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HERMANN, DER FEIGE HUND

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Wenn am Abend die größte Hitze vorbei war und sich die Temperatur unter 40° Celsius eingepegelt hatte, ging ich gern noch in unserer näheren Umgebung spazieren, um ein paar Eindrücke zu sammeln. Naturgemäß hatte kaum ein Kollege Lust, mich zu begleiten, die meisten waren froh, abends ihre Ruhe zu haben.

Richard war inzwischen ausgereist.

Aus diesem Grund hatte ich mich mit einem Hund angefreundet, der in unseren beiden Häusern lebte. Das Tier pendelte immer hin und her, je nachdem, wer Zeit für ihn hatte. Die Kollegen hatten ihm den Namen „Hermann“ gegeben, auf den er auch recht gut hörte. Hermann war ein Mischling, von der Größe eines Schäferhundes, hatte allerdings eine kleine Macke, er konnte keine Kinder leiden. Wahrscheinlich hatte er mit ihnen irgendwann schlechte Erfahrungen gemacht, denn die Kinder bewarfen die Hunde im Wohngebiet gern mit Steinen.

Hermann hörte recht gut auf meine Befehle und deshalb hatte ich kühn beschlossen, den Hund zu meinen Spaziergängen mitzunehmen, natürlich ohne Leinenzwang.

Eines Abends war ich einmal wieder mit Hermann unterwegs. Wir gingen eine ziemlich große Runde und machten an einem Straßenlokal Rast. Ich trank dort einen kühlen Saft und rauchte eine Zigarette, schaute den Jugendlichen beim Fußball spielen zu und machte ein paar Fotos von ihnen, Hermann wurde mit einer Schale Wasser zufriedengestellt. Inzwischen kannte man uns hier schon und ich unterhielt mich mit englischen Vokabeln und viel Handarbeit mit den Jugendlichen und dem Mann hinter der Theke. Anschließend setzten wir wie immer unsere Runde fort. So auch dieses Mal, aber es sollte nicht enden wie sonst.

Als wir ein Stück gegangen waren, kam uns ein etwa zehnjähriger Junge entgegen gelaufen.

Er hüpfte lustig von einem Bein auf das andere und nahm uns beide gar nicht wahr. Als er nur noch wenige Meter von uns entfernt war, bemerkte der Junge zunächst mich und sogleich auch den Hund und machte nun einen folgenschweren Fehler. Er sprang zur Seite und lief fort. Hermann, der nicht angeleint war, sprang natürlich in langen Sätzen hinterher, laufen konnte der nämlich auch sehr gut. Er sah das Ganze wohl für einen sportlichen Wettkampf an. Der Junge lief im Zickzack und wollte über die Straße fliehen, aber er schaffte es nicht mehr, denn von hinten kam ein Bus angefahren, der den Kleinen erfasste. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Junge einige Meter durch die Luft geschleudert und blieb schließlich an der Seite liegen.

Hermann zog es sofort vor, sich zu verdrücken, aber ich stand wie gelähmt auf der Stelle und wollte den Jungen natürlich nicht seinem Schicksal überlassen, ohne zu helfen, doch meine Sorge um den Jungen wäre mir um ein Haar zum Verhängnis geworden.

Der Bus hielt an, die Türen öffneten sich und sofort schloss sich ein Ring von Menschen um mich.

Ich hatte bereits ein paar Mal gehört, was mit Ausländern passiert war, wenn bei Unfällen Kinder in Mitleidenschaft gezogen wurden. Und auch bei mir begann die Situation bald zu eskalieren. Abgesehen vom kreischenden Geschrei der Frauen und von den Drohgebärden der Männer, bestand zunächst keine direkte Gefahr, doch schon bald putschte sich die Masse gegenseitig auf, die Frauen stießen mich in die Seite und die Männer zogen und schubsten an mir herum und verpassten mir den einen oder anderen Faustschlag.

Glücklicherweise schlug der Junge seine Augen bald wieder auf, wurde von den Leuten abgetastet, und als er aufstehen konnte und fortlief, öffnete sich der Ring um mich und man ließ mich schließlich mit einigen Knüffen und Tritten ebenfalls ziehen.

Ich war schwer gedemütigt, weil ich die Prügel ohne mich zu wehren entgegen nehmen musste, doch mich gegen den aufgebrachten Mob zu wehren, wäre wohl mein Untergang gewesen. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was die Leute mit mir gemacht hätten, wenn dem Jungen etwas Schlimmeres passiert wäre.

Nachdenklich ging ich nach Hause und fühlte mich im doppelten Sinn angeschlagen, außerdem war mir der Schreck gehörig in die Glieder gefahren. Hermann war weit und breit nicht zu sehen, wahrscheinlich hatte er ein schlechtes Gewissen und lag hinter einer schützenden Hausecke, der feige Hund.

Am nächsten Tag blieb ich nach der Arbeit zu Hause und verbrachte den Abend auf unserer Dachterrasse, das war ungefährlicher.

Auf der Terrasse gegenüber saß ein junges Mädchen, von vielleicht siebzehn Jahren, das offenbar für die Schule lernte, denn sie las in einem Buch, dass sie von Zeit zu Zeit senkte und dann vor sich her sprach. Ich hatte dieses Mädchen schon ein paar Mal auf der Dachterrasse gesehen und stellte an jenem Nachmittag fest, dass auch sie mich beobachtete. Sie tat so, als lese sie in ihrem Buch, aber ich bemerkte, dass sie über den Buchrand hinweg schaute und als sie sich ertappt sah, lächelte sie schüchtern.

Ich winkte ihr heimlich zu, da stand sie auf und ging ein paar Meter zur Seite, bis sie durch eine Mauer vor den Blicken der Nachbarn geschützt war. Dann winkte sie zaghaft zurück und warf mir ein paar Küsschen zu. Ich dachte, ich hätte Halluzinationen. Einem Mann ein Küsschen zuzuwerfen war für ein irakisches Mädchen mehr als gewagt, einem ausländischen dazu noch viel verwegener.

Das hatte sie sicher in einem europäischen oder amerikanischen Film gesehen.

So schäkerten wir einige Tage, bis ich ihr plötzlich, nach einem abendlichen Spaziergang, vor ihrem Haus am mit Hecken bewachsenen Gartenweg begegnete. Ich schaute mich kurz um, ob wir unbeobachtet waren, und lud sie ins Kino ein. Sie errötete und war völlig verlegen, sagte aber „maybe“- vielleicht.

Leider waren wir aber doch nicht ganz unbeobachtet, denn ihr Bruder, ein Bürschchen von etwa zehn bis zwölf Jahren, erlauschte unser kurzes Gespräch aus sicherem Versteck.

Als ich nämlich am anderen Abend wieder am Haus vorbei ging, schaute das Mädchen durch die Scheibe eines Fensters der oberen Etage und auf mein Zeichen, nach unten vor das Haus zu kommen, schüttelte sie ihren Kopf und bedeutete mir mit einer Geste, indem sie die flache Hand auf ihre Wange legte, dass sie am vorigen Abend Ohrfeigen bekommen hatte, wohl weil ihr Bruder sie verpetzte. Ich ging dann die paar Schritte nach Hause und schrieb einige Zeilen an sie. Anschließend näherte ich mich wieder ihrem Haus und zeigte ihr, wohin ich den Zettel legte. Ich selbst ging dann weiter, beobachtete aber, ob das Mädchen den Zettel aufhob.

Sie kam tatsächlich aus dem Haus und wollte das Papier aufheben, jedoch in jenem Moment, als sie sich danach bückte, sprang ihr Bruder aus dem Gebüsch, stürzte sich auf den Zettel und lief davon. Es war nur eine simple Kinoeinladung, aber für ein arabisches Mädchen war das völlig unmöglich. Hätte ich mich nicht erst einige Wochen in diesem Land aufgehalten, dann wäre mir das bekannt gewesen.

Ein paar Tage sah ich das Mädchen dann nicht mehr, aber irgendwann stand sie wieder in ihrem Gartenweg und winkte mir heimlich zu. Das ermutigte mich, aus dem Haus zu gehen. Ich schlenderte in ihre Richtung und als ich ein paar Meter von ihr entfernt war, ging sie einige Schritte zurück, streckte ihre Hand aus und machte eine Handbewegung, die mir bedeutete, dass ich ihr folgen sollte.

Jedenfalls legte ich ihre Handbewegung so aus, denn ich wusste bis dahin nicht, dass eben diese Handbewegung im Irak genau das Gegenteil von dem bedeutete, was wir in Deutschland darunter verstehen.

Ich folgte dem Mädchen also, die eilig im Haus verschwand und durch das Fenster die gleiche Bewegung machte. Als ich dann verwundert im Haus stand und das Mädchen nicht mehr zu sehen war, überlegte ich kurz, ob ich wohl die Treppe hinaufgehen und nachsehen sollte, wohin sie verschwunden war. Der Umstand, dass ich es nicht tat, rettete mir höchstwahrscheinlich das Leben, denn irgendetwas in meinem Unterbewusstsein sagte mir, dass ich mich schleunigst zurückziehen sollte.

Ich hatte ein äußerst ungutes Gefühl und verließ das Haus – keine Minute zu früh.

In dem Moment nämlich, als ich aus dem Gartenweg auf die Straße trat, bog ein Pickup um die Ecke, den ich als den Wagen ihres Vaters erkannte. Der Mann hatte irgendwo in Bagdad ein Elektrowarengeschäft und kam normalerweise immer sehr spät nach Hause, an jenem Tag aber war das anders. Ich war mir nicht sicher, ob er gesehen hatte, woher ich soeben gekommen war. Auf alle Fälle sah ich zu, so schnell wie möglich unser Haus zu erreichen.

Auf dem Weg dorthin hatte ich ständig die Befürchtung, in jedem Moment einen schlanken Stahl zwischen meinen Schulterblättern zu spüren.

Endlich hatte ich unser Haus erreicht, schlüpfte durch das Gartentor und schloss es hinter mir. Nun fühlte ich mich sicherer, trotzdem konnte ich ein inneres Beben nicht verhindern.

Ich ging auf die Dachterrasse, auf der sich bereits einige Kollegen befanden und den Feierabend genossen. Ihr spöttisches Grinsen übersah ich großzügig, suchte mir einen Platz an der Brüstung, schaute auf die Gärten der Nachbarhäuser und versuchte cool zu wirken.

Ein paar Minuten später machten mich die Kollegen allerdings auf das drohende Unheil aufmerksam, dass sich unaufhaltsam unter mir zusammenbraute, denn sie hatten die Ereignisse auf der Straße schon längere Zeit beobachtet und sich köstlich darüber amüsiert.

Nun wurde es jedoch brenzlig.

Der Vater des Mädchens kam nämlich laut schimpfend die Straße entlang, im Schlepptau den Bruder des Mädchens. Diese Tatsache allein war bereits einigermaßen besorgniserregend, doch was mich außerordentlich beunruhigte, war der Gegenstand, den er in seiner rechten Hand trug.

Es handelte sich dabei nämlich um einen Karabiner, den er wild schwenkte. Als der Junge mit dem Finger auf mich zeigte, war im Nu unsere Dachterrasse leer.

Ich wollte mir allerdings keine Blöße geben und blieb vorerst an der Brüstung stehen.

Inzwischen war der Mann mit dem Karabiner direkt unterhalb von mir angekommen und rief Beschimpfungen zu mir herauf, die ich zwar nicht verstand, jedoch konnte ich seinen Unmut begreifen. Vielleicht war es taktisch unklug, ihm dabei direkt ins Gesicht zu schauen, denn plötzlich riss er den Karabiner hoch und legte auf mich an. Nun wurde es mir doch äußerst mulmig und ich wollte den Bogen nicht überspannen. Deshalb trat ich aufgesetzt lässig von der Brüstung zurück, doch als ich außer Reichweite des Karabiners war, konnte ich das Zittern meiner Knie nicht mehr unterdrücken.

Da ich erst kurz in diesem Land lebte, war mir nicht bewusst, dass ich in den Augen des Vaters gegen die „Schariah“, das islamische Gesetz, verstoßen hatte. Ein Gesetz, das unter anderem besagt, dass sich kein abendländischer Mann ungestraft einer Araberin nähern dürfe.

Allerdings lernte ich die islamischen Sitten und die arabische Tradition erst allmählich kennen und akzeptierte sie natürlich.

Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was mir passiert wäre, wenn das Mädchen meine Einladung angenommen hätte und ich mit ihr nach Bagdad in das Kino gefahren wäre.

In den folgenden Tagen ging ich vorsichtshalber nach der Arbeit nicht mehr vor unser Haus und ich sah auch das Mädchen nicht mehr auf der Dachterrasse. Ich stieß unzählige Stoßgebete aus, dass dieser Zyklus ohne Folgen enden möge.

Glücklicherweise konnte ich diesen Abschnitt wenige Tage später tatsächlich unversehrt beenden, denn ich wurde auf eine neue Baustelle umgesetzt.

Diese Baustelle befand sich etwa sechzig Kilometer westlich von Bagdad, in der Nähe von Falludscha, zwanzig Kilometer tief in der Wüste, direkt in einer Armeegarnison – beruhigend weit entfernt von dem aufgebrachten Vater des Mädchens.

Nicht weniger beunruhigend war jedoch die Tatsache, dass mir einige Kollegen glaubhaft versicherten, dass es auf jener Baustelle vor Schlangen, Spinnen und Skorpionen nur so wimmeln sollte – Tiere, die auf meiner Agenda ganz weit hinten standen, um mit ihnen Bekanntschaft zu schließen.

Das Risiko, einigen Artgenossen von ihnen zu begegnen, erschien mir dann doch zu hoch und ich nahm mir fest vor, nach dem Ende meines zehnwöchigen Aufenthalts nicht mehr in den Irak einzureisen, falls sich diese Behauptungen bestätigen sollten.

Im Paradies des Teufels

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