weihnachtsbaum. Unter dem Baum lagen Geschenke, offensichtlich für den Jungen, ein Steckenpferd, eine kleine Trompete, eine Trommel und einige in buntes Papier gewickelte Pakete.

„Das war Georg“, sagte Frau von Riefenstein, und ihre Stimme klang auf einmal sehr traurig.

„Georg war unser Bruder“, fügte sie hinzu, als sie merkte, dass sie wohl noch nicht von ihm gesprochen hatte. „Er ist schon lange tot.“

Sie legte das Bild zu dem ersten Foto und griff das nächste: Drei Kinder waren der Größe nach aufgereiht vor einem riesigen Rhododendron und sahen ernst in die Kamera.

Links die Größte, Viktoria, in der Mitte Friederike und schließlich rechts Georg.

Die Kinder waren herausgeputzt, von der Haarschleife bis zu den weißen Schuhchen bei den Mädchen und dem Matrosenanzug bei Georg stimmte alles. Sicher steckten sie noch keine zehn Minuten in ihren Kleidern, alles wirkte, als hätte man Schaufensterpuppen gerade ausstaffiert.

„Georgs fünfter Geburtstag“, erklärte Frau von Riefenstein und legte die Aufnahme zu den anderen vor mir.

„Sind das Ihre Eltern?“ fragte ich, als Frau von Riefenstein das nächste Bild aufnahm. Es zeigte ein Ehepaar, beide ernst aussehend, beide in kerzengerader Haltung.

Die sehr hübsche Frau war schlank, war bekleidet mit einem dunklen Rock und einer weiße Bluse mit gesticktem Stehbündchen. Die Hände steckten in weißen Handschuhen aus Klöppelspitze. Auf dem Kopf trug sie einen weit ausladenden weißen Sommerhut.

Der Mann war bekleidet mit einem eleganten Anzug, wie man ihn in höheren Kreisen in der Freizeit, etwa zum Flanieren auf einer Promenade, trug. In der linken Hand hielt er einen Spazierstock.

„Mögen Sie noch?“

„Natürlich“, beeilte ich mich zu erwidern, und das nicht nur, um der alten Dame eine Freude zu machen, sondern weil diese Familie mich wirklich zu interessieren begann.

„Haben Sie auch ein Bild von Ihrer Gouvernante?“

Sie kramte in ihrem Bilderkarton und wurde fündig.

„Aber bitte bedienen Sie sich doch noch!“, entsann sich Frau von Riefenstein auf ihre Rolle als Gastgeberin und reichte mir die Keksschale.

„Nehmen Sie doch gleich zwei oder drei. Oder schmecken sie Ihnen nicht?“

Natürlich schmeckten sie mir. Sie waren ausgezeichnet, ich hatte – ohne Übertreibung – noch keine gegessen, die auch nur annähernd so delikat waren wie diese.


Ich glaubte nicht, dass es diesem Kompliment zu verdanken war, aber ohne jeden Übergang eröffnete sie mir, ich könnte, natürlich nur wenn ich wollte, ihren alten VW Käfer benutzen.

„Ich fahre schon lange nicht mehr, und der Wagen verstaubt in der Garage. Warum wollen Sie ihn nicht nehmen. Sie würden viel Zeit sparen, wenn Sie mich besuchen.“

Erwartungsvoll sah sie mich an.

Ich muss gestehen, ich war überrascht.

Zwar war ich aus Überzeugung autolos, aber schon gestern war die ins Wanken geraten.


Plötzlich hatte Frau von Riefenstein es sehr eilig. Sie entnahm ihrer Kommode einen dicken Briefumschlag, hielt ihn wie eine Trophäe hoch und forderte mich auf, ihr zu folgen.

Mit dem Aufzug fuhren wir in die Garage im Kellergeschoss.

Sie steuerte einen dunkelblauen Käfer an, der abseits in einer hinteren Ecke abgestellt war, riss den Umschlag auf und entnahm ihm die Fahrzeugpapiere und den Schlüssel. Beides überreichte sie mir fast feierlich.

„Probieren Sie, ob er fährt!“

Der Wagen hatte jahrelang gestanden, und so weigerte sich der Motor beharrlich, anzuspringen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Batterie erschöpft sein würde, erwachte er, stotternd zwar, eine stinkende rußige Wolke ausstoßend, doch es gelang mir, ihn zu zähmen.

Frau von Riefenstein lächelte zufrieden.

Das geborgte Leben der Viktoria von R.

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