Читать книгу Der andere könnte auch recht haben - Klaus Pinkas - Страница 8
Оглавление4. Individuum und Gesellschaft
Das Wechselspiel zwischen Individuum und Staat bzw. Reich zeigte und zeigt viele Möglichkeiten: es reicht von Diskriminierungen oder Überhöhungen Einzelner bis zu Überschätzung oder Verachtung des Gemeinwesens.
Wahlsprüche und Hymnen versuchen auf mancherlei Art, das gesellschaftliche Selbstbewusstsein zu modellieren; und manchmal stimmen Volksmeinung und Selbstbeschreibung des Staates überein. Ob das eine das andere modelliert hat oder ob es umgekehrt ist, kann höchstens im Einzelfall festgestellt werden.
Normalerweise sind Volks- und Staatsmythen natürlich großartig; manchmal ist es anders. So gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich eine Volkshymne, die den Zustand durch Persiflage – also durch schwarzen Humor – erträglich zu machen suchte: „Land der Erbsen, Land der Bohnen, Land der vier Besatzungszonen, Land der vielen, vielen Fremden, die uns ausziehen bis auf die Hemden …“ Notfallsprüche können in der jeweiligen Situation hilfreich sein; wenn sie bleiben, können sie aber auch negativ wirken. Bewusstsein und Sein sind interdependent.
Mit der Wahl der aktuellen Bundeshymne hat Österreich gewiss Glück gehabt; sie spricht sowohl das Land als auch die Leute positiv an und verzichtet auf Präpotenz. Für den individuellen Bereich wirken nach verbreiteter Meinung gute Lebensziele positiv; ob es eine Analogie zu Staatszielen gibt, könnte nur eine Untersuchung ergeben. Wenn es so wäre, würde Serbien mit seiner Berufung auf die verlorene Schlacht am Amselfeld gegen die Osmanen (1389) ein schlechtes Motiv gewählt haben. Und auch die Hymne „noch ist Polen nicht verloren“ ist nicht gerade aufmunternd.
Schwer nur zu ertragende Zustände kann man auch durch etwas überzogene Behauptungen verkraftbar machen; so kolportierte Hitler die Vorstellung, dass er und das vom Ersten Weltkrieg traumatisierte deutsche Volk von der Vorsehung ausersehen sei. Als Plagiat übernahm er die jüdische Vorstellung der Auserwähltheit; er strebte an, was er diesen vorwarf, nämlich Weltherrschaft. Das Plagiat hat zwar gegriffen, hat sich aber nicht bewährt.
Die auf Individualismus, Gerechtigkeit und Frieden aufzubauende Demokratie überlässt den Bürgern die Sinnfindung und muss ihnen auch die Fähigkeit, ein der Realität entsprechendes Selbstbewusstsein zu entwickeln, zutrauen; die Staatsführung kann aber doch etliches beitragen, Stärken und Schwächen und allenfalls notwendigen Veränderungsbedarf gemeinsam mit den Bürgern auszumachen.
Die Zeit der überheblichen Herrscher und der sich minderwertig fühlenden Untertanen sollte mit der Reichsidee untergegangen sein und dem Selbstbewusstsein der demokratischen Bürger Raum geben. Wenn sich eine gesellschaftsprägende Einheit wie eine Religion totalitaristisch aufstellt, so werden sich auch die anderen gesellschaftlichen Einheiten wie die Familien oder der Staat totalitär zu organisieren suchen.
Dabei werden die Inhalte an sich durchaus modifiziert. Die Kinder machen nicht immer das, was die Eltern sagen; sie machen aber oft das nach, wie die Eltern sind. Mit der Übertragung durch die Religion ist es ähnlich: wir essen entgegen dem Alten Testament Schweinefleisch und halten es entgegen der Bergpredigt nach dem Neuen Testament mit der Aufnahme der Fremden nicht so genau; sehr haltbar allerdings ist der Modus der Religion, die absolute Wahrheit Gottes zu vertreten und damit immer recht zu haben.
In der postchristlichen Gesellschaft ist diese Haltung noch spürbar und in den christlichen Kirchen ist sie noch weit verbreitet, wenn die katholische Kirche sie auch offiziell abgemildert hat (siehe später). Im Islam schafft sie noch schwerwiegende innere und äußere Spannungen.
Wenn der Mensch seinen spirituell geladenen Wesenskern mit einer rauen Schale umgibt, stellt das ein Problem für das Zusammenleben dar. Wenn sich ein sanftes Gemüt einer geforderten Härte stellen soll, hilft der Spruch: „Wo gehobelt wird, fliegen Späne!“ Manche leiden darunter, wenn ihr Amt mehr Härte verlangt, als sie geben wollen; es besteht aber auch die Gefahr, dass Sensibilität kippt und zu Grausamkeit pervertiert. Wichtig sind starke Persönlichkeiten, denen das Wesen der Demokratie vertraut ist und die sich für sie einsetzen.