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„Und das ist ER.“

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In der Hand hielt sie eine kolorierte Daguerreotypie.

Sie stellte einen gut aussehenden jungen Mann in Uniform dar. Auch er hielt sich so kerzengerade, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, sein Blick war in die Ferne gerichtet, sein kleiner Oberlippenbart war gewichst und ordentlich gezwirbelt.

„Das war ER“, wiederholte Frau von Riefenstein ganz leise.

Ich legte beide Aufnahmen vorsichtig beiseite. Nicht, dass ich befürchtete, sie zu beschmutzen, denn über meine Tollpatschigkeit hat sich bisher noch niemand beklagen müssen, aber es verlangte einfach die Achtung vor diesen alten Aufnahmen, deren persönlicher Wert sicher unermesslich war. Sie waren unersetzbare Unikate.

„Wer war ER?“, fragte ich nach einer Weile, denn ich wollte Frau von Riefensteins Andacht nicht stören – ja, so würde ich diesen eigentümlichen Zustand bezeichnen, in dem sie gerade befand.

Sie hatte immer noch die Augen halb geschlossen und lächelte auf eine eigenartige Weise.

Langsam öffnete sie wieder die Augen und sah mich an.

„Das war mein Liebster. Das war mein Verlobter“, sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt ganz fest.

„Und Sie sind der Erste, der das erfährt“, fügte sie hinzu und lächelte spitzbübisch.

„Wollen Sie mir etwas darüber erzählen?“, fragte ich.

Ich wollte nicht indiskret sein und um Himmelswillen nicht voyeuristisch erscheinen, aber wenn ich mich mit der Angelegenheit, von der ich immer noch keine klarere Vorstellung als am Anfang hatte, beschäftigen sollte, dann brauchte ich doch einige Informationen.

Sie schien zu überlegen.

„Wir haben uns im Kurpark kennen gelernt“, antwortete sie endlich.

„Ich war mit meinen Eltern und meiner Schwester Friederike da und unserer Gouvernante natürlich. Die war eigentlich ganz ordentlich, nicht so streng wie unsere erste.“

Wieder schien sie in ihren Erinnerungen zu versinken.


Langsam wurde der Himmel über dem Steinhuder Meer dunkel. Die Insel Wilhelmstein verlor ihre Konturen, die letzten Segelboote hatten an ihrem Steg angelegt oder fuhren noch zum Nordufer, von den Tretbooten war keins mehr auf dem Wasser zu sehen.

Heimlich sah ich auf die Uhr.

Zeit auch für mich aufzubrechen, wenn ich meinen Bus nach Wunstorf noch erreichen wollte.

„Warten Sie noch einen Augenblick, bitte.“

Sie legte mir die Hand auf den Arm, als wollte sie mich festhalten, aber nicht Besitz ergreifend, eher beschwichtigend.

„Etwas muss ich Ihnen noch erzählen, bevor Sie gehen. Er hat mich nicht angesprochen, aus Angst, mich zu kompromittieren. Ich habe es anders erfahren, dass er sich in mich verguckt hatte.“

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, und inzwischen wusste ich, sie dachte nach, versuchte sich zu erinnern, doch es fiel ihr einfach nicht ein, wie sie sich kennen gelernt hatten.

Das geborgte Leben der Viktoria von R.

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