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Kapitel 1
ОглавлениеPünktlich um 7.30 Uhr betrat Edo Buchholz durch eine gläserne Schwingtür den langen Flur, der nur von einigen Neonlampen und den Glasausschnitten in den Türen beleuchtet wurde.
Er hasste diesen Flur, der so ungemütlich war, als wollte man allein dadurch jeden Besucher abschrecken, eine Amtsstube zu besuchen.
Einmal hatte er vorgeschlagen, wenigstens einige Stühle neben die Türen zu stellen, doch seine Kollegen hatten protestiert. Wer hierher kam, war ein Bittsteller, man musste ihm sein Anliegen nicht versüßen.
Selbst Zimmerpflanzen gediehen hier nicht, und so blieb der Gang wie er war: ein schmaler langer Schlauch mit grauem Linoleum und einem eigentümlichen Geruch, der Edo Buchholz an den Geruch erinnerte, den er aus seiner Zeit in der DDR kannte, der von allem Besitz ergriffen hatte, was einem Normalbürger zugänglich war. Ob er im Zug saß, in der HO einkaufte, in seiner kleinen Gaststätte um die Ecke ein Bier trank oder eine Frikadelle aß, die nach allem schmeckte, nur nicht nach Fleisch, selbst in der Kaserne hatte man diesen Geruch in der Nase gehabt.
In den meisten Büros roch es ähnlich.
Auch in seinem.
Nur bei einigen Kolleginnen wurde der Geruch von dem süßlichen oder herben Duft eines Parfüms überdeckt, und wenn sie ihre Tür einen Augenblick länger offen ließen oder über den Gang stöckelten, dann zog auch durch den Flur ein Hauch von Chanel oder Dolce & Gabana, Dior oder Giorgio Armani.
Er kannte sie alle, die teuren Düfte, und konnte sie zuordnen. Jede Kollegin hatte ihren eigenen Duft, war an ihm schon im Aufzug zu erkennen.
Manchmal, wenn der Duft ihn besonders berauschte, ließ er seine Tür einen Spaltbreit offen, um ein bisschen von ihm zu stehlen und ihn in sein Büro zu holen.
Nur mit den billigeren Düften hatte er seine Schwierigkeiten.
Anfangs hatte er gedacht, die ganz jungen Kolleginnen trügen sie, doch dann musste er erstaunt feststellen, dass die wirklich teuren Parfüms vorwiegend von den jüngeren getragen wurden, während sich die ganz alten mit 4711 und Uralt Lavendel bis zur Rente begnügten. Sie hatten in diesem Duft hier begonnen, und sie würden mit diesem Duft ausscheiden, amtsmüde, frustriert, weil sie nicht viel hatten ändern konnten, desillusioniert.
Dazu passten nicht Chanel und all die anderen Wohlgerüche. Das würden die Jungen auch noch lernen.
Sein Büro lag ganz am Ende des Ganges, war noch kleiner als die anderen und bot Platz für nur eine Person.
Hier hatte sich ursprünglich eine Kaffeeküche befunden, aber da sowieso niemand einen Kaffee oder Tee zubereitete, von einem warmen Imbiss ganz zu schweigen, hatte man aus diesem Raum kurzerhand ein Mitarbeiterzimmer gemacht und ihm zugewiesen. Er brauchte kein größeres, da er kaum jemals Besuch erwartete.
Unglücklich war Buchholz darüber nicht. Er musste sich sein Zimmer nicht mit einem Kollegen teilen, und er hatte Wasseranschluss und einige Steckdosen mehr, ein Luxus, von dem andere nur träumten.
Sonst glich sein Zimmer in der Ausstattung denen seiner Kollegen.
Ein mit hellbrauner Kiefer furnierter einfacher Büroschreibtisch, ein ebenfalls hellbraunes hohes Regal, ein niedriges Regal und ein Schreibtischstuhl bildeten die ganze Einrichtung.
Auf dem niedrigen Regal standen ein Wasserkocher, die Teekanne und Teedose. Der Wasserkocher hatte seine Spuren hinterlassen. Das Furnier war hier aufgequollen und bildete kleine wellenartige Erhebungen. Hinter einem kleinen Vorhang, den Buchholz mit Reißzwecken an das Regal gepinnt hatte, verbargen sich die Utensilien für unbeschwerten Teegenuss.
Die Schreibtischplatte war fast pedantisch in vier Segmente geteilt. Das zentrale und wichtigste war das unmittelbar vor dem Schreibtischstuhl. Hierhin zog er das, woran er gerade arbeitete. Das konnte eine Akte sein oder die Tastatur seines Computers.
Notizen zu dem jeweiligen Fall lagen grundsätzlich links vom zentralen Arbeitsplatz.
Rechts von ihm war das dritte Segment, in dem er die bearbeiteten Papiere ablegte.
Den hinteren Teil der Schreibtischplatte teilten sich sein kleines Radio, der Bildschirm, der Drucker, die Körbe für die ausgehende und eingehende Post.
An der Wand hingen zwei Urlaubsfotos, ein Bild von den Malediven, seine Frau und er umarmten sich in dem blauen Wasser, und eins dreißig Jahre später von Kroatien. Das Wasser war fast ebenso blau, die Sonne schien genauso strahlend. Nur ihre Körper waren älter geworden, viel älter.
Sonst war der Raum ohne jeden Schmuck. Den Versuch, eine Pflanze etwas Leben in den Raum bringen zu lassen, hatte die Pflanze nicht überstanden.
Buchholz machte – sicher nicht ganz zu Unrecht – die Ausdünstungen des Linoleumbodens dafür verantwortlich und gab es nach dem dritten Versuch auf, eine lebende Blume in sein Zimmer zu holen. Und eine Plastikblume lehnte er grundsätzlich ab.
Und so war es mit allem in seinem Büro. Wenn er ehrlich war, hier gedieh kein Leben.
Irgendwann würde es sterben.
Wenn Buchholz morgens sein Büro betrat, folgte er immer einem ganz bestimmten Ritual. Er trat auf den Schreibtisch zu, schaltete das Radio ein, entnahm im Vorbeigehen dem Eingangskorb die Post, ging um den Schreibtisch herum, legte die Post auf den Arbeitsplatz und steuerte das Fenster an, das er mit einem energischen Griff öffnete. Dann ging er zu dem niedrigen Regal, setzte Teewasser auf und füllte den Teefilter.
Die drei Minuten, die das Wasser brauchte, um zu kochen, blieb er wie andächtig am Regal stehen.
Wenn es blubberte, goss er es in die Kanne, achtete darauf, dass die Filtertüte nicht in die Kanne rutschte und klemmte sie mit dem Kannendeckel fest.
Noch einmal wartete er drei Minuten, während derer er sein kleines Stövchen, die Teetasse mit Teelöffel und die Zuckerdose auf den Schreibtisch stellte.
Gerade hatte er das Teelicht entzündet, zwei Kluntjes in die Tasse gegeben, da klingelte der Kurzzeitwecker, und der Tee war fertig.
Buchholz entsorgte den Filter, schenkte sich eine Tasse ein und setzte die Kanne auf das Stövchen.
So geschah das schon, so lange er in diesem Büro arbeitete. Und so würde es auch weiterhin ablaufen.
Die Arbeit konnte beginnen.
Ganz oben auf dem Stapel der zu bearbeitenden Fälle lag ein roter Leitz-Ordner mit der Aufschrift „Wolfskinder“. Er barg mehrere Aktendeckel, die mit unterschiedlich vielen Kürzeln einer ganzen Reihe von Mitarbeitern und zwei roten Stempeln geschmückt waren, die diagonal über das Deckblatt gedruckt waren.
„Dringend!“, stand da, und darunter hatte jemand noch „Sofort!“ gesetzt, als hätte der erste Vermerk nicht ausgereicht, um die Mühlen der Verwaltung etwas anzukurbeln.
So war es häufig, wenn die Polizei oder die Kollegen nicht vorwärts kamen. Sie rafften alle Papiere zusammen, steckten sie in einen Aktendeckel, der dank seiner vielen Kürzel besonders wichtig erschien, und versahen ihn mit dem Stempel „Dringend!“. Und dann landete er bei Buchholz oder einem seiner Kollegen auf dem Schreibtisch.
Einmal, vor Jahren, hatte er es gewagt, den Fall, an dem er gerade arbeitete, vorzuziehen, hatte die neue Akte, die sich so einfach vorgedrängt hatte, nach unten gelegt, wohin sie seiner Meinung nach auch gehörte.
Nächtelang hatte er von dem Donnerwetter geträumt, das sein Chef hatte über ihn niederprasseln lassen. Ob allgemeine Anweisungen nicht für ihn gelten, was er sich einbilde, selbst die Prioritäten zu setzen, das waren nur die harmlosesten Beschimpfungen.
Und dabei hatte er noch Glück. Sein Chef hatte auf eine Abmahnung verzichtet und kurz vor Feierabend, als Buchholz ihm Bericht erstatten sollte, ihm freundlich auf die Schulter geklopft.
„Sie wissen, ich lasse Ihnen größtmögliche Freiheit. Aber wenn ich „Sofort!“ stemple, dann haben Sie diese Freiheit nicht mehr.“
Und jetzt hatte er wieder so eine eilige Akte vorliegen. Genau sieben Vorgänge waren in diesem Ordner zusammengefasst, der schon durch seine aufdringliche Farbe seine Wichtigkeit demonstrierte.
An dem ersten Deckel klebte ein Zettel mit einer Kurznotiz des Chefs:
„Erwarte schriftlichen Bericht über die ‚Wolfskinder’ bis Freitag.“
Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wohl eine der undankbarsten Arbeiten. Er würde sehr vorsichtig sein müssen.
Er klappte den ersten Deckel auf.
Das Bild, das mit einer Büroklammer an der Innenseite des Deckels befestigt war, zeigte ein Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren, so genau konnte man das heute nicht mehr sagen. Während die Jungen sich alle Mühe geben konnten, älter auszusehen, als sie in Wirklichkeit waren, gelang es den Mädchen wie von selbst, jedenfalls denen, mit denen er zu tun hatte.
Carmen Brandt, das Foto war zwei Jahre alt, es gab wohl kein neueres, war tatsächlich sechzehn Jahre alt, war wieder einmal nicht zur Schule gegangen. Stolze sieben Wochen war sie dem Unterricht ferngeblieben, ohne dass eine Reaktion der Schule erfolgt wäre.
Buchholz konnte es nicht fassen.
War es den Lehrern gar nicht aufgefallen, dass eine ihrer Schülerinnen fehlte? Oder war man nur froh, eine, noch dazu wohl schwierige, Schülerin weniger in der Klasse zu haben?
Und die Eltern? Bekamen die das Schwänzen ihrer Tochter gar nicht mit?
Buchholz wusste zwar von Fällen, da hatten Schüler morgens das Haus verlassen, beladen mit Tasche, Schulbüchern und Butterbroten, hatten an der Haltestelle gewartet und waren in den entgegengesetzten Bus gestiegen, hatten ihre Tasche am Bahnhof in einem Schließfach deponiert und hatten sich dann den Tag über in der Stadt herumgetrieben.
Das ging ein paar Tage so, vielleicht auch zwei Wochen, aber dann musste doch jemand das bemerken.
Hier schien das Fehlen des Mädchens niemandem aufgefallen zu sein.
Buchholz blätterte ein paar Seiten durch.
Der Inhalt war enttäuschend. Eine Aufzählung von Versäumnissen und Schlampereien. In aller Eile zusammengetragen.
Einmal hatte man die Eltern besucht. Von bedenklichen Familienverhältnissen war die Rede. Die Sozialprognose war ungünstig. Man nahm an, das Mädchen würde auf der Straße leben und wohl auch enden.
Der nächste Fall, ein Junge von vierzehn Jahren, war zwei Monate nicht in der Schule erschienen und war von zu Hause abgehauen. Der Kollege Müller hatte den Jungen im alten Güterhauptbahnhof aufgespürt und zurückgeführt.
Er betreute ihn immer noch, traf sich in regelmäßigen Abständen mit ihm.
Buchholz blätterte weiter.