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3. Die religiöse Dimension in ihrer gesellschaftlichen Funktion

Die Menschen stellen ganz natürliche Fragen nach ihren persönlichen Chancen und Risiken; weil der Mensch als Wesen in der und für die Gemeinschaft konzipiert ist, gibt es immer auch wirkliche oder Möchtegern-Führer, die diese Fragen beantworten wollen. Als Gruppierung kommen hier die Wissenschaften, die Religionen und als politische Dimension kommen die Staaten in Frage.

Staaten und Religionen wirken oft zusammen, manchmal sind sie in Konflikt miteinander. Aber auch im Fall eines Konflikts sind sie vielfach auf die gleichen Mittel angewiesen. „Gott ist groß“, „Allahu akbar“ und „Amerika is great again“ ist aus dem gleichen Geist geboren. Eine Abhandlung über die Demokratie ohne einen religiösen oder zumindest einen pseudoreligiösen Hinblick würde ich nicht für vollständig halten.

Religionen bestehen aus zwei Komponenten, die sie anzubieten haben: zum einen die in ihrem Rahmen gemachte historische Erfahrung, die sich im Glauben als Narrativ manifestiert und in den Menschen als Gesinnung landen sollte. Zum anderen ist es die spirituelle Technik, die in Form von Ritualen und Gebeten bzw. als Meditation die Besinnung auslösen soll und auch kann. Was für die Wissenschaft das Denken ist, ist für die Religionen die Meditation – bekannter ist vielleicht das Wort Versenkung.

Meditation bzw. Spiritualität ist ein Geisteszustand, in dem Inhalte des Unbewussten ins Bewusstsein treten und aus diesem Erleben entsprechende Wahrnehmungen entstehen und damit ganzhirnige – also sowohl emotionale als auch rationale - Entscheidungen getroffen werden können. Während des Schlafes reorganisiert sich das Gehirn und gewöhnlich treffen die beiden Gehirnfunktionen – auch beim Einschlafen und beim Aufwachen – zusammen; sie sind messbar durch das Elektroenzephalogramm (EEG). Deshalb ist es gut, schwerwiegendere Entscheidungen zu „überschlafen“; allerdings wird das Gehirn zwischen der Einnahme eines Schlafmittels und dem Wecker diese Nachtarbeit nicht leisten.

Unter anderen können auch Dauersportarten sowie militärische Einsätze sowie solche Übungen meditatives Bewusstsein initialisieren; die „Feuertaufe“ als erstes Kampferlebnis eines Soldaten bringt ihm seine Sterblichkeit zum Bewusstsein und verursacht häufig eine Veränderung der Persönlichkeit; Zivilisten erleben diese Veränderung häufig erst in der Midlife-Crisis.

Wohl aus diesem Grund ist Yoga in der Kriegerkaste entstanden. Soldaten hatten immer schon Bedarf nach einer guten Resilienztechnik, also nach optimaler Stressfestigkeit sowie nach strategischen Fähigkeiten; diese besteht darin, sich in der komplexen und im Einsatz unberechenbaren Welt zurechtzufinden.

Autoritäre Systeme betreiben den umgekehrten Weg; sie nutzen Trance, um ihre Gedanken zu indoktrinieren – da kann Folter und Angstmache durchaus im Spiel sein – „Gehirnwäsche“ führt aber eher zur Abstumpfung als zu sinnvollen Erkenntnissen.

Die Besinnung auf das, was ich tun will und was ich in meinem und im Interesse der Gesellschaft tun darf, ist für ein gutes Zusammenleben immer wichtig. Das Christentum setzt darauf, dass durch den Glauben Besinnung ausgelöst wird und daraus die gewünschte Gesinnung entsteht. Das Christentum und das Römische Reich deutscher Nation ergänzten einander in ihrer Sinnvorgabe (Gott und Vaterland; Altar und Thron).

Wenngleich das Wort „Erbsünde“ in deutscher Sprache erst im 12. Jahrhundert, also in der Hochblüte der christlichen Gesellschaftsordnung, vorkommt, geht ihre Einführung auf Apostel Paulus und später auf den Kirchenlehrer Augustinus zurück. Obwohl sich diese These auf das Alte Testament beruft, kennen die Juden dieses Instrument, das ein Gefühl der Unvollkommenheit und einer Abhängigkeit erzeugen soll, nicht. Die grundsätzliche Einstufung des Menschen als „Mängelwesen“ ist eine wirksame Voraussetzung für eine hierarchische Gesellschaftsordnung. Um Christus die Funktion als Erlöser zu geben, erklärte man den Menschen kurzweg als erlösungsbedürftig. Wenn sich eine Religion so aufstellt, nimmt sie sich als geistiges Konstrukt wichtiger als den Menschen in seiner realen Existenz. Die Christen hoffen auf Erlösung, die Buddhisten bemühen sich darum, zu erwachen.

Der Mensch ist natürlich entwicklungsbedürftig und braucht Zeit, im Schutz seiner Umgebung seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu entfalten. Auf dem Yogaweg und für den Buddhismus braucht man gewöhnlich einen Meister als Begleiter; aber den Geist des Menschen gestalten zu müssen, erscheint ziemlich übergriffig.

Die christliche Lehre folgt dem System; dem Menschen nicht zuzutrauen, sich zu optimieren und aus eigenem ein gutes Selbstwertgefühl zu erreichen, sondern erlösungsbedürftig zu sein; das soll die kindliche Abhängigkeit des Menschen ein Leben lang erhalten. Mit einem solchen Bewusstsein bleiben ihm die Abhängigkeit und der Bedarf nach Gläubigkeit, auch wenn er den schützenden Schoß der Kirche verlässt. Das Anhaften an die abstrusesten Herrschaftssysteme und die erstaunlichsten Verschwörungstheorien ist eine Folge davon. So wie der Körper von innen nach außen wächst, ist es auch wahrscheinlich besser, den Geist aus seiner Urnatur von innen nach außen entwickeln zu lassen.

Das Bedürfnis, die kindliche Psyche gestalten zu wollen, taucht interessanterweise wieder in der Aufklärung auf, die zuerst einmal – jedenfalls aber nur räumlich begrenzt – die „schwarze Pädagogik“ in die Welt gesetzt hat, bevor sie von der Reformpädagogik überholt wurde.

Nach der Yogalehre sollte die Rolle der Persönlichkeitsbildung sein, die Menschen anzuregen, einen individuellen Lebenssinn zu suchen und Selbstbewusstsein zu finden, die sich in Übereinstimmung mit dem Ziel der jeweiligen Gemeinschaft befindet – in Europa ist es weitgehend Demokratie. Je nach dem Menschenbild der Religion fördert sie die Natur des Menschen, die sie für ursprünglich lebens- und gesellschaftstauglich hält; oder sie will ihn nach ihrem Menschenbild formen, weil sie seine Natur als dafür ungeeignet hält. In diesem zweiten Fall reicht Erweckung nicht, es braucht Erlösung.

Die Entwicklung der Kinder ist abhängig vom Schutz durch die Eltern; das patriarchalische Denkmuster versucht, dieses Gefühl zu perpetuieren; und autoritäre Staaten erwarten von ihren Untertanen eine entsprechende Unterwerfung. Um dieses Gefühl zu erzeugen, dient oft Willkür. Idealtypisch halten sich die Bürger einer Demokratie ihren Staat als Organisationseinheit; die Rechtssicherheit ist dafür wichtig. Welches Gefühl ist wohl für Österreich vorherrschend? Ist das Selbstbewusstsein derivativ (abhängig) oder autonom (unabhängig)? Das sind Fragen, die für die Menschenführung relevant sind.

Es gibt so viele glückliche Kinder und so viele grantige oder manchmal sogar bösartige Erwachsene. Was ist auf dem Weg passiert? Der Mensch kommt körperlich und geistig sehr unfertig auf die Welt und die Gefahr, durch Erziehung Schäden zu erleiden, ist durchaus gegeben. Wenn die Liebe der Eltern zu ihnen aber echt ist, halten die Kinder doch einiges aus. Das Glück der Kinder besteht darin, in ihrer Lebenswelt geschützt aufzuwachsen.

Mit der Pubertät und den hormonellen Umstellungen müssen oder dürfen sie ihrer neuen Lebenswelt begegnen. Wenn sie Glück haben, können sie aber ihren inneren Freiraum erhalten – für manche ist das die Religion. Ein Yogi aus Indien nannte das so: „ich habe mir vorgenommen, mich in meinem Wesen nicht von den anderen stören zu lassen“. Aber das ist schon ein Schritt zur Weisheit.

Den Kinderglauben aber kann man allerdings aufgeben, denn Gott tritt nicht an die Stelle der Eltern; mit dem Gewinn von Freiheit kommt die Verantwortlichkeit. Die christlichen Kirchen sehen das meist anders; für einen politischen Text scheint meine Erklärung allerdings relevanter zu sein.

Es muss nicht darauf ankommen, sein Leben mit Abenteuern zu füllen, sondern es durch Intensivität zu bereichern – also achtsam durchs Leben zu gehen. Das Glück der alten Menschen ist, weise zu werden und zumindest die Erziehungs- und die weiteren Erlebnisschäden (etwa PTBS = posttraumatische Belastungsstörung) überwunden zu haben. Dann können sie auch beruhigt in den Tod oder in die Demenz gehen; sie werden dann auch weniger an ihrer Pflege leiden und auch weniger lästige Pflegefälle werden.

Erfahrungsgemäß lösen sich diese Menschen leichter vom Leben, die weder sich selber noch den anderen gegenüber etwas schuldig geblieben sind. Wer satt ist, steht leichter vom Tisch auf als der, der noch hungrig ist. Problemfälle sind Kinder, die sterben wollen, und alte Menschen, die sich vor dem Tod fürchten.

Ich halte die Beschäftigung mit den Religionen in Theorie und Praxis für sehr hilfreich, um zum eigenen Lebensglück zu kommen. Ohne die Erfahrungen vieler Generationen wäre es uns wahrscheinlich unmöglich, die Welt zu verstehen. Weisheit ist das Ergebnis der Wahrnehmung der äußeren Natur und seiner inneren Natur, also eine Wahrnehmung des Geschehens in seinem Gehirn. Ich verdanke der Tätigkeit als Ministrant in meiner Kindheit eine entsprechende Vorerfahrung für die Erlernung der Meditation in meiner Yoga-Schule in Indien.

Der große Aufwand, den man treiben muss, um so weise zu werden, wie die als große Meister verehrten Yogis in Indien, ergibt sich aus der Erfahrung. Sie haben lange Meditationen hinter sich. Einem buddhistischen Mönch ist aufgefallen, dass – sieht man von einigen Ausnahmetalenten ab – für Spitzenleistungen in Kunst, Sport und Wissenschaft sowie in Spiritualität eine Praxiszeit von 15.000 Stunden notwendig ist.

Für meinen Guru waren dreistündige Meditationen nichts Besonderes, für seine langen Meditationen – er erzählte von einer Zeit von bis zu 12 Tagen –, musste er sich allerdings besonders vorbereiten. In seiner Gegenwart brachte ich es auf einige einstündige Versenkungen; normalerweise bin ich über Zeiten von ein paar Minuten schon froh.

Ein Meister geht in sein Unbewusstes wie der Hausherr in den Keller, dreht das Licht auf und sucht sich zusammen, was er gerade braucht. Gerade auch bei der Erstellung dieses Textes merke ich, dass ich ziemlich im Dunklen herumtappe und nur wie im Strahl einer Taschenlampe die brauchbaren Gedanken und die notwendigen Empfindungen zusammensuchen muss.

Glücklich bin ich über ein Meditationserlebnis an der Südküste der Insel Kreta, das mich an eine Bibelstelle erinnert. Christus wurde vom Teufel aufgefordert, von einem Felsen zu springen; die Engel würden ihn sanft auffangen und ihn unversehrt zu Boden bringen. Wenn Leute dieses Erlebnis unter Einfluss von Drogen haben, springen sie oft tatsächlich.

In der Meditation nimmt man wahr, dass das Schweregefühl ausgeschaltet ist und man diese Sondersituation genießt; ich bin auf dem Mauervorsprung der Ruine sitzen geblieben, obwohl ich das Gefühl hatte, ohne weiteres zu den am Strand spielenden Kindern hinunterschweben zu können. Auf der Schwelle, an der sich Stimmung zu Glauben verhärtet, ist ein Faktencheck geboten, weil Glauben handlungsrelevant werden kann.

Das Gefühl der Schwerelosigkeit ist wie die Erinnerung an das Nicht-Sein auch eine Erfahrung des Nahtod-Spektrums und nimmt oder reduziert die Angst vor dem Tod. Seit ich um die Erfahrungsgemeinschaft weiß, nehme ich die Bruderschaft Christi, die er den Menschen bietet, gerne an. Die Erfahrung des Unbewussten unterscheidet sich durchaus von der gewöhnlichen Erfahrung; wenn man sich aber da öfter einfindet, wird sie einem vertraut und man kann religiöse Texte mit anderen Augen lesen.

So erscheinen die Darstellungen des auferstandenen Christus in einem anderen Licht, etwa wie im Nebel, das deutet auf Meditationsbilder hin. Die Berichte über den auferstandenen Jesus enthalten meistens einen Hinweis auf eine metaphysische Dimension seiner Erscheinungen; er kommt etwa trotz verschlossener Türen in den Abendmahlsaal oder er verschwindet einfach aus der Gemeinschaft mit den zwei Jüngern in Emmaus.

Die Deutung Christi als Inkarnation Gottes ist nach dem Religionsverständnis Indiens durchaus möglich; für viele Inder ist eine solche Deutung auch selbstverständlich. Nach dem Buddhismus erreichen die Menschen auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe die Buddha-Natur. Für die Christen, die die Gottesnatur eines Menschen für einmalig halten, ist ein Verständnis dafür schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Als Anhänger einer Glaubenskultur sind ihnen nicht alle religiösen Interpretationsmöglichkeiten offen.

Der andere könnte auch recht haben

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