Читать книгу Im Paradies des Teufels - Klaus-Peter Enghardt - Страница 10
MOHAMMED
ОглавлениеWenige Tage nach dem traurigen Ereignis rückte die erste Montagekolonne zu meiner Baustelle an, um die Hallen zu stellen.
Mit ihr kamen auch neue Ägypter. Unter ihnen befand sich ein älterer Mann, den eine starke Aura umgab. Sein Name war Mohammed und er sah mit seinen langen, weißen Haaren und seinem gepflegten, weißen Bart tatsächlich wie ein Nachkomme des gleichnamigen Propheten aus.
Bereits bei unserem ersten Blickkontakt befiel mich eine starke Sympathie zu diesem mir völlig unbekannten Menschen und ich spürte, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte.
Die Achtung der ägyptischen Arbeiter vor diesem Mann und der sich entwickelnde Einfluss zu ihnen trugen dazu bei, dass er von seinen Kollegen zum Sprecher und von den deutschen Kollegen schon bald zum Vorarbeiter bestimmt wurde.
Er war ein sehr ruhiger, besonnener Mann mit einer tiefen, sympathischen Stimme. Schon am ersten Tag kamen wir beide ins Gespräch und ich stellte sofort fest, dass er nicht nur äußerst höflich, sondern darüber hinaus auch sehr intelligent war.
Er sprach mich grundsätzlich mit „Sir“ an und hatte große Achtung vor mir, obwohl ich wesentlich jünger war als er. Ihm fiel sofort auf, dass ich den ägyptischen Arbeitern englische Arbeitskommandos gab und dass einige der Männer mich deshalb nicht verstanden, da ein Großteil aus einfachen, ungebildeten Schichten stammte.
So war es bisher zuweilen vorgekommen, dass Arbeiten falsch oder nicht vollständig erledigt wurden und das war ärgerlich.
Er bot mir deshalb an, mir die arabische Sprache in ihren Grundzügen beizubringen, vor allem die Zahlen und die Bezeichnungen, die für unsere Arbeit wichtig waren.
Mohammed sprach ein ausgezeichnetes Englisch, was mir sehr entgegenkam, da ich auf diese Weise auch mein Schulenglisch verbessern konnte. Außerdem beherrschte er die persische und die türkische Sprache perfekt. Den Grund für seine Vielsprachigkeit erfuhr ich einige Zeit später, als wir uns angefreundet hatten und er mir an zahlreichen Abenden seine außergewöhnliche und überaus spannende Lebensgeschichte erzählte, die mich noch viele Jahre später auf eine besondere Weise beschäftigen sollte.
Als hätte ich das zu jenem Zeitpunkt bereits geahnt, machte ich mir von Mohammeds Berichten Stichpunkte in meinem Notizbuch, in dem ich auch sämtliche arabische Vokabeln notierte, die er mir beibrachte. Ich notierte mir Orte, die mir unbekannt waren, Angaben über seine Stationen in der Türkei, in Syrien oder in Ägypten, um dies alles später einmal in Landkarten suchen zu können oder in Lexikas nachzulesen. Das Internet gab es ja zu jenem Zeitpunkt leider noch nicht.
Eines Abends lud mich Mohammed zu sich in die Unterkunft ein und es war das erste Mal, dass ich im Camp der ägyptischen Arbeiter zu Besuch war. Wir saßen draußen vor den Unterkünften, er bot mir Tee an und wir rauchten eine Zigarette. Nach einer Weile bat er mich, ihm von meinem Leben zu erzählen. Es genügte tatsächlich ein einziger Abend, um die Erlebnisse und die wichtigsten Ereignisse meines Lebens zusammenzufassen.
Mohammed versprach mir anschließend, an den kommenden Abenden seine Lebensgeschichte zu erzählen und ich war sehr gespannt darauf, denn es sprach einiges dafür, dass dieser Mann eine Menge erlebt hatte.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Mohammed ein Geheimnis umgab.
Bereits am nächsten Abend ergab sich die Gelegenheit zu einem Gespräch.
Wir setzten uns auf unsere Bank, zündeten uns zwei Zigaretten an und schließlich eröffnete mir Mohammed, dass er mir seine Lebensgeschichte erzählen möchte – eine Geschichte, deren Tragweite mich an jenem Abend und auch an den Abenden darauf sehr erschütterte. Er verriet mir, dass es nicht viel mehr, als eine Handvoll Männer gab, denen er diese Geschichte im Verlauf von neununddreißig Jahren berichtet hatte, und es zeugte von seinem großen Vertrauen zu mir, dass er auch mich in sein Lebensgeheimnis einweihen wollte.
Wir saßen auf der kleinen, wackeligen Bank, zogen an unseren Zigaretten und blickten in den sternenklaren Himmel.
Mohammed wurde seltsam ernst, schaute auf eine unbestimmte Stelle in der Ferne und begann mit seiner tiefen, sanften Stimme zu erzählen. Ich war sofort gebannt und obwohl unser Gespräch auf Englisch geführt wurde, verstand ich jede Einzelheit.
Schon am ersten Abend wusste ich, dass dieser Mann die Wahrheit sagte. Ich spürte das an seinen Emotionen. Er sprach von Orten, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört hatte, und von Abenteuern, die so unglaublich klangen, dass sie einfach wahr sein mussten. So etwas konnte sich kein Mensch ausdenken.
Seine Lebensbeichte, die mit einer Messerstecherei begann, als er seinem Vater mit neunzehn Jahren zu Hilfe sprang, zog sich über viele Abende hin und berührte mich tief. Es war für mich fast unvorstellbar, dass dieser Mann, der wie selbstverständlich neben mir saß, diese Fülle an Abenteuern und Schicksalsschlägen überstanden hat, ohne daran zu zerbrechen.
An jenen Abenden grenzenloser Vertrautheit, hatte ich nicht geahnt, dass mich sein spannendes Leben fünfundzwanzig Jahre nach seinen Ausführungen noch immer nicht loslassen, und ich eine Möglichkeit finden würde, um Mohammed auf eine ganz besondere Weise zu würdigen.
An einer Stelle, als Mohammed von seiner Heimat und seinem Zuhause sprach, brach er plötzlich seine Erzählung ab und schwieg sichtlich aufgewühlt.
Ich dachte bewegt: „Wo ist denn eigentlich nach über dreißig Jahren sein Zuhause? Ist es nicht längst in Ägypten oder war es noch immer in Zehnever, am Urmiasee im Norden Persiens?
Gab ihm Allah in diesen Tagen eventuell ein Zeichen, dass Mohammed inzwischen nur noch wenige Kilometer vom Iran entfernt lebte. Könnte es für ihn gar einen versöhnlichen Ausgang dieser „Reise“ geben?
Mohammed hatte wohl noch nie intensiv darüber nachgedacht, doch nachdem er mir seine Lebensgeschichte erzählt hatte, schienen die Bilder aus seiner Jugend an ihm vorüberzuziehen und etwas in seinem Inneren auszulösen. Er hatte sein Elternhaus seit der Messerstecherei nie mehr wiedergesehen und es war ihm auch in all den Jahren nicht möglich gewesen, Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen. Sein unstetes Leben trug dazu bei, dass er nie eine eigene Familie gründen konnte.
Dieses Glück war ihm leider versagt geblieben und ich glaube, dass er sehr darunter litt.
Als er, der wesentlich Ältere und Lebenserfahrenere, mich dann fragte, was ich an seiner Stelle tun würde, dachte ich einen Moment nach und antwortete ihm ehrlich: „Mohammed, Freund, du bist so nahe an deiner Heimat, wie du vielleicht nie mehr sein wirst. Du hast tausende Kilometer hinter dich gebracht, was sind da die fünfhundert Kilometer bis nach Hause? Es wird nichts mehr so sein, wie du es kanntest, vielleicht leben deine Eltern nicht mehr, aber du hast Geschwister. Und sollte ein Mann sein Leben nicht in der Heimat beschließen? Mache Frieden mit dir selbst und höre auf zu zweifeln. Kein Mensch wird dich nach so vielen Jahren noch wegen deiner Notwehrtat bestrafen wollen. Kehre in deine Heimat zurück!“
Mohammed antwortete mir nicht, aber in seinem Inneren arbeitete es. Schließlich legte er seine Hand auf meinen Arm, nickte leicht und sagte bewegt: „Thank You, Mr. Pieter, Sir. No other man i can talk like you with. I’ll do what you advise me.“ („Mit keinem Mann kann ich sprechen wie mit dir. Ich werde tun, was du mir rätst.“)
Sein Angebot, mich sprachlich unter seine Fittiche zu nehmen und sich mit mir abends zu unterhalten, war für Mohammed wie eine Art Vaterrolle, aber auch ich genoss die Zeit mit ihm. Wir verbrachten in den nächsten Wochen viele solcher Abende, an denen er mir von seinen zahlreichen Abenteuern erzählte oder mich in der arabischen Sprache unterrichtete.
Während der folgenden Wochen und Monate erlernte ich die arabische Sprache so weit, dass ich mich mit den ägyptischen Arbeitern und den Händlern in ihrer Sprache unterhalten konnte.
Ein weiterer Vorteil bei den Verhandlungen auf den Basaren war mein fast arabisch zu nennendes Aussehen.
Mit der Zeit eignete ich mir auch die arabische Gelassenheit an, ohne die man in einem arabischen Land nur schwer bestehen konnte.
Dass ich abends oft mit Mohammed zusammen saß, gefiel einigen meiner deutschen Kollegen nicht so gut, weil sie dachten, dass sich die ägyptischen Arbeitskräfte auf diese Weise einen Vorteil verschaffen wollten.
Als Leitmonteur war ich für den reibungslosen Arbeitsablauf an meinem Arbeitsplatz verantwortlich und das schloss für mich auch einen kollegialen Umgang mit den ägyptischen Kollegen ein. Ich konnte mich auf ihre Arbeit nur dann verlassen, wenn ich sie als gleichwertige Arbeitskräfte behandelte und das funktionierte nur, wenn mir die Ägypter vertrauten und wussten, dass auch ich ihnen vertraute.
Mohammed war also für mich ein wichtiger Ansprechpartner.
Meinem Kollegen und Stubenkamerad Harald gefiel das allerdings gar nicht, und er entwickelte eine nicht zu begreifende Antipathie gegenüber Mohammed, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckte und fast in einer Tragödie geendet wäre.
Einen Tag vor meiner Heimreise war noch einmal großer Einkauf, das hieß – wir fuhren am Mittag nach Bagdad und kauften in aller Ruhe auf dem Basar ein, vor allem Obst und Gemüse, welches zu Hause unbekannt war.
In den letzten Wochen hatte ich schon so oft den Basar unsicher gemacht und sowohl Stoffe, Schmuck, Messingartikel, Gläser und verschiedene Kleidung für die Familie eingekauft, deshalb zog es mich an jenem Tag auf den Gewürzbasar, da ich als Hobbykoch auch gern einige ausgefallene Gewürze mit nach Hause nehmen wollte.
Wir fuhren mit unserem Coaster Bus bis zum Buskreisel und die meisten Kollegen strömten sofort dem Basar zu. Ich allerdings wählte eine andere Richtung und tauchte allein in das betriebsame Leben Bagdads ein.
Ich schlenderte über den mir lieb gewordenen Rashid bis zur Kalifenmoschee und atmete den unbeschreiblichen Duft des Orients ein, der an jener Stelle besonders ausgeprägt war, denn nur wenige Meter entfernt befand sich der Gewürz-Souq, übrigens der größte des Landes.
In einem unübersehbaren Gewirr aus Ständen und kleinen Läden boten die Händler dort ihre Waren an. Die Gewürze waren kunstvoll in Schalen platziert, zu Pyramiden aufgeschichtet oder auf lange Fäden gezogen und ihre Farben waren ebenso vielseitig wie die aromatischen Düfte.
Der Besuch dieses Basars war ein ganz besonderes Erlebnis für mich.
Die Gerüche, die auf mich einströmten, waren unbeschreiblich und außerordentlich vielfältig und stellten alles in den Schatten, was ich auf anderen Basaren an Düften wahrgenommen hatte. Außerdem war die Präsentation der Gewürze in den einzelnen Ständen sehenswert und schon fast mit Kunstwerken zu vergleichen. Jeder Maler hätte in dem Gewirr der Stände seine Freude und auch ich war von der Faszination des Souq inspiriert und machte viele Fotos. Zum Glück ließen sich die Händler gern und bereitwillig fotografieren, waren sie doch stolz auf ihre Waren und wussten, dass die Fotos jetzt in einem fernen Land gezeigt wurden.
Man handelte mit allen bekannten Gewürzen der Welt, das jedenfalls versicherte mir einer der Händler und angesichts der Vielfalt der Gewürze, hunderter Gefäße, Schalen Tüten und Kästchen Gewürzketten und Gewürzpyramiden, glaubte ich es ihm auch unbenommen.
Zum ersten Mal roch ich den betörenden Duft des Safrans, genoss das Aroma von Zimtstangen und Vanilleschoten, Nelken, Sternanis, Kardamom und auch all der mir unbekannten Gewürze.
Ich fragte den Händler, ob er wüsste, wie viele verschiedene Gewürze es auf diesem Basar gab, aber darauf konnte er mir keine Antwort geben. Er sagte mir jedoch, dass ich jedes erdenkliche Gewürz bei ihm kaufen könnte und wenn er es nicht vorrätig hätte, würde es ihm zur Ehre gereichen, es in kürzester Zeit für mich zu besorgen.
Für diesen Tag genügten mir allerdings ein paar mir bekannter Gewürze, doch vor allen anderen Gewürzen war ich wegen des berühmten Currys hier, der ganz frisch, auf Wunsch der Kunden zusammengestellt wurde. Ich wollte mich da jedoch lieber auf die Kenntnisse des Händlers verlassen und bat ihn, mir ein Curry zu komponieren. Sichtlich stolz über mein Vertrauen mischte er über zwanzig Gewürze zu einer grandiosen Komposition zusammen. Dann schüttete er die Gewürze in eine Mühle und beim Zerkleinern der Gewürzmischung strömte das herrlichste Aroma aus, das man sich vorstellen kann. Frisch gemahlen, schüttete der Händler das Currypulver dann in ein luftdichtes Gefäß.
Bei meinem Abschied wusste ich genau, dass ich den Gewürzsouq sicher noch oft besuchen würde.
Nach einem Bummel durch die Gassen der Kupfer-und Messingschmiede, der Goldhändler, und der Textilverkäufer zog es mich jedoch in das Lokal am Buskreisel, denn der Appetit auf ein Bier war durch die lange Enthaltsamkeit sehr groß. Beim Eintreten sah ich, dass bereits einige meiner Kollegen an den Tischen saßen und auf die Heimreise anstießen. Ich schloss mich diesem Prosit gern an.
Am nächsten Tag fand dann meine Heimreise statt.
Auf dem Vorplatz des Flughafens standen hunderte Passagiere und warteten auf die Abfertigung, aber was ich an jenem Abend zu sehen bekam, verschlug mir einfach die Sprache.
Da standen mehrere hundert Chinesen in blauen Arbeitsanzügen und mit Schirmmützen auf dem Kopf, artig wie Schulkinder in Zweierreihe, hintereinander aufgereiht, wie auf eine Perlenschnur.
Wir deutschen Monteure warteten im Pulk auf den Vorplatz aber mit so einer Unordnung konnte die irakische Flughafenbehörde natürlich nicht zufrieden sein.
Ein Sicherheitsbeamter des Flughafens ging durch unseren ungeordneten Haufen, laut „one by one, one by one“ rufend, was bedeutete, dass auch wir uns in Zweierreihe aufstellen mussten, um in den Flughafen eingelassen zu werden. Peinlich genau wurde überwacht, ob das auch klappte. Das war mir so zum letzten Mal in der Grundschule passiert.
In geordneter Formation durften wir nun also, Pärchen für Pärchen, in die Empfangshalle einrücken. Im Unterschied zur Grundschule, brauchten wir uns jedoch nicht an den Händen zu halten.
Soeben war die Maschine aus Berlin mit den deutschen Monteuren gelandet und nach der Betankung und einem technischen Check sollte uns die Maschine nach Hause bringen.
Nach einer angemessenen Wartungs- und Wartezeit hob der Düsenjet endlich ab und brachte uns nach Berlin.
Während des Fluges gab es ein alkoholisches Getränk nach Wunsch gratis, ein zweites oder weiteres gab es nur bei besonderen privaten Anlässen. Wenn man nicht die überteuerten Preise für zusätzliche Getränke berappen wollte, musste man sich schon etwas Intelligentes einfallen lassen, um noch einen zweiten oder dritten Drink zu schnorren.
Ich muss gestehen, dass ich während meiner Montagetätigkeit im Irak auf mehreren Flügen hintereinander Vater geworden bin.
Leider äußerte eine Stewardess, die sich wohl mein Gesicht gemerkt hatte, bald Zweifel an meinen Behauptungen. Weil in unserem Land keine arabischen Verhältnisse herrschten, bei denen ein Mann mehrere Frauen haben durfte, kaufte sie mir die häufige Vaterschaft bald nicht mehr ab.