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Kapitel 9

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Wie jeden Morgen zu Dienstantritt stand Ingeborg Mehwald vor dem Spiegel, der oberhalb des Handwaschbeckens in ihrem Büro angebracht war, etwas zu tief, so dass sie immer ein klein wenig in die Knie gehen musste, wollte sie ihren ganzen Kopf betrachten. Lippen schminken, den Lidstrich nachziehen, das wäre auch so gegangen, aber es kam ihr auf die Frisur an, und die konnte sie nur sehen und gegebenenfalls richten, wenn sie in die Knie ging.

Und zu richten gab es jeden Morgen etwas, sei es, dass sie zu Hause nicht gesehen hatte, dass sich eine Locke oder Strähne selbständig gemacht hatte oder dass ein Windhauch die schön geordnete Pracht in Aufruhr versetzt hatte.

Und gab es wirklich mal nichts auszusetzen, dann wurde trotzdem mit einem Nebel von Haarspray nachbetoniert.

Es gab kaum jemanden im Amt, der nicht seine Witzchen machte, der nicht vorsichtig mit den Fingerspitzen seine Haare berührte, als wollte er sie in Form bringen, es gab auch kaum einen, der sich dann nicht bemühte, wie sie über den Flur zu tackern und sich schließlich ganz echauffiert hinzusetzen, mit den Händen die erhitzten Wangen reibend.

Niemand ließ sich dieses allmorgendliche Schauspiel entgehen, wenn es nicht schwerwiegende Gründe gab, Krankheit oder etwa dienstlich notwendige Abwesenheit.

„Gibt es etwas Neues?“, war eine der Fragen oder: „Hat der Chef nach mir gefragt?“, manchmal auch: „Hat der Chef Zeit?“ oder weniger verfänglich: „Wann hat der Chef mal Zeit für mich?“

Ingeborg Mehwald war die Sekretärin Dr. Meiers, des Leiters des Jugendreferates. Bei ihm lief alles zusammen. Waren Jugendliche auffällig geworden, hatten die Schule geschwänzt, waren betrunken angetroffen und aufgegriffen worden, waren beim Diebstahl erwischt worden, immer landeten die Akten bei ihm. Die Polizei, die Fürsorge, auch mal die Schulen schickten ihre Unterlagen, und er sortierte, verteilte an die Mitarbeiter, überwachte deren Arbeit und bestimmte die Reihenfolge, in der die Fälle bearbeitet wurden.

Und er war Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins ‚Die Treppe’.

Natürlich musste sich jeder Mitarbeiter mit ihm abstimmen, wenn er eigene Wege ging. Erfreulich war, er scheute nicht das Risiko. Eigene Ideen seiner Mitarbeiter standen bei ihm hoch im Kurs. Aber bevor sie umgesetzt werden durften, mussten sie von ihm abgesegnet werden.

„Denken Sie immer daran, meine Damen und Herren“, hatte er bei seiner Amtseinführung gesagt, „wir stehen im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Macht einer von uns einen Fehler, so haben wir alle versagt. Kommen Sie zu mir, wir besprechen den Fall auf der Grundlage Ihrer Ermittlungen und Vorschläge. Das geschieht zum Wohle des Jugendlichen und zu Ihrem Vorteil. Wenn etwas schief läuft, trage ich schließlich die Verantwortung.“

Ingeborg Mehwald setzte ihr freundlichstes Lächeln auf, als Heiko Müller das Sekretariat betrat.

„Der Chef wartet schon.“

Dabei straffte sie ihren Oberkörper und tackerte mit kleinen Stöckelschritten zu ihrem Schreibtisch, überzeugte sich noch einmal durch den Fingerkuppentest davon, dass die Frisur diesen Weg unbeschadet überstanden hatte, und wandte sich ihrem Bildschirm zu.

Ein lautes „Herein!“ ertönte, nachdem Müller an die Tür geklopft hatte, dann öffnete er und trat in das Büro seines Chefs.

Dr. Meier hatte seinen Mitarbeiter erst vor wenigen Tagen hier zum Rapport gehabt und war überrascht, ihn schon wieder zu sehen.

Es war unwahrscheinlich, dass er den Fall Carmen schon gelöst hatte. Er hatte weit reichende Vollmachten erhalten. Was wollte er jetzt von ihm?

„Hat sich etwas Neues ergeben?“, fragte er auch gleich, ohne jede Vorbereitung.

„Ja, Erfreuliches, aber auch etwas Unerfreuliches.“

Dr. Meier horchte auf.

Wie er das zu verstehen hätte, wollte er wissen.

Heiko erzählte, wie er Carmen gefunden und mit zu sich nach Hause genommen hätte, sie aber immer noch im Unklaren gelassen hätte, ob und was er von ihr wollte. Alles hätte er von ihr erwarten können, davon wäre er überzeugt. Nichts hätte er von ihr verlangt, im Gegenteil, hätte ihr immer wieder gesagt, sie könnte jederzeit gehen. Wie er ganz langsam ihr Vertrauen errungen hätte. Bis er ihr schließlich sogar einen eigenen Wohnungsschlüssel gegeben hätte.

„Das ist doch sehr positiv“, sagte Dr. Meier, „wo steckt jetzt das Unerfreuliche?“

„Plötzlich hat sie herausbekommen, dass ich bei der ‚Treppe’ arbeite, dass ich ausgerissene Jugendliche und Kinder wieder in ihre Familien und zur Schule bringe.“

Dr. Meier sah ihn fragend an. Er verstand nicht, dass das so ein Problem sein sollte.

„Doch“, antwortete Müller, „sie hat ihr Vertrauen verloren. Auf einmal erschien ihr alles als Betrug, nur als Mittel zum Zweck. Sie fühlte sich betrogen.“

„Und jetzt?“

„Ganz darüber hinweggekommen ist sie immer noch nicht. Deshalb möchte ich Urlaub beantragen. Ein paar Tage in anderer Umgebung könnte ihr helfen, wieder Vertrauen zu gewinnen.“

„Sie lieben das Mädchen!“

Heiko Müller fühlte, wie er rot wurde, über und über rot. Unmöglich konnte er jetzt seinem Chef in die Augen sehen. Sich in eine Klientin zu verlieben, war so ungefähr das Schlimmste, was man sich leisten konnte.

Dr. Meier erhob sich, kam ganz langsam hinter dem Schreibtisch hervor und legte Heiko Müller die Hand auf die Schulter.

„Ist sie es wert?“

„Ja“, antwortete Müller, „wenn sie mich noch will, werde ich sie heiraten.“

„Fahren Sie! Ich wünsche Ihnen viel Glück!“

Heiko Müller erhob sich, dankte seinem Chef und wollte gerade den Raum verlassen, als Dr. Meier Heiko ihn noch einmal zurück rief.

„Haben Sie schon eine Unterkunft?“

Heiko Müller schüttelte den Kopf.

„Wenn Sie keine großen Ansprüche stellen, ich kenne ein nettes kleines Ferienhaus. Da sind Sie ganz alleine, wenn Sie wollen. Sie müssen sich allerdings selbst versorgen.“

Müller nickte zustimmend.

Dr. Meier griff nach dem Telefon, wählte eine Nummer, und nach wenigen Augenblicken schien die Verbindung zu stehen.

Er sagte etwas für Müller Unverständliches, legte auf und gab Heiko Müller einen Zettel mit der Adresse des Ferienhauses.

„Sie werden erwartet. Von Frau Andersen. Sie wohnt im Nachbarhaus.

Als er nach Hause kam, war Carmen nicht in der Wohnung.

Plötzlich war alle Kraft aus ihm gewichen. Er setzte sich aufs Sofa, stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf in seine Hände.

Wie gelähmt saß er da, der Kopf war leer, keine Empfindung regte sich.

Das war’s dann wohl!

Da fiel ihm ein, Carmen wollte sich noch etwas für den Urlaub besorgen. Nur zwei Jeans und drei T-Shirts, das war doch etwas zu wenig. Und einen Bikini brauchte sie auch.

Sicher würde sie bald kommen.

Und wenn nicht?

Er hörte das Knirschen des Schlüssels. Die Tür wurde aufgestoßen, und herein kam Carmen, beladen mit einigen Tüten.

Sie hatte die Tür noch nicht geschlossen, als sie Jose sah, die Tüten fallen ließ, mit dem Fuß gegen die Tür stieß, so dass sie sich mit einem Rums schloss, und auf Jose zueilte.

Er war aufgestanden, hatte noch keinen festen Stand, da hatte sie seinen Hals schon umschlungen. Gemeinsam fielen sie auf das Sofa.

„Gott sei Dank! Ich hatte so große Angst, du hättest mich verlassen!“

Wieder und wieder küsste sie ihn.

Er wollte ihr sagen, dass er sie nicht verlassen würde, jetzt nicht und auch in Zukunft nicht, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als sie zu heiraten, dass sein Chef den Urlaub genehmigt hätte, dass sie bestimmt auch die Heiratserlaubnis bekommen würden. Immer wieder versuchte er dazu anzusetzen, doch kaum hatte er zwei Worte gesagt, verschloss sie ihm den Mund mit einem neuen Kuss.

Schließlich war sie ganz außer Atem und ließ von ihm ab.

„Guck, was ich alles besorgt habe!“

Sie griff nach den Tüten, drehte sie um, und ein kleiner Kleiderberg lag auf dem Couchtisch.

Sie griff in die Hosentasche und zog einen zerknitterten Zehn-Euro-Schein und etwas Kleingeld hervor.

„Und das habe ich übrig behalten.“

Während sie mit einer Modenschau begann, erzählte sie von ihrer Superidee.

Warum? hatte sie sich gefragt, sollte sie sich neue Klamotten kaufen, wenn sie im Second-Hand-Laden nicht mal die Hälfte kosteten. Sie wäre in Linden geblieben und hätte einige Läden abgeklappert und all das hier gefunden. Alles nur eine Saison getragen und picobello in Ordnung.

Sie hatte Recht. Und sie überraschte Jose. Keine ultrakurzen Shortys, möglichst noch mit Löchern, sondern – zugegeben, kurze – Shorts, Jeans – auch die figurbetont, aber eben tragbar. Sogar ein Rock war dabei, kurz und sexy, aber es war ein Rock.

Wolfskinder

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