Читать книгу Das geborgte Leben der Viktoria von R. - Klaus Melcher - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
Viktoria Freiin von Riefenstein, empfing mich in ihrer Wohnung im dritten Stock eines exklusiven Neubaus am Südufer des Steinhuder Meeres.
Es war eine der Wohnungen, um die ich die Eigentümer immer beneidete, mit einem fantastischen Blick über das ganze Meer, bis weit über den Wilhelmstein hinaus.
„Ja“, sagte Frau von Riefenstein, nachdem sie mich über den Flur in ihr Wohnzimmer geführt hatte.
„Sehen Sie sich in aller Ruhe um, während ich uns ein wenig Gebäck zum Tee hole. Sie trinken doch Tee?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie, und ich hörte sie in der Küche hantieren.
Das Wohnzimmer schätzte ich auf etwa vierzig Quadratmeter. Die dem Meer zugewandte Wand war total verglast und durch raumhohe Glastüren von dem großen Balkon getrennt, der sich über die gesamte Breite des Wohnzimmers erstreckte. Vor ihnen hingen duftige Gardinen mit zarten Blumenbouquets, die sich in leicht veränderter Form auf den Tapeten wiederholten.
Einige Scherenschnitte, vorwiegend Frauen- und Männerportraits in meist ovalen Rahmen, hingen über einem kleinen Sekretär gleich neben der rechten Balkontür.
An ihn schloss sich eine Anrichte an, ebenfalls wie alle anderen Möbel in diesem Raum selbst für mich unverkennbarer Biedermeier. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Vitrinenschrank, in dessen verglastem Mittelteil Frau von Riefenstein altes Porzellan präsentierte.
Die Essgruppe mit ihren sechs Stühlen und dem doch recht großen Tisch schien mir für eine einzelne Person sehr üppig bemessen.
Die wichtigsten Möbel in dem Raum schienen ein Sofa und drei bequeme Sessel zu sein, die sich um einen runden Tisch gruppierten.
Den Tisch hatte Frau von Riefenstein bereits eingedeckt.
„Sie fragen sich sicher, was ich von Ihnen will.“
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war sie wieder eingetreten, hatte eine Schale mit Keksen in die Mitte des Tisches gestellt und ging gerade mit der ersten Tasse zum Samowar, der auf der Anrichte stand.
Es war ein älteres Gerät, noch nicht elektrifiziert, sondern mit Holzkohle beheizt, das im Laufe der vielen Jahre, die es seinen Dienst getan hatte, wohl oft geputzt worden war. An einigen Stellen war die Silberauflage schon abgerieben und das Rot des Kupfers schimmerte durch.
„Ist es so recht?“, fragte sie, als sie die Tasse zur Hälfte mit starkem, dunklem Tee gefüllt hatte und jetzt siedendes Wasser aus dem Kessel zugab.
Sie schien meine Zustimmung vorauszusetzen, denn sie stellte die Tasse auf den Couchtisch.
Als sie auch ihre Tasse gefüllt hatte, setzten wir uns einander gegenüber auf die erstaunlich bequemen Sessel.
Andächtig rührte sie um, gab vorsichtig einen Teelöffel braunen Zucker zu und probierte.
Nachdem sie die Tasse wieder abgesetzt hatte, sah sie mich an, als hätte sie mich bisher noch gar nicht bemerkt.
„Habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, warum ich Sie hergebeten habe? Nein?“
Sie machte eine Pause und schien über irgendetwas nachzudenken.
„Wissen Sie, ich bin in letzter Zeit etwas vergesslich geworden“, setzte sie nach einer Weile fort. „Deshalb muss ich mir Klarheit verschaffen, bevor ich alles vergessen habe.“
Ich verstand überhaupt nichts und musste wohl auch so ausgesehen haben, denn sie lachte plötzlich ein helles, fast glockenreines und dabei sanftes Lachen, wie ich es noch nie gehört hatte.
„Darf ich Sie bitten, die obere rechte Tür der Vitrine zu öffnen?“
Es waren nur drei Schritte zu dem Schrank, und ganz sicher hätte sie die auch geschafft, denn dass sie gehbehindert war, war mir bisher nicht aufgefallen. Aber ich folgte ihrer Bitte sofort, denn schließlich wollte ich den Auftrag haben, welcher Art er auch sein würde.
Ich setzte also die Tasse ab und erhob mich, ging die drei Schritte zum Vitrinenschrank und öffnete die rechte obere Tür neben dem Glasteil.
In dem Fach herrschte eine penible Ordnung. Auf dem obersten Regalboden waren kleine bunte Pappschachteln übereinander gestapelt. Den mittleren nahmen lediglich zwei sehr viel größere Kartons ein, beide mit Blümchenstoff bezogen, der linke mit zarten rosa Röschen, der rechte mit blauen Vergissmeinnichtsträußen.
Und unten standen kleine quadratische Bücher, aufwändig in Seide gebunden, mit und ohne Bändchen zum Verschließen, Poesiealben, wie mir schien.
„Ich glaube, wir beginnen mit dem blauen Karton“, sagte sie.
Ich nahm ihn heraus und stellte ihn auf den Tisch. Frau von Riefenstein schob die Keksschale zur Seite und zog die breite rote Schleife auf, mit der der Karton verschlossen war.
Er war bis zur Hälfte mit Fotos gefüllt, die ungeordnet hineingeworfen worden waren.
„Sehen Sie, junger Mann, das ist es, was mir Sorgen macht. Diese Unordnung! Ich hasse Unordnung. Sonst schaffe ich es ja noch, Ordnung zu halten, aber nicht in meiner Erinnerung. Da läuft alles durcheinander, vermischt sich miteinander, und manchmal frage ich mich wirklich“, sie verstummte plötzlich, als wagte sie nicht auszusprechen, was sie gerade dachte, „wer ich bin. Haben Sie das schon mal erlebt? Aber Sie sind ja noch jung. Da hat man noch die Übersicht über sein Leben.“
Wie gedankenverloren kramte sie in dem Karton herum, nahm dieses oder jenes Bild in die Hand, hielt es dicht an die Augen, legte es wieder zurück, bis sie endlich gefunden hatte, wonach sie zu suchen schien.
„Wie alt, meinen Sie, ist dieses Mädchen?“
Sie reichte mir das Foto über den Tisch.
Es war sehr alt, schon etwas fleckig.
Ein hübsches junges Mädchen, wohl zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt, stand kerzengerade an eine Säule gelehnt und schützte sich vor der Sonne mit einem zierlichen weißen Sonnenschirm. Es trug einen dunklen knöchellangen Rock und eine hochgeschlossene weiße Bluse.
„Das war ich“, sagte sie. Ihre Frage hatte sie bereits vergessen.
Sie kramte in der Schachtel weiter, schien langsam ungeduldig zu werden, bis sie endlich ein Bild gefunden hatte, das sie die ganze Zeit gesucht hatte.
„Und das ist ER.“
In der Hand hielt sie eine kolorierte Daguerreotypie.
Sie stellte einen gut aussehenden jungen Mann in Uniform dar. Auch er hielt sich so kerzengerade, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, sein Blick war in die Ferne gerichtet, sein kleiner Oberlippenbart war gewichst und ordentlich gezwirbelt.
„Das war ER“, wiederholte Frau von Riefenstein ganz leise.
Ich legte beide Aufnahmen vorsichtig beiseite. Nicht, dass ich befürchtete, sie zu beschmutzen, denn über meine Tollpatschigkeit hat sich bisher noch niemand beklagen müssen, aber es verlangte einfach die Achtung vor diesen alten Aufnahmen, deren persönlicher Wert sicher unermesslich war. Sie waren unersetzbare Unikate.
„Wer war ER?“, fragte ich nach einer Weile, denn ich wollte Frau von Riefensteins Andacht nicht stören – ja, so würde ich diesen eigentümlichen Zustand bezeichnen, in dem sie gerade befand.
Sie hatte immer noch die Augen halb geschlossen und lächelte auf eine eigenartige Weise.
Langsam öffnete sie wieder die Augen und sah mich an.
„Das war mein Liebster. Das war mein Verlobter“, sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt ganz fest.
„Und Sie sind der Erste, der das erfährt“, fügte sie hinzu und lächelte spitzbübisch.
„Wollen Sie mir etwas darüber erzählen?“, fragte ich.
Ich wollte nicht indiskret sein und um Himmelswillen nicht voyeuristisch erscheinen, aber wenn ich mich mit der Angelegenheit, von der ich immer noch keine klarere Vorstellung als am Anfang hatte, beschäftigen sollte, dann brauchte ich doch einige Informationen.
Sie schien zu überlegen.
„Wir haben uns im Kurpark kennen gelernt“, antwortete sie endlich.
„Ich war mit meinen Eltern und meiner Schwester Friederike da und unserer Gouvernante natürlich. Die war eigentlich ganz ordentlich, nicht so streng wie unsere erste.“
Wieder schien sie in ihren Erinnerungen zu versinken.
Langsam wurde der Himmel über dem Steinhuder Meer dunkel. Die Insel Wilhelmstein verlor ihre Konturen, die letzten Segelboote hatten an ihrem Steg angelegt oder fuhren noch zum Nordufer, von den Tretbooten war keins mehr auf dem Wasser zu sehen.
Heimlich sah ich auf die Uhr.
Zeit auch für mich aufzubrechen, wenn ich meinen Bus nach Wunstorf noch erreichen wollte.
„Warten Sie noch einen Augenblick, bitte.“
Sie legte mir die Hand auf den Arm, als wollte sie mich festhalten, aber nicht Besitz ergreifend, eher beschwichtigend.
„Etwas muss ich Ihnen noch erzählen, bevor Sie gehen. Er hat mich nicht angesprochen, aus Angst, mich zu kompromittieren. Ich habe es anders erfahren, dass er sich in mich verguckt hatte.“
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, und inzwischen wusste ich, sie dachte nach, versuchte sich zu erinnern, doch es fiel ihr einfach nicht ein, wie sie sich kennen gelernt hatten.