Читать книгу Das geborgte Leben der Viktoria von R. - Klaus Melcher - Страница 9

Kapitel 6

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„Woher wissen Sie das alles?“, fragte Frau von Riefenstein. „Ich kann mich nicht erinnern, ob es so war.“

Sie dachte nach, und ich sah, es machte ihr große Mühe.

„Ich weiß wirklich nicht, ob es so war. Aber es könnte so gewesen sein.

Ja, ich glaube, so war es auch.“

Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt.

„Wissen Sie, was mir ganz besondere Freude macht?

Dass Annabelle mich ‚Viki’ gerufen hat.“

Sie betrachtete ihre Hände und massierte die Knöchel ihrer Finger, die mir heute besonders verschrumpelt erschienen.

„Das ist so lange her, dass ich ‚Viki’ gerufen worden bin. Und ich habe mir immer einen Kosenamen gewünscht, aber nur Annabelle hat mich so genannt. Und Friederike und Georg natürlich. Aber nicht meine Eltern. Kein einziges Mal, auch nicht, als ich sehr krank war. Auch nicht das Personal. Dem hatten meine Eltern ausdrücklich verboten, mich mit diesem kindischen Namen anzusprechen. Sie zwar

Annabelle verbieten, aber die hat sich geweigert.

‚Dann müssen Sie mir kündigen!’, hatte sie gesagt.

Am selben Abend bekam Friederike auch einen Kosenamen.

„Was hältst du von Fritzi?’, hatte Annabelle gefragt, und Friederike war begeistert.

Nur Georg ging leer aus, der Arme war ganz traurig und hat sogar geweint. Oder wissen Sie eine Koseform für Georg?“

Ich überlegte.

„Georgi? So wie die Engländer Georg aussprechen und dann mit einem i hinten dran. Etwa so: ‚Djorji’.“

Sie schmunzelte.

„Ja, das wäre gegangen. Aber da ist keiner drauf gekommen. Schade eigentlich.“

„Erzählen Sie bitte weiter! Wie verliefen die letzten Wochen, bis Sie ins Töchterheim gekommen sind?“, wollte ich wissen.

„Eigentlich, das heißt oberflächlich betrachtet, ganz normal. Nur, Annabelle verhielt sich anders, jedenfalls mir gegenüber. Bisher hatten wir viel gelacht. Jetzt war sie häufig ernst.

Das war ganz merkwürdig: wenn sie sich mit Friederike und Georg beschäftigte, war sie wie sonst, waren wir allein, dann schwenkte sie sofort um. Ich verstand das nicht. Erst dachte ich, sie wäre mir böse, weil ich nach Göttingen gehen wollte. Ich sagte ihr mal, als ich dieses dauernde Ernst-Sein nicht mehr aushielt, ich könnte doch nichts dafür, dass ich in dieses entsetzliche Töchterheim müsste. Da hat sie mich in den Arm genommen und mir das Haar gestreichelt.

‚Ich weiß’, hatte sie gesagt, ‚aber ich bin auch traurig. Und ich will dich langsam daran gewöhnen, dass dein Leben bald ernster wird. Da kannst du nicht einfach so reinpurzeln“.


„Eine Frage habe ich noch“, bat ich, denn ich sah, Viktoria von Riefenstein hatte diese Stunde angestrengt, und es war an der Zeit, mich zu verabschieden.

„Wann haben Sie Ihren Leutnant kennen gelernt?“

„Ach ja, meinen Leutnant. Warten Sie! Das war in diesem Sommer. Er hatte Urlaub und begleitete seine Großeltern. Er musste zum Herbstmanöver. Wissen Sie, die machten immerzu Manöver, und im Herbst war das größte Manöver. Ja, und ich musste ja nach Göttingen. Aber vorher haben wir uns heimlich verlobt. Ringe hatten wir natürlich nicht, die hätten uns verraten. Aber im Kurpark haben wir uns in eine Baumrinde geschnitzt: Zwei Herzen, die ineinander verwoben sind, eins mit den Buchstaben V.R. und das andere mit J. G. für Jacob Goldberg.“

Ich kannte den Namen Goldberg nicht.

„Und Sie begegneten ihm auf einer Parkbank“, stellte ich fest.

„Auf einer Parkbank? Davon weiß ich nichts.“

Sie sah mich verständnislos an.

Nein, nein. Er wäre ihr heimlich gefolgt, als sie einmal mit Annabelle aus dem Kurhaus gekommen wäre.

„In großem Abstand, um uns nicht zu kompromittieren, wie Annabelle mir später sagte. Als wir im Park waren, hatte Annabelle es plötzlich sehr eilig. Sie musste unbedingt noch eine Besorgung machen oder sich um die Kleinen kümmern. So genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls sagte sie, hier wäre es ja ungefährlich, und fragte, ob ich noch etwas allein spazieren gehen wollte. Und schon war sie weg.

Da bemerkte ich ihn. Er stand unter einem Baum und sah herüber.

Ich ging weiter und blieb wieder stehen. Er war mir gefolgt.

Wie mein Schatten.

Sie glauben nicht, wie mir das Herz schlug.

Es war das erste Mal, dass sich ein Mann für mich interessierte.

Es war einfach himmlisch!

Aber ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.

Verstehen Sie, junger Mann, ich war ein anständiges Mädchen und ein angesehenes noch dazu. Wenn ich etwas tat, was sich nicht gehörte, dann war nicht nur mein Ruf ruiniert, dann fiel das auch auf meine Eltern zurück.“

„Haben Sie das Ihren Eltern gesagt, dass Sie einen Verehrer hatten, meine ich.“

„Um Gottes Willen! Meine Eltern hätten mich eingesperrt, die ganze Zeit bis zu unserer Abreise. Oder sie hätten mich gleich nach Göttingen gebracht. Und dort hätten sie gefordert, dass man mich streng bewacht. Nein, meinen Eltern konnte ich nichts davon erzählen.“

„Und Annabelle? Haben Sie ihr etwas erzählt?“

Frau von Riefenstein nickte.

„Ja. Aber die wusste es schon.“

So schnell sie konnte, ohne es wie Flucht aussehen zu lassen, ging Viktoria den breiten Weg ein kleines Stück weiter, bog dann nach links in einen schmalen Pfad ein und erreichte die Pforte, die zu ihrem Garten führte.

Noch einmal sah sie sich um und entdeckte den Leutnant in gebührendem Abstand im Schatten eines hohen Ahornbaums. Fast hätte sie ihm zugewinkt, hatte ihr weißes Taschentuch schon erhoben, da besann sie sich und putzte sich stattdessen die Nase.

„Warum ist das nur so schwer?“, fragte sie sich und eilte auf die Villa zu.

Sie hatte keinen Blick für die Blumen im Wintergarten, für den neuen Springbrunnen, der leise vor sich hin plätscherte, obgleich niemand sich hier befand. Sie hatte es eilig, erreichte die Halle, die keinen anderen Zweck hatte, als zu den verschiedenen Räumen zu führen.

Nur einen Blick warf sie in den Salon und schlich an der Tür zum Herrenzimmer vorbei, um ihrem Vater nicht zufällig zu begegnen.

In der Küche war Annabelle nicht, auch nicht im Küchengarten.

Erstaunt sah die Köchin auf, doch da war Viktoria schon wieder in der Halle, auf der Treppe, die nach oben zu den Schlafzimmern der Familie führte.

Nichts!

Sie war nicht im Zimmer ihres Bruders, nicht im Zimmer ihrer Schwester, sie wartete auch nicht in Viktorias Zimmer.

Viktoria hastete weiter, erreichte durch die kleine Kammer am Ende des Ganges die schmale Treppe, die nach oben zum Zimmer der Gouvernante führte.

Ihr Zimmer war von den anderen Gesindezimmern getrennt, und diese Treppe war allein ihr vorbehalten, damit sie schnell zu ihren Schützlingen kam.

Die anderen Angestellten, der Kutscher mit seiner Frau, die Wirtschafterin, und die Köchin, erreichten ihre Räume über eine separate Wendeltreppe die sich in dem anderen Turm an der Seite der Villa empor schlängelte.

Atemlos erreichte Viktoria Annabelles Zimmer, klopfte energisch an die Tür und öffnete sie, ohne auf das „Entrez!“ zu warten.


Annabelle schien sie erwartet zu haben, denn sie war keineswegs überrascht, saß auf ihrem kleinen Sessel am geöffneten Fenster und hatte ein Buch in der Hand, das sie auf das kleine Tischchen neben dem Sessel legte, als Viktoria eintrat.

Auf einmal war all ihr Mut verflogen, der sie noch eben nach oben getrieben hatte, und sie sah sich verlegen in dem Raum um, als sähe sie ihn zum ersten Mal.

„Du hast dich verliebt“, kam Annabelle ihr zur Hilfe.

Viktoria spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. War sie so leicht zu durchschauen? Würden auch ihr ihre Eltern es merken?

Annabelle war aufgestanden, legte Viktoria den Arm um die Schulter und führte sie zum Bett.

„Setz dich“, forderte sie Viktoria auf und setzte sich neben sie auf den Bettrand.

„Ist es der junge Leutnant, der dir gefolgt ist?“

Viktoria nickte und spürte noch einmal die Glut in ihrem Gesicht.

„Du brauchst dich nicht zu schämen. Das ist ganz natürlich. Jeder Mensch verliebt sich, und wer es nicht tut, ist kein Mensch. Jeder spürt dieses Kribbeln im Bauch, als flögen tausend dicke Hummeln in ihm herum.

Hast du schon mit ihm gesprochen?“

Viktoria sah sie entsetzt an.

„Nein! Um Gottes Willen nein!“

„Habt ihr euch verabredet?“

Viktoria schüttelte energisch den Kopf. Was dachte Annabelle von ihr?

„Und jetzt möchtest du wissen, wie du das anstellen sollst“, mutmaßte Annabelle.

Wieder färbte sich Viktorias Gesicht rot.

„Das ist doch kein Grund, um sich zu schämen“, lachte Annabelle.

Fast eine Stunde sprachen die beiden miteinander, anfangs sehr ernst, dann hörte man das erste Lachen, und schließlich wurde nur noch gealbert.

„Danke!“, flüsterte Viktoria, als sie die Treppe hinab gingen, weil sie der Gong zum Essen rief.


Die Familie war schon im Speisezimmer versammelt.

Eigentlich war es das schönste, weil hellste Zimmer des Hauses. Die ganze Seite zum Garten war mit hohen verglasten Türen versehen, die sich weit öffnen ließen und den Garten hinein zu holen schienen. Vor ihnen hingen duftige Gardinen aus champagnerfarbenem Tüll.

Fast die ganze gegenüberliegende Wand nahm eine ungewöhnlich breite und doch sehr zierliche Anrichte aus Palisander ein. Ihr viertüriger Korpus stand auf schlanken konischen Beinen, die Türfüllungen zierten Intarsien mit unterschiedlichen Obstbaum- und Wurzelhölzern. Intarsien in Form von Girlanden schmückten ebenfalls die ganze Breite des Podestes. Hierauf standen rechts und links einer zierlichen Kaminuhr zwei kostbare Glasvasen von Lalique, eine mit umlaufenden halbplastischen Bachantinnen, die andere mit Libellen reliefiert.

Das Prunkstück aber stand in der Mitte der einzigen noch freien Wand, ein großer Majorelle-Aufsatzschrank.

Kunstvoll geschnitzten Seerosen und Lilien schienen direkt aus dem Holz zu wachsen, golden glänzten die Beschläge und Griffe.

Die Mitte des Raumes nahm der große Esstisch ein. Er war für sechs Personen gedeckt, doch er ließ sich ausziehen und bot dann Platz für vierundzwanzig.

An der einen Stirnseite des Tisches saß Gustav Otto Freiherr von Riefenstein, ihm gegenüber seine Frau Luise. An der Längsseite rechts von ihr hatten Friederike und Georg ihre Plätze, ihnen gegenüber Viktoria und Annabelle.

Es hatte Luise viel Überredungskunst gekostet, ihren Mann davon zu überzeugen, dass Annabelle gemeinsam mit ihnen die Mahlzeiten einnehmen durfte und nicht in der Küche mit dem anderen Personal essen musste.

„Ich möchte in Ruhe speisen“, hatte sie gesagt, „und das kann ich nicht, wenn ich immer ein Auge auf die Kinder haben muss.

Da Reden bei Tisch grundsätzlich nicht erlaubt war, auch nicht das Aufstehen vom Tisch, solange die Mutter nicht die Tafel aufgehoben hatte, gab es wenige Möglichkeiten für die Kinder, den Zorn ihrer Eltern zu erregen. Sie benahmen sich vorbildlich, hatten vorzügliche Tischmanieren dank Annabelles liebevoller Erziehung. Man hätte mit ihnen das vornehmste Restaurant besuchen können, ohne sich zu blamieren, wenn man es denn gewollt hätte.


Anfangs war ihre Bevorzugung Annabelle durchaus nicht recht, doch sie gewöhnte sich schneller daran, als sie gedacht hatte. Da Reden nun einmal nicht erlaubt war, auch nicht um etwas zu korrigieren, hatte sie mit den Kindern eine Art Zeichensprache vereinbart, die nur sie verstanden.

Wenn Annabelle ihr Taschentuch an den Mund hielt und sich räusperte, sahen die Kinder sie an und warteten darauf, nach welcher Seite sie es entfernte. Zum rechten Mundwinkel bedeutete Georg, denn er saß auf dem rechten Stuhl, zum linken bedeutete Friederike, und nahm sie es nach unten fort, so galt ihre Botschaft Viktoria.

Hatte sie erst einmal ihren Adressaten erreicht, sprachen ihre Augen, und es gab nur selten Verständigungsschwierigkeiten oder gar Missverständnisse.

Das Essen zog sich heute endlos in die Länge. Friederike und Georg begannen sich fürchterlich zu langweilen, und Annabelle musste mehr als sonst sich die Nase tupfen und mit ihren Augen rollen.

Schlimmer aber war es für Viktoria. Sie saß auf heißen Kohlen. Während sie hier kostbare Zeit vertrödelte, war vielleicht ihr Leutnant im Kurpark schon unterwegs, suchte sie. Und wenn er sie nicht fände, würde er gehen, enttäuscht zwar, aber er würde gehen.

Endlich faltete der Vater seine Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch, das Zeichen für seine Frau, die Tafel aufzuheben.

Während Gustav Otto von Riefenstein in seinem Zimmer verschwand, um seine Mittagszigarre zu rauchen, erteilte seine Frau der Köchin die nötigen Anweisungen für das Abendessen, zu dem man in kleinem Kreis das befreundete Ehepaar von Hammerstein erwartete, und setzte sich anschließend in den Wintergarten. Dort stand zwischen drei großen Blumenkübeln eine Recamiere, auf der sie regelmäßig ihr Mittagsschläfchen hielt. Sie liebte diesen Platz mit freiem Blick auf den Himmel, der nur durch die wenigen Stahlträger der Dachkonstruktion unterteilt wurde.

Während Friederike und Georg mit einer großen Decke in den Garten gingen und sie auf dem Rasen ausbreiteten, um sich nachher mit Annabelle zu treffen, verschwand Viktoria in ihrem Zimmer, suchte in ihrem Schrank den Sommerhut, den ihre Mutter extra für diesen Urlaub gekauft hatte und den sie sehr zu ihrem Missfallen bisher noch nicht einmal getragen hatte. Jetzt würde sie ihn aufsetzen!

Sie ging noch einmal die Verhaltensregeln durch, die ihr Annabelle erteilt hatte, dann flog sie die Treppe hinab, eilte durch die Küche und verließ das Haus durch den Dienstboteneingang.

Unbemerkt gelangte sie in den Kurpark, ging die Allee hinab, die nur etwas für die alten Leute war, vorbei am Kurhaus und der Wandelhalle, kreuzte den Hauptweg, an dem auch das Lungensanatorium lag, und bog hinter dem Klinikneubau auf einen der verschlungenen Spazierwege des großen Parks ein.

Sie musste sich zwingen, immer wieder die Mahnungen Annabelles rekapitulieren, um langsam zu gehen.

„Du bist kein Bürgermädchen und erst recht keine Magd. Du hast nichts zu besorgen. Du hast Zeit. Denke immer daran!“, hatte sie gesagt und oben auf dem Flur mit ihr geübt.

Und dann sah sie IHN.

Wie beim ersten Mal stand er unter einem Baum, hatte sich auf seinen Spazierstock gestützt und schien zu überlegen, welchen Weg er einschlagen sollte.

Heute war er nicht in Uniform, sondern trug einen hellen Sommeranzug, eine Krawatte, helle Schuhe und einen ebenfalls hellen Strohhut.

Auch er hatte sie bemerkt, war offenbar ebenso unsicher wie sie. Als wäre ihm zu warm, zog er den Hut und wischte das Schweißband mit seinem Taschentuch.

Bevor er ihn wieder aufsetzte, verneigte er sich unmerklich.

Niemand hätte sich etwas dabei gedacht.

Viktoria aber hatte das Zeichen verstanden.

Langsam schlenderte sie den Weg entlang, bückte sich ab und zu zu einer Rose hinab, roch an ihr, ging wieder einige Schritte, bis sie an einer Bank Halt machte.

In aller Ruhe suchte sie in ihrem Pompadour nach einem Taschentuch, fingerte es heraus und wollte gerade beginnen, den Sitz abzuwedeln, als der Leutnant neben ihr stand.

„Verzeihen Sie. Darf ich das für Sie übernehmen?“

Sie hatte noch nicht geantwortet, da wedelte er über die ganze Sitzfläche, reichte ihr die Hand, um ihr zu helfen.

„Gestatten Sie?“, fragte er, als sie sich gesetzt hatte.

Das geborgte Leben der Viktoria von R.

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