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5. Die Aufklärung

Einem aufgeklärten Menschen ist ein religiöser Inhalt kaum und auch nicht der volle christliche Glauben zu vermitteln; Auf dem Weg des religiösen Respektverlusts ist allerdings auch der Respekt und die Angst vor der Natur, die stärker ist, als es die Menschen sein können, untergegangen und muss erst mühsam wieder hergestellt werden. „Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher“, hieß es früher; und die Natur ist auch nicht schnell genug in ihren Reaktionen, um gleich auf jeden menschlichen Missgriff zu reagieren.

Das Christentum erzeugt mit Himmel und Hölle ein verzerrtes Weltbild und hat seine spirituellen Techniken nur für den Fall der Akzeptanz seines Glaubensinhaltes entwickelt; in der Aufklärung ist die Spiritualität als Technik zur Bewusstseinserweiterung und damit zur Förderung der Sensibilität als nützliche geistige Disziplin kaum entwickelt worden; weder der räumliche noch der zeitliche Horizont sind mit den Handlungspotentialen von Wissenschaft und Technik mitgewachsen. Damit sind wir im christlichen Abendland so lange auf geistige Importe angewiesen, bis sich hier ein entsprechendes Bewusstsein entwickeln wird. So lange müssen wir mit dem Mangel leben und den nachfolgenden Generationen die Verantwortung schuldig bleiben.

Der Umgang mit der Welt als Heimat nicht nur für die aktuelle Menschheit, sondern auch für die Folgegenerationen lässt zu wünschen übrig. Die aktuellen Generationen leben, als ob sie die letzten wären; und die Natur reagiert in diesem Sinn! Die letzten 5 Generationen verbrennen die Kohle, die in 50 Millionen Jahren entstanden ist (das Erdzeitalter Carbon dauerte von 350 bis 300 Millionen Jahre vor unserer Zeit); kein Wunder, dass da die Natur sauer reagiert. Es geht um die grundsätzliche Fähigkeit der Menschen, die aktuellen Probleme zu lösen, und nicht darum, Lösungen für historische Probleme vorgesetzt zu bekommen.

Gläubigkeit, die auf einem konkreten Weltbild beruht, bindet; Weisheit macht frei. Wissen und Gedanken, die nicht auf der Bindung an die Welt beruhen, sind nicht weise, sondern illusionär. Die rasche Veränderung der Umstände auf der Welt braucht Gedankenfreiheit; die alten Rezepte des Zusammenlebens der Menschen sind überholt oder beantworten die aktuellen Fragen nicht mehr. Wenn auch die Welt durch eine unverantwortlich genutzte Freiheit zum gegenwärtigen Schlamassel geführt hat, so gibt es doch keine andere Wahl, als die Freiheit des Geistes in den Dienst der Lösung oder Milderung des Desasters zu stellen.

Der Jesuit Karl Rahner (1904 bis 1984) war einer der profiliertesten Theologen der neueren Zeit; er war Motor der Modernisierung der katholischen Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil. Für mich ist er trotzdem ein gutes Beispiel für Glaubensbindung; diese Glaubensbindung beruht auf der Selbsteinschätzung der christlichen Religion, sie sei von Gott geoffenbart worden. Er käme mit dem Gedanken, dass ein barmherziger Gott so viel Ungerechtigkeit wie den Holocaust zulasse, nicht zurecht und er wolle (nach seinen Worten) das Problem als erste Frage nach seiner Ankunft im Himmel an Gott stellen. Im Unterschied zum Gläubigen hat ein Weiser die Möglichkeit, seinen eigenen Standpunkt zu hinterfragen.

Nur wenn Gott nur eine Minderheit vertritt, kann diese ihren Gott auf Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit ansprechen; wenn aber nach dem eigenen Weltbild Gott als Symbol für die ganze Welt und den Kosmos zuständig ist – demnach auch für Fuchs und Hase –, verliert der Anspruch seinen Sinn. Dieser Gott kann höchstens für das Funktionieren dieses Systems als zuständig erklärt werden und die Theodizee-Frage stellt sich nicht. Die von Zeit zu Zeit auftretenden Epidemien könnte man jedenfalls als Versuch der Natur ansehen, das Leben auf der Welt zu harmonisieren.

Die Verwendung des Begriffes „Gott“ weist auf eine Möglichkeit des abstrakten Denkens hin, nämlich auf die Wirklichkeit eines Teamgeists oder die Corporate Identity in der Gesellschaft, in der sich die jeweiligen Menschen fühlen. Als Logo dieser Denkheimat werden entsprechende Zeichen verwendet, Kreuz oder Halbmond sind weit verbreitet. Eine Darstellung des Logo nach dem Menschenbild wird in manchen Religionen als problematisch gesehen; sie wäre eine Verengung dessen, was gemeint ist. Die Wahrnehmung und die Bildung des „Gemeinschaftsgeistes“ erwächst aus der Abstraktionsfähigkeit des menschlichen Gehirns.

Der Horizont, der die Gefühls- und Denkwelt umschließt, bildet eben den Raum der Gesellschaft, die man haben will und der man sich bestenfalls verpflichtet fühlt. Angesichts der Problemlage in der Welt wäre ein weiter Horizont wünschenswert. Global handeln und regional denken kann nur zur Katastrophe führen. Die Mühe, die Weltanschauungen und ihre Gottesvorstellungen zu verstehen, läuft auf Verständnis dieser Situation hinaus.

Karl Rahner zeigte diesen weiten Horizont in einer Offenheit, die aus der Weisheit des Alters zu kommen scheint. In einem Symposion des Instituts für Südost-Asien (Universität Wien, etwa 1985), das über das Verhältnis von Christentum und Hinduismus gehandelt hat, sagte er: „Es möge mich der Blitzstrahl des Banns nicht treffen aber zwischen den beiden besteht wahrscheinlich gar kein Unterschied“. Einige seiner jungen Mitbrüder in den hinteren Sitzreihen murrten und einer von ihnen sagte: „Das könne man so nicht sagen!“ Eine Aufzeichnung wird sich sicher noch im Archiv des Instituts befinden.

Die Vorstellungskraft des Menschen ist eine wichtige Voraussetzung für ein optimales Leben – „Denken ist Probehandeln im Kopf!“ Das Theater und seine Wirkkraft beruhen auf der Vorstellungskraft der Schauspieler; die Wissenschaft und ihr Fortschritt ist ohne Fantasie der Forscher nicht denkbar und auch Yoga verwendet viele Vorstellungsbilder als psychotherapeutische Instrumente auf dem Weg zur angestrebten Weisheit. Wenn sich aber diese Vorstellungen im Faktencheck nicht bewahrheiten, führen sie in die Einbildung und an die Schwelle der Psychiatrie.

Die Aufklärung als geistige Disziplin hat den Prozess des religiösen Glaubens, dem die Kirchen Vorrang vor der Rationalität gegeben haben, fragwürdig gemacht. Die christliche Religion hat ein Problem mit der „Erkenntnis“, da der Verzehr der Frucht des Baumes der Erkenntnis an der Vertreibung aus dem Paradies schuld war.

Obwohl diese Erzählung aus der jüdischen Bibel stammt, nahmen die Juden diese Passage aus ihrem Buch nicht so ernst. Die Juden trieben die intellektuelle Bildung allerdings auch nur für die Buben – durchs Mittelalter und in die Neuzeit herein – sehr ernsthaft. Eine gewisse Erkenntnishemmung bei den Christen bei gleichzeitiger Erkenntnisfreiheit bei den Juden und die daraus entstehenden Nachteile bei der Mehrheit der Bevölkerung könnte ein Grund für die Judenaversion gewesen sein – Eifersucht ist immerhin ein starkes Motiv für Hass.

Das Christentum mit seiner Lehre von der Erbsünde zeigt ein gespaltenes Verhältnis zur Erkenntnisfähigkeit, die die Bedingung für die Aufnahme im Himmel ist; Tiere haben nach der verbreiteten Lehre keinen Zugang dorthin. Andererseits war die Befriedigung des Erkenntnisbedürfnisses der Menschen die Ursache für die Vertreibung aus dem Paradies.

Die Verfolgung der Astronomen im 16. und 17. Jahrhundert (etwa Gaetano Bruno und Galileo Galilei) durch die Inquisition führte zu einem Vertrauensverlust in die Kirche; auf Grund der historischen Last tat sie sich in der Folgezeit schwer, für einer explodierende Wissensentwicklung ein weises Korrektiv zu werden. Es gibt nicht nur den industriell-militärischen Komplex, den der frühere amerikanische Präsident Eisenhower problematisch nannte; sondern auch der Komplex von Wissenschaft und Wirtschaft ist aus den Ufern eines vertretbaren gesellschaftlichen Verhaltens geraten.

So ist auch das, was als „rational“ bewertet wird, oft nur auf einem niederen Niveau; das traf etwa die sogenannte „Rationalisierung“ als Ersatz menschlicher Arbeit durch Maschinen. Die Wirtschaftswissenschaft bleib mit der „Rationalisierung“ hinter der Rationalität zurück; nur die gewünschten Folgen und nicht auch die negativen Nebenwirkungen zu berechnen, ist schwach (siehe später). Dass die Kirche die Schwächen des eigenen Systems kaum bemerkt hat, ist menschlich verständlich; dass sie sich aber so weit von der Philosophie entfernt hat, dass ihr die Pseudorationalität in der Welt nicht aufgefallen ist, ist peinlich. Der Einsatz linearer Rationalität zur Lösung komplexer Sachverhalte verschleudert eine menschliche Qualität unter ihrem Wert.

Das geozentrische Modell der Kirche hat naturwissenschaftlich versagt. Und in dem, was man heute kognitive Wissenschaft nennt, hatte sie ein einfaches Modell. Sie gab vor, zu wissen, wie sich Gott die Menschen wünscht. Die Gläubigen brauchten nach dem Beichtspiegel nur angeben, inwiefern sie diesem Bild nicht entsprachen. Nach der Aufschrift „Gnothi seauton“ (erkenne dich selbst) im Tempel des Apollon in Delphi versuchte die griechische Philosophie, die Sache der Identität des Menschen vorsichtiger anzugehen; die Yoga-Bewegung macht die Selbsterkenntnis sogar zu ihrem zentralen Thema.

Die Kirche stellte und stellt Gott in das Zentrum ihrer Verkündigung. In der Bibel wird verlangt, sich kein Bild von ihm zu machen, sodass die Beziehung zu ihm nur in der Gefühlssphäre, also im eigenen Körper, stattfinden kann; dafür ist Sensibilität notwendig und damit könnte sich auch das innere Maßsystem, das sowohl nach dem eigenen Glück strebt als auch der sozialen Verantwortung Raum gibt, entwickeln.

Weil das offensichtlich gefehlt hat, ist es zu dem erstaunlichen Phänomen mit dem Namen „selbsterfüllende Prophetie“ gekommen. Die Erkenntnisexplosion gefährdet durch ihre Schattenseiten (etwa Klimaerwärmung, Meeresverschmutzung und Plünderung der Bodenschätze) den Lebensraum des Menschen; diese Art von Erkenntnis könnte leicht zur „Vertreibung aus dem Paradies“ führen. Hat nun die Bibel doch Recht? Indem die Kirche mit ihrer Erkenntnisaversion die intellektuelle Entwicklung nur sehr zögerlich und unwillig mitgetragen hat, war sie kein Gesprächspartner für die Wissenschaft und wurde vom Fortschritt überrollt.

Ähnlich wie der Kirche in der Vergangenheit geht es der Politik in der Gegenwart. Durch ihre Ideologiebindung sieht sie das Offensichtliche nur mit großer Verzögerung – die Hippies erkannten schon vor 50 Jahren, dass der aktuelle Lebensstil weder für die Menschen noch für die Welt gut ist. In den Diktaturen werden die „Humansensoren“ gewöhnlich entsorgt; aber auch in Westeuropa geriet eine bedenkenswerte Idee ins Räderwerk der Gewalt. Es geht um die Rote Armee Fraktion (RAF); sie war eine Splittergruppe der 68er-Bewegung.

Wikipedia beschreibt den auslösenden Gedanken in einem kleinen Absatz, für die resultierende Gewalt braucht es hundert Seiten. Manche jungen Leute erkannten, dass die Ideologie des Nationalsozialismus und ihr imperialer Anspruch ein großes Unglück ausgelöst hatte; sie erkannten aber auch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika aktuell in Vietnam den Kapitalismus verteidigen und hielten das für Imperialismus. Aus heutigem Wissen ist die moderne Wirtschaft ohnedies Wahnsinn und ihre Verbreitung ein Unglück. Hätte die Politik versucht, die ursprüngliche Forderung der RAF, die auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen gerichtet war, zu verstehen, und nicht nur auf die Gewalt zu reagieren, wäre die weitere Entwicklung weniger fehlerhaft abgelaufen.

Die Kirche nimmt Gott in das Zentrum ihrer Verkündigung, obwohl ihre Vertreter nur eine Vorstellung von ihm haben können, indem sie an die biblische Offenbarung glauben. Jemandem zu glauben, ist gut als Impuls, ein hartnäckiger Glaube allerdings erzeugt eine Scheinsicherheit, die für den, der sich im Raum der Unsichtbarkeit bewegt, ziemlich gefährlich ist. Meine physische Blindheit weist mich täglich auf diese Tatsache hin; und so bin ich angeregt, diese Erfahrung auch in meine philosophischen Gedanken einzubringen. Es ist wichtig, sich stets aktuell zu orientieren und dafür seine eigenen Fähigkeiten zu fördern.

Ich weiß nicht mehr von der unsichtbaren Welt als alle anderen, ich bin aber mehr geübt darin, mich in ihr zu bewegen.

Das innere Maßsystem, das sowohl nach dem eigenen Glück strebt als auch der sozialen Verantwortung Raum gibt, hat sich in unserer Kultur nicht ausreichend entwickelt. Diese Diagnose fordert auf, die Ursache zu erforschen und eine Therapie zu entwickeln.

In der Aufklärung ist Skepsis die ständige Begleiterin der Wissenschaft geworden; und diese ist in ihren vielen Disziplinen enorm erfolgreich. Aber, wie es scheint, vernachlässigt die Aufklärung die Besinnung auf den gesellschaftlichen Grundwert: die Berücksichtigung der Lebensinteressen der zukünftigen Generationen. Die Erforschung der Zukunft ist viel zu spät wissenschaftliche Disziplin geworden.

Mit dem Scheitern des materiellen Weltbildes der christlichen Religion in der Neuzeit ist auch die Reputation der kirchlichen Hierarchie in sozialen Fragen in Misskredit gekommen; trotzdem hat die Kirche ihrem Glauben mehr geglaubt als dem Geist Christi nachzuspüren und danach zu handeln. Nicht Wortgläubigkeit ist geboten, sondern Sinnerfassung.

Die jüdische Weisheit, die in den beiden Bibeln zu finden ist, wurde bald nach dem Tod Christi für seine Kirche auf Gläubigkeit reduziert; ab da war Heiligkeit wichtig. Für die katholische Kirche ist ihre Gründung auf dem Felsen (Fels = Petrus) wichtig; für die spätere „Petrifizierung“ (= Versteinerung) hat allerdings Paulus ursächlich beigetragen. Die weitgehende Verpflichtung, beide Bibeln als Wort Gottes als Glaubensgut anzunehmen, schmälert das Vertrauen in sie – manche ihrer Selbstverständlichkeiten wie die Sklaverei im Alten Testament haben sich überholt.

Das Wort „christliche Weisheit“ ist nicht im Sprachgebrauch; man spricht von den „Weisen aus dem Morgenland“ und neben der rabbinischen Weisheit von indischer, chinesischer, japanischer und einer indianischen Weisheit; die Kirche hat sich mit Heiligkeit begnügt.

Eine Demokratie braucht den Versuch vieler ihrer Bürger, sich um eine generelle Kompetenz zu bemühen und sich nicht mit Spezialisierung zu begnügen. Lernt man die Symbolsprache, dann bieten die zwei Bibeln einen reichen Schatz. Ein weiser Lehrer lehrt die Kunst des Lebens und nicht den Gehorsam. Mit der Aufklärung ist der Kampf der Demokratie eingeleitet worden, er ist aber noch nicht gewonnen; es fehlt die Verantwortlichkeit; sie ist im Großen und Ganzen der Entwicklung, die aus der Aufklärung entstanden ist, fremd geblieben.

Der andere könnte auch recht haben

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