Читать книгу Das geborgte Leben der Viktoria von R. - Klaus Melcher - Страница 8

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Kapitel 5

„Viki! Viki!“

Annabelle stand auf der obersten Stufe, die hinab zur Terrasse führte und spähte in den Garten. Irgendwo musste Viktoria doch stecken.

Es war noch nicht lange her, da brauchte sie nur einmal zu rufen, und Viktoria tauchte aus irgendeinem Versteck auf, einer kleinen Höhle, die sie und ihre Geschwister sich in den Büschen gebaut hatten, unter einem der vielen Rhododendren oder aus dem benachbarten Kurpark, den man durch eine fast verborgene Pforte erreichen konnte.

Jetzt war ihr liebster Platz unter den tief herabhängenden Ästen und Zweigen der Trauerweide. Hier hatte der Gärtner ihr eine einfache Bank zusammengezimmert, auf der sie ungestört ihren Träumen nachhängen konnte.

Früher hatte sie sich lustig gemacht über die jungen Mädchen oder Fräulein, wie sie plötzlich genannt wurden, die mit blasiertem Gesicht über die Kurpromenade stolzierten, den winzigen Sonnenschirm in der Hand, oder die sich auf eine Parkbank setzten, sehr sittsam schienen und unnahbar und doch nur darauf warteten, dass sie von irgendeinem Kavalier angesprochen wurden, der sie bat, sich auf das andere Ende der Bank setzen zu dürfen.

Noch im vorigen Jahr hatte sie alle drei Bände von „Frieselinchens Lebenslauf“ verschlungen und Annabelle zugehört, wenn sie den jüngeren Geschwistern aus dem „Buch für Mädchen“ oder dem „Neuen deutschen Jugendfreund“ vorlas.

Jetzt bevorzugte sie die „Illustrierte Sonntags-Zeitung für unsere Frauen“, Ratgeber für die Erhaltung der schlanken Figur oder „Die Gartenlaube“, die im Salon lagen.

Heimlich nahm sie sie mit, immer nur eine Ausgabe, damit man es nicht bemerkte, denn sie fühlte sich fast schuldig.

Auch heimlich legte sie sie an ihren Platz zurück, wenn sie aus ihrem Versteck hervorgekommen war, damit es ja niemand bemerkte.

Natürlich wusste jeder im Haus um die Änderung ihres Geschmacks, doch es gab niemanden, der sie darauf ansprach. Der Vater nicht, denn es interessierte ihn wenig, was seine Töchter trieben. Die Mutter nicht, weil sie es begrüßte, dass ihre Tochter langsam mit dem Erwachsenenleben vertraut gemacht wurde, die Geschwister fanden es blöd, aber für sie änderte sich ja nichts. Und das Personal schmunzelte nur und sprach von ihr nur als unserem Fräulein oder Freifräulein.

Allein Annabelle machte sich Sorgen, doch auch sie vermied jedes Wort, jedenfalls zunächst.


Wenn Viktoria aus dem Salon kam, mit hochrotem Kopf, als wäre sie das ganze Stück von der Trauerweide bis hierher gelaufen, dann sagte sie nicht: „Du brauchst doch nicht zu erröten, wenn du das Heft wieder an seinen alten Platz legst.“

Sie schwieg und dachte nur darüber nach, wann wohl der rechte Augenblick wäre, mit Viktoria ein erstes Gespräch von Frau zu Frau zu führen.

Es würde ihr nicht leicht fallen, und so schob sie es immer wieder hinaus. Mal war Viktoria zu erschöpft, mal zu erregt, mal war das Wetter zu schön und man flanierte im Kurpark oder saß mit der ganzen Familie auf der Terrasse oder machte mit dem Landauer einen Ausflug zum Steinhuder Meer oder in den Deister.

Dieses Thema verlangte Vertraulichkeit.


„Du sollst zu deinem Vater kommen“, sagte Annabelle, als Viktoria wieder einmal atemlos vor ihr stand.

„Aber bring erst deine Haare in Ordnung!“

Und damit es schneller ging, half sie, ordnete die Locken, entfernte das lanzettförmige Blatt der Trauerweide, das sich in ihrem Haar verfangen hatte und das ihr Vater missbilligt hätte.

„Was ist?“, fragte Viktoria aufgeregt.

Sie würde ihren Vater in einer Stunde sowieso beim Essen sehen. Warum diese Eile? Obgleich sie sich keiner Schuld bewusst war, war ihr nicht behaglich. Ein Einzelgespräch mit ihrem Vater bedeutete ein Verhör, fast eine hochnotpeinliche Befragung, mindestens eine Zurechtweisung oder gar eine Strafe.

Aber wofür?

Sie rekapitulierte alles, was sie heute getan hatte, und fand nichts. Auch gestern hatte sie sich nicht ungebührlich verhalten, da war sie sicher.

Nur die schwere Holztür zum Herrenzimmer trennte sie noch von dem Strafgericht.

Einen letzten Augenblick zögerte sie, dann klopfte sie.

„Herein!“

Langsam öffnete sie die Tür. Ihr Vater stand am Fenster und sah in den Garten, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Die Atmosphäre in dem Zimmer war so düster wie das ganze Zimmer. Im Gegensatz zu dem Salon und Speisezimmer waren die Möbel hier dunkel und schwer. Gewaltige Bücherschränke, alle mit Glastüren versehen, standen an den Wänden, ein riesiger Schreibtisch ragte in den Raum, in dem sich nur noch eine lederne Sitzgruppe, vier kaum zu bewegende Sessel und ein Rauchtisch, befanden.

Es war das einzige Zimmer, das dem Geschmack des Hausherren entsprach, wuchtig und deutsch. Den Jugendstil, der die anderen Räume beherrschte, verachtete er als dekadent, weibisch, undeutsch.

Viktoria wusste, sie hatte ihren Vater nicht anzusprechen, musste warten, bis er sich umdrehte und das Wort an sie richtete, und heute schien er viel Zeit zu brauchen. Schier endlos dauerte es, dann drehte er sich ganz langsam zu ihr um.

Sie machte den obligatorischen Knicks.

„Sie haben nach mir verlangt, Vater.“

Ein flüchtiges mildes Lächeln überflog sein Gesicht, dann wurde es wieder ernst und unnahbar.

Er ging auf seinen Schreibtisch zu und zog sich den riesigen Schreibtischstuhl zu. Richtig klein war er in diesem Stuhl, doch auf Viktoria wirkte er wie ein bedrohlicher Vogel, der auf Beute wartete.

Sie stand vor dem Schreibtisch, verängstigt, wagte sich nicht zu rühren.

Wieder rasten ihr tausend Gedanken durch den Kopf. Immer hatte es eine Strafe gegeben, wenn sie so vor dem Schreibtisch stand, den Blick nach unten gerichtet, jede Maus beneidend, die irgendwo ein Loch oder wenigstens ein vorübergehendes Versteck fand.

Gustav Otto Freiherr von Riefenstein nahm einen Brief und die zeitungsähnlichen bedruckten Blätter auf, die bei Viktorias Eintreten in der Mitte der Schreibtischplatte gelegen hatten.

„Du weißt, es wird Zeit, dass du eine besondere Erziehung erfährst, in der du auf deine spätere Position in der Gesellschaft vorbereitet wirst. Deine Mutter und ich haben deshalb beschlossen, dich auf ein Höheres Töchterheim zu schicken. Wir haben Auskünfte eingezogen und haben dich im ‚Luisenhaus’ in Göttingen angemeldet. Das macht uns den besten Eindruck. Lies dir das hier durch. Dann kannst du dich schon darauf einstellen.“

Er reichte seiner Tochter eine dünne Broschüre und machte eine flüchtige Handbewegung.

Sie war entlassen.

„Und wann?“, flüsterte sie.

„In zwei Monaten“, antwortete von Riefenstein ungeduldig. Er hatte jetzt wirklich keine Lust, sich mit seiner Tochter zu unterhalten. Luise und vor allem Annabelle würden Viktoria schon vorbereiten.

Zwei Monate hatte sie also noch!

Sie hatte es immer gewusst, spätestens seit sie zehn Jahre alt war. Da wurde öfter darüber gesprochen, dass sie später in einem Töchterheim leben und unterrichtet werden würde, doch das schien damals unendlich weit weg.

Auch als ihre Mutter bei ihrer Ankunft in Bad Rehburg gesagt hatte, sie sollte die Zeit hier ganz besonders genießen, schien die Gefahr noch in weiter Ferne.

Jetzt war sie da! Sie war nicht mehr zu übersehen.

Annabelle sah Viktorias Verstörtheit, wollte sie in die Arme nehmen, doch die riss sich los, lief durch den Salon, hinab in den Garten, zurück unter ihre Trauerweide.

Zum ersten Mal trug dieser Baum seinen Namen zu Recht.


Sie betrachtete das Deckblatt des Prospektes. Ein protziger Bau mit Zwiebeltürmen an den Ecken stand an einer breiten, von Bäumen gesäumten Straße. Das Gebäude mochte etwa in der gleichen Zeit wie ihre Villa in Bad Rehburg entstanden sein, war nur unendlich viel größer, vornehmer. Es sah eher aus wie ein Luxushotel als ein Pensionat für Höhere Töchter.

Sie blätterte den Prospekt auf.

In unserem Töchterheim finden junge Mädchen aus guter Familie liebevolle Aufnahme. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Geistes- und Herzensbildung der uns anvertrauten Töchter zu fördern und ihnen die für ihr Alter notwendige Selbständigkeit in Familie, Gesellschaft und praktischem Leben zu geben.

Die jungen Mädchen erhalten unter persönlicher Leitung der Hausfrau eine gründliche Ausbildung in allen Zweigen des Haushalts, besonders in der feinen Küche, im Backen, Einmachen und Garnieren.

Durch Lehrkräfte, die unserem Hause schon über Jahre verbunden sind, erhalten sie Unterricht in kunstgewerblichen Handarbeiten, Schneidern, Musik und Rhythmik.

Am wissenschaftlichen Unterricht können sich die Töchter nach Wunsch beteiligen: es werden Literatur, Kunstgeschichte, Geschichte und Bürgerkunde, sowie Anstandslehre unterrichtet. Vor allem auf Aneignung guter Umgangsformen wird geachtet.

Die jungen Mädchen werden an treue Erfüllung häuslicher Pflichten, sowie an Sparsamkeit und Ordnung gewöhnt. Mit mütterlicher Sorgfalt wird ihre Gesundheit überwacht. Das Familienleben ist herzlich und heiter und verbindet uns eng mit den uns anvertrauten Töchtern.

Die Verpflegung ist sehr gut und reichlich.

Neben der ernsten Arbeit sollen Heiterkeit und Frohsinn nicht fehlen. Durch den Besuch von Theater, Konzerten und Museen wird ihnen viel Abwechslung geboten. Auf den kleinen Hausbällen, die wir zweimal im Jahr veranstalten und zu denen wir die Besten der studentischen Verbindungen regelmäßig einladen, geben wir den Töchtern Gelegenheit, sich ein sicheres und gewandtes Auftreten in der Gesellschaft anzueignen. Besonderer Höhepunkt eines jeden Jahres ist unser Adventstanztee, auf dem so mancher Bund fürs Leben geschlossen worden ist.


Göttingen ist eine der renommiertesten Universitätsstädte Deutschlands.

Unser Haus ist mit der Universität und den verschiedenen studentischen Verbindungen freundschaftlich verbunden. Ihre uns anvertrauten Töchter werden gerne zu deren Feiern eingeladen und werden von erfahrenen Erzieherinnen dorthin begleitet.


Unser Haus liegt im Nikolausberger Weg, unterhalb des Nikolausberges.

Das Deutsche Theater, die Johanniskirche und Jacobikirche sowie das Stadtzentrum sind in etwa zwanzig Minuten erreichbar. Zu besonderen Anlässen und vor allem in der kalten Jahreszeit werden unsere Schützlinge mit dem Automobil befördert.“


Es folgten einige ‚Bedingungen’, der Pensionspreis von monatlich 90,- Reichsmark, die Preise für Klavierbenutzung und Bedienung und der Zuschlag für Beleuchtung und Heizung im Winter.

Und abschließend hieß es:Mitzubringen haben die jungen Mädchen Federbetten mit zweimal Bettwäsche, 8 Handtücher, 8 Servietten mit Ring und Tischsilber. Außerdem polizeiliche Abmeldung. Ferien finden nur im Sommer statt. Kurzurlaub wird zu Weihnachten und Ostern gewährt.“


Dass Viktoria entsetzt gewesen wäre, wäre gelogen gewesen. Sie hätte es schlechter treffen können. Auch dass sie von Zuhause weg musste, betrübte sie nicht übermäßig. Georg und Friederike würde sie vermissen. Und natürlich Annabelle, die ganz besonders. Ihr konnte sie erzählen, was sie niemandem sonst anvertraut hätte. Sie tröstete, wenn Viktoria Trost brauchte, wischte ihre Sorgen nicht einfach fort, wie man Krümel vom Tisch wischt. Wenn sie einen Ratschlag gab, war er überlegt. Wenn sie die Kinder korrigierte, machte sie das sehr bestimmt und sie duldete auch keinen Widerspruch. Aber sie erklärte, warum man sich anders verhalten musste.

So hätte sich Viktoria ihre Mutter gewünscht.

Das geborgte Leben der Viktoria von R.

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