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DIE ZEIT DES RAMADAN

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Am 20. August begann der Ramadan, der dreißigtägige Fastenmonat der Moslems, für unsere ägyptischen Arbeitskräfte eine sehr harte Zeit, denn die Leistungsfähigkeit der Arbeiter tendierte dann schon um zwölf Uhr mittags nahe Null. Somit war der Ramadan auch für uns ein Härtefall.

Der Ramadan wird von den Moslems nach ihrem Mondkalender gefeiert. Er findet regelmäßig im Monat Dhu-I-Hiddscha statt und weicht von einem Jahr zum anderen meist um elf Tage ab.

Früh morgens kamen die Ägypter mopsfidel zur Arbeit, jedoch ein paar Stunden später stellten sich mit der Hitze auch der Durst und die Erschöpfung ein.

Auf meiner Hebebühne arbeitete ich mit Mahdi, einem sympathischen jungen Ägypter, an der Außenfassade der Hallen in einigen Metern Höhe. Gegen neun Uhr flehte er bereits das erste Mal: „Please Mr. Peter, down, down.“ Also fuhr ich die Bühne herunter, damit er sich erst einmal ein paar Minuten in den Hallenschatten setzen konnte.

Inzwischen nahm ich ein Kaltgetränk zu mir, denn auch an mir ging die Hitze nicht spurlos vorüber.

Zehn Minuten später arbeiteten wir weiter.

Um neun Uhr dreißig war dann unser reguläres Frühstück und obwohl die Ägypter nichts aßen, sehnten sie die Pause mehr herbei als wir.

Sofort lagen alle ägyptischen Arbeitskräfte in den Hallen, bis es nach dem Frühstück wieder an die Arbeit ging.

Nicht einmal eine Stunde später flehte Mahdi bereits wieder: „Please, down, Mr. Peter!“ Also fuhren wir wieder hinunter. Bis Mittag wiederholte sich das noch zweimal.

Bei allem Verständnis für den islamischen Glauben unserer ägyptischen Arbeiter war ich doch einigermaßen sauer, dass uns durch den Ramadan täglich einige Stunden Arbeitszeit verloren gingen, aber die Oberbauleitung hatte uns im Vorfeld ja bereits auf die Problematik eingestellt und tolerierte es, dass währen dieser Zeit die Leistungen nicht das normale Niveau erreichten.

Nach dem Mittagessen konnte man mit den Ägyptern gar nichts mehr anfangen, da schleppten sie sich nur noch über die Baustelle, doch noch drückte ich ein Auge zu, denn für mich war diese Situation ja neu und schließlich befand ich mich als Christ in einem islamischen Land.

Unsere Wasserpausen, die gewöhnlich nur zehn Minuten dauerten und in denen wir uns im klimatisierten Bauwagen erholten, nutzten die Ägypter sofort, um sich in die Hallenecken zu legen.

Nach dem Feierabend taumelten sie dann zum Bus und nach der kurzen Fahrt in das Camp kämpften sie sich mehr schlecht als recht in ihre Unterkünfte.

Bis zum Sonnenuntergang hörte und sah man dann von ihnen nichts mehr. Doch wenn die Sonne untergegangen war, wurde es lebhaft. Dann hörte man Töpfe klappern, Gesänge und Lachen – und das bis in die späte Nacht hinein.

Nun holten die Ägypter alle vernachlässigten Dinge des Tages nach und über Stunden hinweg wurde gegessen und getrunken, dann blieben allerdings nur noch wenige Stunden für den Schlaf übrig. Doch am anderen Morgen rückten die Männer vergnügt und mit prallen Bäuchen wieder zur Arbeit an und dann wiederholte sich der Ablauf des vergangenen Tages.

Am Morgen des zweiundzwanzigsten August fuhr ein Trailer auf unsere Baustelle, der mit Hebebühnen beladen war. Da meine Hebebühne manchmal stark ruckelte, sollte sie vorsorglich ausgetauscht werden. Als die Ersatzbühne mit einem Kran auf meine Trägerschienen gehoben wurde, fiel mir auf, dass sich in der dreieckigen Zahnstange, die die Plattform nach oben und unten transportierte, mehrere Einschusslöcher befanden und dass die Plattform mit kleinen Blechen überschweißt war.

Ich fragte den Lkw-Fahrer, was mit der Bühne passiert sei, und was er mir berichtete, war überhaupt nicht spaßig.

Die gesamte Ladung stammte von einer Baustelle in Basra, die von der iranischen Armee mit Raketen und Flak beschossen worden war. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auch unsere Monteure auf dieser Baustelle, aber wie ein Wunder gab es keine Toten.

Der einzige zu beklagende Verlust war ein abgeschossener Finger eines Kollegen, der sich auf dieser Hebebühne befand und der es nicht schnell genug geschafft hatte, mit der Bühne nach unten zu fahren, um sich in Sicherheit zu bringen. Beim Herabfahren der Bühne traf ihn ein Granatsplitter und riss ihm den kleinen Finger der rechten Hand ab.

Das mag zwar schmerzvoll gewesen sein, aber er war am Leben und das war das Wichtigste.

Alle Kollegen dieser Baustelle konnten zum Glück mit sämtlichen Fahrzeugen von diesem Ort fliehen, ehe der große Angriff losbrach und die gesamte Baustelle in Schutt und Asche gelegt wurde.

Der Schaden war so groß, dass die Hallen nicht mehr aufgebaut werden konnten und die Baustelle somit aufgegeben werden musste.

Immer, wenn ich in den nächsten Tagen die Hebebühne betrat, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, doch schon ein paar Minuten später musste ich mich auf meine Arbeit konzentrieren.

Als wir gerade ein Blech an das Fenster anpassen wollten, sah ich Mutawa in einer Hallenecke liegen und ein Schläfchen machen.

Ich rief durch das Hallenfenster nach ihm: „Mutawa, shaku? Yellah, dale henna“, was übersetzt heißt: „Mutawa, was ist los? Komm mal her, aber beeile dich.“ Langsam schob er sich in die Höhe und kam zu mir herüber getrottet. Ich sagte zu ihm: „Schuf hassa sibelle e chadit“, oder übersetzt: „Sammele Müll und Eisen zusammen.“

Das war zwar eine Arbeit, die meist zum Feierabend erledigt wurde oder bei Leerlauf auf der Baustelle, aber die Arbeit war nicht schwer und wurde von den Ägyptern gern gemacht. Mutawa konnte sich bei dieser Arbeit in der Nähe der Hallen aufhalten, um ab und zu einmal in den Schatten zu gehen.

Als ich vom Mittagessen zurückkam, war Mutawa aber nirgendwo zu entdecken und so stiegen Mahdi und ich wieder auf die Hebebühne. Wir nahmen unsere Bleche, die Bohrmaschine und die Schrauben und begannen zu arbeiten. Durch das Fenster der Halle sah ich in der Ecke eine Plane liegen, die vor dem Mittagessen noch nicht dort gelegen hatte. Da kam mir ein Verdacht und ich beschloss, in der nächsten Wasserpause nachzusehen.

Später stieg ich von der Hebebühne, ging zur Plane und hob sie an. Es war natürlich genauso, wie ich es vermutet hatte. Mutawa lag unter der Plane und schlief den Schlaf des Gerechten und zwar so tief, als läge er im Koma. Was ich auch unternahm, ich bekam ihn nicht wach. Rütteln half ebenso wenig wie ihn ansprechen. Das erstaunte mich ungemein, denn immerhin hatte er seinen Brustbeutel bei sich, in dem er sein gesamtes, im Irak gespartes Geld mit sich herum trug und auf den er sonst aufpasste, wie ein Geier auf seine Beute.

Als ich merkte, dass ich ihn nicht wach bekam, ließ ich ihn weiter schlafen und nahm mir vor, am Abend mit Mohammed darüber zu sprechen. Ich deckte die Plane wieder über Mutawa, damit ihn nicht gar noch der Bauleiter entdeckte, denn das wäre dann eventuell Mutawas letzter Arbeitstag gewesen.

Wenige Tage später stand Mutawa wie so oft in einer Hallenecke und zählte sein Geld. Zuvor hatte er sich vorsorglich überzeugt, nicht beobachtet zu werden.

Da er bekanntlich sehr kurzsichtig war, konnte er natürlich nicht ahnen, dass ich ihn von der Rüstung aus beobachtete.

Ich konnte einfach nicht begreifen, dass er sein Geld nicht einer Bank anvertraute, hoffentlich bereute er es nicht eines Tages.

Immer, wenn ich während unserer Arbeit eine Wasserpause einlegte, lief mein ägyptischer Mitarbeiter Mahdi nicht etwa in den Schatten, um sich, wie seine anderen Kollegen, ein wenig zu akklimatisieren, sondern zu einem Wasserfass, das neben unserer Hebebühne stand. Er tauchte seinen Kopf tief in dieses Fass hinein, um ihn zu kühlen, wie er mir sagte. Ich hatte jedoch den nicht unbegründeten Verdacht, dass er dann gar ein paar kräftige Züge trank, weil Allah nicht so tief in das Fass schauen konnte.

Nach dem Frühstück kam wieder das Zeichen von ihm, dass ich die Bühne herunterfahren sollte, bis Mittag dann noch zwei Mal, da endlich riss mir der Geduldsfaden.

Ich sagte ihm, dass ich seinen Glauben akzeptieren würde, aber wir es uns selbst bei der extremen Hitze nicht erlauben könnten, vier Wochen lang nur einige Stunden am Tag zu arbeiten.

Als Monteur hatte er die Möglichkeit, den Ramadan zu einem geeigneteren Zeitpunkt durchzuführen, das stand im Koran zu lesen. Reisende durften den Ramadan aussetzen und unsere ägyptischen Kollegen konnten sich durchaus als Reisende bezeichnen.

Mahdi schaute mich an, überlegte eine Weile und stürzte dann los, in Richtung Ausgang der Baustelle.

Ich dachte noch: „Er wird doch nicht zu Fuß in das Camp laufen wollen?“, da schwenkte er bereits in Richtung unseres Bauwagens ein und stürmte hinein.

Ich lief ihm natürlich hinterher, denn eigentlich hatten die Ägypter zu unseren Bauwagen keinen Zutritt. Ich kam gerade dazu, wie er sich ein Selterswasser aus dem Kühlschrank nahm, und es hastig öffnete.

Er trank gierig ein paar tiefe Züge, ehe ihm vor Ekel und Entsetzen fast die Augen aus den Höhlen traten und er die Selters im hohen Bogen aus dem Bauwagen spuckte. Er sah mich ganz erschrocken an und sprudelte aufgeregt hervor, dass unsere Limonade verdorben ist.

Ich erwiderte ihm, dass er gar keine Limonade getrunken hatte, wie er dachte, sondern simples Wasser, versetzt mit Kohlensäure.

Er hatte ganz einfach die Seven Up-Limonade mit dem Wasser verwechselt, weil sich beide Flaschen stark ähnelten.

Angewidert goss Mahdy den Rest der Flasche aus und bat mich, ihm eine Limonade zu geben.

Da ich wusste, dass es die Araber gern süß mögen, gab ich ihm eine Flasche unserer sogenannten „Möhre“, die er in einem Zug leerte. Wortlos reichte ich ihm eine zweite Flasche und auch die wurde gierig hinuntergestürzt. Als er dann getrunken hatte, meldete sich sein schlechtes Gewissen Allah gegenüber und es bedurfte einiger Redekunst, um ihn von der Notwendigkeit des Trinkens bei der Arbeit zu überzeugen.

Nach dem Feierabend suchte ich Mohammed auf, der mich wie immer sehr freundlich begrüßte.

Seitdem unsere Baustellen in einiger Entfernung auseinander lagen, sahen wir uns nicht mehr so häufig. Umso mehr freute er sich, dass ich ihn besuchen kam.

Da es auch von den anderen deutschen Monteuren Beschwerden gab, nahm die Sache sogar noch eine offizielle Wendung.

Mohammed saß auf einem Hocker mit einer Zigarette in der einen und einem Glas Tee in der anderen Hand.

Ich sprach ihn auf den Tee und die Zigarette an und sagte, dass die Sonne doch noch gar nicht untergegangen sei, aber er winkte nur ab und sagte, dass Allah ihn in seinem Leben bereits genug gestraft hatte. Wahrscheinlich hätte er ihn sogar vergessen. Außerdem sagt die Schariah, dass Reisende im Monat des Ramadan vom Fasten ausgenommen waren und er betrachtete sich in diesem Land als „Reisender“.

Das deckte sich mit meiner Meinung und kam meinem Anliegen sehr entgegen. Ich sagte Mohamed, dass die Leistung der Ägypter ziemlich am Boden war, aber das hatte er ja wohl sicher schon selbst bemerkt. Er schaute mich ernst an, nickte leicht und ging in die Unterkunft, um seine Kollegen auf den Platz heraus zu bitten. Dann hielt er eine kurze Ansprache, nach der es einigen Tumult gab, aber letztendlich sahen die meisten Ägypter die Notwendigkeit ein, die „Saum“ außer Kraft zu setzen.

Als die ägyptischen Arbeiter wieder in ihre Behausungen gingen, setzte ich mich zu Mohammed, bot ihm eine Zigarette an und fragte ihn, ob er mir etwas über die strengen Regeln des Islam erzählen könne. In seiner gewohnt ruhigen Art klärte er mich über diese Regeln auf.

Der Islam baut sich auf fünf Säulen auf. Jede Säule für sich ist für den Muslim wichtig, aber erst die Einhaltung aller Säulen zeichnet einen guten Moslem aus.

Die erste Säule des Islam ist das Glaubensbekenntnis und wird arabisch gebetet, denn es gilt nur für Araber. Das Gebet beinhaltet zugleich die unbedingte Treue und Unterwerfung und die Einhaltung aller Gebote Allahs.

Die zweite Säule des Islam ist das Pflichtgebet die „Sallah“, welches fünf Mal am Tag nach einem festen Ritual durchgeführt werden muss, um die Gläubigen stets an die Allmächtigkeit Allahs zu erinnern.

Morgens kurz, mittags, nachmittags und abends länger und am späten Abend muss ausführlich gebetet werden. Dabei geht eine gründliche Waschung der Hände, der Füße und des Gesichtes voraus. Dann wird mit dem Kopf nach Osten, in Richtung Mekka gebetet. Versäumte Gebete müssen nachgeholt werden, etwa bei Krankheit oder sogar, wenn man verschlafen hat. Gebetet wird immer dasselbe Gebet mit dem gleichen Inhalt. In den Städten werden die Muslime über Lautsprecher von einem Muezzin zum Gebet gerufen. Das Freitagsgebet, auch „Cuma Sallah“ genannt, das nur von Männern besucht werden darf, ist das ausführlichste Gebet der Woche mit Pflichtgebeten und mit einer anschließenden Predigt über Alltagsprobleme, Politik oder andere aktuelle Geschehnisse.

Die dritte Säule ist die Almosensteuer oder auch „Zakat“ genannt, die von jedem Muslim einmal im Jahr entrichtet werden muss.

Diese Steuer kommt unverschuldet verarmten, gläubigen Moslems zu Gute.

Die vierte Säule nun ist das Fasten oder auch die „Saum“ im Monat Ramadan, dem neunten Monat im islamischen Kalender.

Dabei darf von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nicht gegessen und getrunken werden, das Rauchen ist ebenso verboten wie die geschlechtliche Liebe oder andere Genüsse, die Leib und Seele erquicken.

In der „Saum“ soll die Fähigkeit gefestigt werden, Stärke, Geduld und Willen zu stärken, sowie Geist und Körper zu reinigen.

Morgens vor Sonnenaufgang soll noch einmal eine leichte Mahlzeit eingenommen werden, dann erst wieder, wenn die Sonne untergegangen ist.

Die fünfte Säule ist die „Hadsch“ nach Mekka.

Das ist eine Pilgerfahrt zur „Kaaba“, einem uralten vorislamischen Heiligtum in Saudi Arabien. Die Feiern der Haddsch beginnen am achten Tag des Monats Dhu-I-Haddsch.

Sie muss außerdem mit besonderer Pilgerkleidung bis zum zwölften Tag des Monats auf verschiedenen beschwerlichen Reisewegen absolviert werden.

In Mekka angekommen, muss die Kaaba von den Gläubigen schließlich dreimal umrundet werden.

Die Legende sagt, dass die Kaaba einst vom Propheten Mohammed errichtet wurde.

Jeder Muslim nimmt an dem sieben Tage dauernden Zeremoniell und an verschiedenen anderen Ritualen teil.

Nach erfolgreichem Abschluss der „Hadsch“ darf der Pilger sich „Hadschi“ nennen und als solcher auch mit diesem Titel angesprochen werden.

Da die Hadsch sehr anstrengend ist, gibt es in jedem Jahr zahlreiche Todesfälle. Die Männer sterben entweder aus Entkräftung oder bekommen vor Aufregung einen Herzschlag, ist die Hadsch doch für die meisten Muslime eine Einmaligkeit in ihrem Leben.

Mitunter kommt es aber auch zu panikartigen Tumulten, bei denen zahlreiche Pilger von den übrigen Gläubigen totgetrampelt wurden. Zuletzt geschehen am dritten Tag der Haddsch, als am vierundzwanzigsten September 2015 bei einer Massenpanik in Mina nahe Mekka über zweitausend tote Pilger zu beklagen waren. Verschiedene Berichte gehen allerdings von über viertausend Toten aus und das wird sicher auch der Realität nahe kommen.

Ausgeschlossen von der jährlich wiederkehrenden „Saum“ sind schwangere oder menstruierende Frauen, Reisende, Kranke und Kinder. Menstruierende Frauen und Reisende müssen die Saum allerdings bei passender Gelegenheit nachholen.

Durch den Mondkalender, der kürzer als der Sonnenkalender ist, verschiebt sich der Ramadan jedes Jahr um einige Tage, es sei denn, dass es von den Imamen anders festgelegt wird.

Der arabische Kalender ist durch seine Sonnen-und Mondjahre recht kompliziert zu errechnen. Wenn zum Beispiel in Europa für den Beginn meiner Erlebnisse das Jahr 1982 galt, zählte für den arabischen Kalender das Jahr 1402. Diese Zeitrechnung begann am fünfzehnten Juli 622, an dem Tag, als Mohammed mit seinem Gefolge von Mekka nach Medina auswanderte.

Kalif Umar führte die islamische Zeitrechnung im Jahre 638 ein und diese Zeitrechnung wird in vielen arabischen Ländern tatsächlich noch heute verwendet.

Seit der jüngeren Vergangenheit wird auch immer öfter von einer sechsten Säule gesprochen. Es ist die Säule der Verteidigung des Islam, welches als heilige Aufgabe bezeichnet wird. Diese Verteidigung wird „Dschihad“ oder auch „der Heilige Krieg“ genannt. Die Verfechter des „Dschihad“ sind meist Extremisten, die auch vor dem brutalsten Terror nicht zurückschrecken. Selbstmordattentate öffnen ihnen das Tor zum Paradies und sie werden „Dsahid“, „Mudschaheddin“ oder „Märtyrer“ genannt.

In den Bergen Iraks formierte sich eine richtige Armee, die sich aus „Mudschaheddin“ rekrutierte, was übersetzt „Glaubenskämpfer des Volkes“ heißt. Diese Armee bestand aus den extremsten, leider auch verblendetsten, Moslems. Und es gab auch radikale Frauenbataillone, die es an Mut, Kampfeswillen und Entschlossenheit mit jedem Männerbataillon aufnehmen konnten.

In der Neuzeit, genauer gesagt im Jahr 2003, hatte sich jedoch eine Organisation gebildet, die an Brutalität und Menschenverachtung nicht zu übertreffen ist.

Die Führungsspitze besteht aus ehemaligen Geheimdienstoffizieren der ehemaligen irakischen Armee, die sich zunächst in Falludscha niedergelassen hatten und überall auf der Welt Gleichgesinnte rekrutieren, um mit Bombenanschlägen, Terrorakten und der Beteiligung an Bürgerkriegen ein sogenanntes Kalifat zu errichten.

Die Terroristen konnten riesige Gebiete im Irak und in Syrien erobern, ebenso kleinere Gebiete in Libyen.

Die Organisation nannte sich ISIS, was bedeutet „Islamischer Staat in Irak und Syrien“, später nur noch IS. Einer ihrer wichtigsten Stützpunkte befand sich, wie bereits angemerkt in Falludscha, im Gouvernement Ramadi.

Nach der Eroberung zusammenhängender Teile Iraks und Syriens rief diese Organisation am neunundzwanzigsten Juni 2014 einen als Kalifat genannten Staat aus.

Ihr Anführer, der sich „Kalif“ nennt, beansprucht demzufolge für sich die Nachfolge Mohammeds als politisches und religiöses Oberhaupt aller Muslime.

Der IS wird von superreichen religiösen Verbänden und ebenso reichen Fanatikern aus Saudi Arabien, Katar und sogar aus den Arabischen Emiraten und Kuwait finanziert. Weitere Finanzierungen setzen sich aus geraubten Kunstschätzen und dem verkauften Öl aus eroberten Ölfeldern zusammen.

Ein nicht zu unterschätzender Betrag wird auch durch Lösegelder nach Geiselnahmen erzielt.

Ihren Ursprung nahm diese Gruppierung im irakischen Widerstand, als sie sich zu der ebenfalls terroristischen Gruppe „Al Quaida“ bekannte, mit der sie jedoch seit dem Jahr 2013 in deutlicher Konkurrenz steht. Ihr Anspruch auf einen eigenen Staat leitet sich daraus hervor, dass die Sunniten, anders als die Schiiten im Süden Iraks, noch nicht über ein eigenes Staatswesen verfügten, sondern unter Fremdherrschaft leben mussten.

Wichtigste politische Ziele des IS waren und sind noch immer die Vertreibung aller „Invasoren“ und „Aggressoren“ aus dem Irak und Syrien und die Schaffung von „Ordnung und Sicherheit“ durch die wörtliche Umsetzung der „Scharia“.

Gemeint ist die Errichtung eines gesamten Kalifats, das die Moslems der entsprechenden Gebiete in das Mittelalter zurück katapultieren würde.

Nach diesem Exkurs in die Gegenwart möchte ich wieder zur bestehenden Handlung zurückkehren.

Ich verabschiedete mich nach dem aufschlussreichen Gespräch schließlich von Mohammed und war gespannt, ob die Ansprache an die ägyptischen Kollegen Wirkung zeigen würde.

Tatsächlich brachte sich am nächsten Tag der überwiegende Teil der Ägypter Speisen und Getränke mit zur Baustelle, aber einige Leute eben doch nicht, unter ihnen war auch Mutawa.

Dass dies nicht gutgehen konnte, war mir klar, denn wie immer versuchte sich Mutawa, heimlich zu verdrücken.

Das musste irgendwann einmal auffallen und konnte nicht ewig unentdeckt bleiben. Doch es kam ganz anders, als ich es erwartet hätte, denn nach zwei, drei Tagen kamen Mohammed und Mutawa nach dem Feierabend zu unserem Bauleiter und baten um ein Gespräch.

Weil der Bauleiter weder des Englischen und erst recht nicht des Arabischen mächtig war, kamen die Männer zu Harald und mir in das Zimmer und baten uns zu dolmetschen.

Da Harald auf Mohammed nicht gut zu sprechen war, erwies sich die Situation als ziemlich angespannt.

Ehe jedoch Mohammed zum Bauleiter auf Englisch sprechen konnte, sprudelte Mutawa auf Arabisch los und ich fing diesen Satz auf: „Mutawa aku kulu Mushkyle. Schams kullu aku, Ramadan maku äschrop Aqua, maku akel.“ Im Grunde brauchte Mohammed das gar nicht ins Englische übersetzen, denn in deutscher Sprache hieß das: „Mutawa hat große Probleme, die Sonne ist sehr heiß und während des Ramadan darf er kein Wasser trinken und nichts essen.“

Es stellte sich im Folgenden heraus, dass Mutawa kündigen wolle, weil er zurück nach Ägypten möchte, da dort nicht so wahnsinnig heiße Temperaturen herrschen. Außerdem war Mutawa schon über zwei Jahre im Irak, allein ein Jahr in unserer Firma, und er war während dieser Zeit nur ein einziges Mal zu Hause bei seiner Familie.

Sein Sohn Ali wollte jedoch bleiben, auch wenn sein Vater nach Hause fahren sollte. Soviel Geld, wie er im Irak verdiente, konnte er zu Hause nicht in der dreifachen Zeit verdienen und so lange wir ihn behalten wollten, wollte er auch bleiben.

Die Lücke, die Mutawa bei seinem Ausscheiden in der Firma reißen würde, wäre überschaubar, denn Großtaten hatte er nicht vollbracht. Er war sich allerdings nie zu schade gewesen, Arbeiten zu verrichten, bei denen sich andere ägyptische Arbeiter gesträubt hätten. Außerdem war er in seiner kindlichen Einfalt und Gutmütigkeit ein gut zu leidender Mann, so dass es mir schon ein wenig leid tat, dass er gehen wollte.

Wir hatten schon gern mal ein Späßchen auf Mutawas Kosten gemacht und er hatte uns das nie übel genommen.

Nun wollte er uns verlassen und ich wünschte ihm alles Gute.

Am nächsten Morgen erschien er dann auch nicht mehr zur Arbeit, sondern fuhr in die Verwaltung unserer Firma nach Bagdad.

Umso mehr wunderte ich mich, als er einen weiteren Tag später gemeinsam mit den anderen Ägyptern wieder am Bus stand und auf unsere Baustelle mitfahren wollte. Alle Ägypter sprachen aufgeregt durcheinander und erst Mohammed konnte das Durcheinander beenden und die Situation aufklären.

Mutawa war am Vortag nach Bagdad zu unserer Firma gefahren, hatte dort einen Aufhebungsvertrag gemacht und sich seinen Restlohn auszahlen lassen. Dann hatte er sich eine Bank gesucht, um sein Geld nach Ägypten zu überweisen.

Die Logik, warum er das nun ausgerechnet vor seinem Abflug nach Ägypten tun wollte, erschloss sich mir allerdings nicht so recht.

Auf dem Weg zum Bankschalter hatte er, wie es seine Art war, immer wieder einmal Halt gemacht, um sein Geld zu zählen.

Was dann genau passiert war, konnte er nicht mehr sagen, viel zu aufregend waren die folgenden Geschehnisse, doch an eines erinnerte er sich genau. Auf dem Weg zum Bankschalter sprang ein junges Bürschchen hinter einer Säule hervor, riss Mutawa das Geld aus der Hand und floh aus der Bank, ohne dass den Burschen jemand fassen konnte.

Auf der Straße tauchte der Dieb sofort in der Menschenmenge unter. Nun war Mutawa sein gesamtes Geld los, das er sich in den vergangenen Jahren mühsam erspart hatte.

Mutawa kam also in das Camp zurück und dachte, dass er wieder bei unserer Firma arbeiten könnte, um neues Geld zu verdienen.

Wir warteten auf den Bauleiter, um ihn mit der Situation zu konfrontieren. Herbert zeigte sich allerdings nicht bereit, Mutawa noch einmal einzustellen.

Immerhin gestand er ihm weiterhin Wohnrecht im Camp zu, bis er irgendwo eine neue Arbeit gefunden hatte.

Mutawa wohnte noch einige Wochen im Camp der Ägypter, ehe er dann doch in seine Heimat zurückflog, da er bei keiner Firma eine Arbeit fand.

Ihm hatte der Irak kein Glück gebracht, er fuhr so arm nach Hause, wie er zwei Jahre zuvor eingereist war.

Das Flugticket nach Ägypten schenkte ihm sein Sohn Ali.

Ein paar Tage später erwartete uns auf der Baustelle eine nette Überraschung.

Am Mittwoch war der letzte Tag des Ramadan und die ägyptischen Kollegen luden uns für jenen Donnerstagabend zum Id al-Fitr Fest in ihr Camp ein. Dieses Fest, das auch „Seker Bayrami“ genannt wurde, war der Auftakt für eine drei Tage dauernde Feier.

Zu diesem Essen wurden auch Nichtmuslime eingeladen. Gemeinsam mit dem Opferfest war dieses Fest das wichtigste des Islam, ähnlich unserem Weihnachtsfest.

Natürlich nahmen wir diese Einladung an und ich freute mich auf diesen Abend.

Ein Teil der Unterkünfte der ägyptischen Kollegen war extra für diese Feier ausgeräumt worden, so dass wir alle Platz fanden.

Die Tische waren schon mit den verschiedensten Süßspeisen gedeckt. Da gab es Milchreis mit Fruchtmus aus Pfirsichen, Orangen, Bananen und Granatäpfeln, große Schüsseln mit Vanillepudding, ebenfalls mit Fruchtsaucen, oder auch Grieß mit Fruchtstücken.

Als wir Platz genommen hatten, wurde die Hauptspeise aufgetragen. Es gab auf pikante Weise zubereitetes Hammelfleisch mit grünen Bohnen und Reis, gebratene Hähnchenteile in buntem Gemüse aus Tomaten, Paprika, Zwiebeln und Auberginen und eine riesige Pfanne mit Hackfleischauflauf, in dem verschiedene Gemüsesorten und Kartoffelscheiben gedünstet worden waren.

Die Fleischgerichte waren allerdings nur für die deutschen Kollegen bestimmt, die ägyptischen Kollegen labten sich an den Süßspeisen. Allen diesen Speisen aber entströmte der typische orientalische Duft und ich nahm mir vor, von allem zu kosten.

Das Essen schmeckte ausgezeichnet und wir lobten ausgiebig die Mühen, die sich die Männer für uns gemacht hatten.

Als Getränke zum Essen gab es Cola und süße Limonade und nach dem Essen den mir so lieb gewordenen Schwarztee in arabischer Zubereitungsweise.

Die ganze Zeit über erklang aus einem Recorder arabische Musik und wir fühlten uns alle sehr wohl. Die Gespräche waren locker und lustig, man sprach englisch, arabisch, deutsch und ein Gemisch aus Deutsch und Englisch, „Denglisch“ genannt. Die jeweiligen Kollegen kamen damit klar. Es wurden ein paar Späße gemacht und dann begann das arabische Kulturprogramm.

Unsere ägyptischen Kollegen zauberten auf den abenteuerlichsten Instrumenten Melodien ihrer Heimat und sangen dazu schaurig schön. Nachdem sie sich gegenseitig regelrecht angespornt hatten, wollte nun jeder seinen eigenen Beitrag leisten.

Irgendwann erbarmte sich aber zu unserem Glück die kleine Hauskapelle und beendete ihre Darbietungen.

Nun war die Zeit gekommen, ein paar deutsche Lieder zur Feier einzubringen.

Bereits beim Lied vom „Treuen Husaren“, waren die Ägypter aus dem Häuschen. Es folgten die Lieder „In einem Polenstädtchen“ und „Schwarzbraun ist die Haselnuss“. Natürlich durfte auch eines der bekanntesten Stücke „deutschen Liedgutes“ nicht fehlen, nämlich das Lied von „Susanna“, die an einem bestimmten Körperteil einen Leberfleck hatte.

Die Ägypter lachten vor Vergnügen und waren begeistert, denn solche Gesänge hatten sie noch nie gehört. Es war ein sehr fröhlicher und gelungener Abend.

Gegen zweiundzwanzig Uhr verabschiedeten wir uns dann voneinander und die deutschen Monteure fanden sich anschließend noch in fröhlicher Runde in unserem Aufenthaltsraum zusammen. Natürlich wurde erst einmal über die vergangenen Stunden gesprochen und bei einem guten Tropfen wurde es noch ein sehr langer und lustiger Abend, an dem wir, wie immer, ein paar Spielchen machten.

Doch der Abend endete nicht wie gewöhnlich.

Es musste doch unbedingt noch das beliebte Fingerhakeln stattfinden. Dabei forderte Hajo, wie immer, die Leute heraus, weil er bisher die meisten Kämpfe gewonnen hatte.

Auch an jenem Abend gab er den Anstoß zum Hakeln und Detlef stellte sich ihm. Beide hakten ihre Mittelfinger ineinander und auf Kommando fing der Kampf an. Die Kontrahenten versuchten, sich gegenseitig im wahrsten Sinn des Wortes über den Tisch zu ziehen. Detlef erlangte dabei einen leichten Vorteil.

Das wollte Hajo natürlich nicht zulassen, aber ganz langsam zog Detlef seinen Gegner tatsächlich über die Tischplatte.

Wir feuerten beide Kontrahenten an und hatten dabei einen Riesenspaß.

Schließlich wollte Hajo einen Befreiungsschlag starten und drehte beim Ziehen so gar nicht regelgerecht seine Hand, doch Detlef war auf der Hut und konterte.

Innerhalb einer Sekunde hörte man ein trockenes Knacken und einen darauf folgenden Schmerzensschrei. Der kam von Hajo und Detlef hielt vor Schreck sofort inne.

Wir schauten auf Hajos Hand und brachen erst einmal in schallendes Gelächter aus, denn Hajos Mittelfinger stand im Winkel von neunzig Grad zur Seite. Dass er gebrochen war, war offensichtlich.

Der bedauernswerte Mann wurde nach Falludscha zum Arzt gefahren, nachdem man nach längerem Suchen endlich einen Kraftfahrer gefunden hatte, der zu so später Stunde noch fahrtauglich war. Hajo bekam dann – außer einem Gipsverband vom Arzt – einen Schonplatz von unserem Bauleiter verordnet.

Zwei Wochen später fanden wir uns am Donnerstag nach dem Abendbrot in unserem neu eingerichteten Aufenthaltsraum unserer Wohnbaracke ein. Die Runde zählte über zwanzig Leute und es wurden die Musikkassetten abgespielt, die am letzten Einkaufstag in Bagdad gekauft worden waren.

Auf einer dieser Kassetten befand sich ein Titel, der in den kommenden Monaten zu unserer erklärten Hymne werden sollte und der an Abenden wie diesem drei bis vier Mal gespielt und von allen Anwesenden lautstark mitgesungen wurde.

Das Lied war von Hans Harz und hieß „Die weißen Tauben sind müde“.

Es wurde bei den deutschen Monteuren so populär, dass es später kaum einen Monteur im Irak gab, der diese Kassette nicht besaß.

Wenn wir auch alle als harte Kerle verschrien waren, so fand sich sogar bei den härtesten Kerlen noch eine weiche Stelle und genau in diese Stelle zielte dieses Lied.

Das Sonderbare aber war, dass auch Monteure, die neu einreisten und dieses Lied bei unseren Feiern zum ersten Mal hörten, sofort begeistert mitsangen.

Auch heute noch, nach über dreißig Jahren, bekomme ich eine Gänsehaut und ein nicht zu vermeidendes Fernweh, wenn ich dieses Lied höre. Ich wäre sofort bereit, auch unter der nicht kalkulierbaren politischen Situation, mit meinen alten Kollegen genau dort vor Ort zusammenzutreffen.

Natürlich weiß ich, dass diese Vorstellung illusorisch und nicht umsetzbar ist, aber genau diese Abende in der Gemeinschaft meiner Freunde haben sich in meiner Erinnerung festgesetzt und mich nie wieder losgelassen.

Eine ähnliche Kameradschaft wie diese habe ich während meiner langen Jahre andauernden Montagetätigkeit nie wieder erlebt.

Noch heute träume ich tatsächlich oft von dieser Zeit und freue mich, dass meine ehemaligen Kollegen mir wenigstens noch in meinen Träumen nahe sind.

Wie immer zog sich auch dieser Abend in die Länge und man musste sich mit Gewalt hochreißen, um am nächsten Morgen einigermaßen fit zu sein, denn wir wollten einen Ausflug unternehmen, der uns einige neue Erkenntnisse über das Land vermitteln sollte, in dem wir lebten.

Im Paradies des Teufels

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