Читать книгу SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert - Klaus Schikore - Страница 4
TEIL 1 Im Portrait: Der Schulmeister am Dienstort Thematische Einführung:
ОглавлениеWorte einer Verabschiedung
(Studiendirektor Ibisch verabschiedet am 02.07.1991 den Kollegen Schikore) {6}
Lieber Herr Schikore!
Wenn wir Sie heute aus unserer Mitte verabschieden, so verlässt uns in Ihrer Person nicht nur ein geschätzter Kollege, sondern – wie man heute so sagt – ein Zeitzeuge eines Abschnitts der deutschen Geschichte, der für Sie mit dem Ende der sogenannten „goldenen 20er“ beginnt. Als Sie am 07. 06. 1929 geboren wurden, hatte sich Deutschland, so schien es, von Krieg und Inflation erholt, dunkle braune Wölkchen zogen zwar schon auf, waren aber noch nicht bedrohlich; doch ab Herbst 1929 zeigten sich Gewitterwolken einer Wirtschaftskrise von jenseits des Atlantiks, die unser Land dann schwer trafen. Was diese Wolken verursachten, schuf entscheidend die Voraussetzungen für die Zeitumstände, unter denen Sie 1939 Ihren 10ten Geburtstag begingen. Wenige Wochen danach begann der 2. Weltkrieg. Was das folgende Jahrzehnt Ihrer ausgehenden Kindheit und Jugend, für Deutschland, Europa, die Welt bedeutet, wissen wir alle aus Geschichtsbüchern. Für die älteren unter uns ist es erlebte, auch erlittene Geschichte, aber das Geschichtsbuch erzählt nichts über individuelle Schicksale. Gestatten Sie mir, das Ihrige hier ein wenig nachzuzeichnen.
Mit 11 Jahren verlieren Sie Ihren Vater, „im Dienst für das Vaterland“, wie man Ihrer Mutter schreibt. Sie erleben die ersten Bombenangriffe und sind, wie Kinder zu allen Zeiten, froh über schulfrei. Bei Ihnen allerdings wird es nach mehr als zweistündigem Fliegeralarm am nächsten Tag gewährt. Bombenalarm gehört für eine Reihe unter uns zu den Kindheitserinnerungen, aber nicht die für Sie bald erfolgende Ausbildung am Karabiner 98, am MG 42, an Panzerfaust und Panzerschreck. Osteinsatz Ende 1944 mit dem Bau von Panzergräben gegen die Rote Armee, Fronteinsatz in einer Marine-Infanterieeinheit zur Verteidigung Ihrer Heimatstadt Stralsund in den letzten Kriegstagen folgen. Sie kommen mit dem Leben davon, viele Ihrer Altersgenossen nicht.
Im Sommer 1945 holt Sie 16jährig zum ersten Mal für einige Wochen die sowjetische Geheimpolizei (GPU, NKWD, KGB). Sie hatten ja eine Uniform getragen, Ihr Vater, Ihre Lehrer ebenfalls. Als man Sie wieder entließ, mussten Sie unterschreiben, dass Sie nicht schlecht behandelt worden waren.
Aufgewachsen unter einem Regime, das den Zweifel an seinem Alleinvertretungsanspruch als todeswürdiges Verbrechen geahndet hatte und der nun folgenden Aufklärung, dass gerade das verbrecherisch gewesen war, konnte für Sie der Konflikt mit der neuen Macht nicht ausbleiben. Flugblätter, die sich gegen Übergriffe der Besatzungsmacht gegenüber jungen Leuten und gegen den Alleinanspruch der FDJ richteten, führten am 19.11.1948 dazu, dass der Unterprimaner Schikore mitten aus dem Mathematikunterricht abgeholt wurde und am 07.02.1949 in Greifswald von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. 19¾ Jahre alt – das Ende eines jungen Lebens? Vielleicht haben Sie in dieser Zeit häufig an Ihre Kameraden gedacht, die in den letzten Kriegstagen gefallen waren. Welche Lebensperspektive bot Ihnen denn die Abänderung des Todesurteils zu 25 Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit? Wieder in Uniform, nun einer gestreiften, mit grünem Querstreifen am linken Ärmel und rechten Hosenbein, verbrachten Sie unter der nichtssagenden Postanschrift Berlin N 4, Postfach 18 - 25 K; unter deutschem Kommando : BAUTZEN, Postfach 100, Personen-Nr. 70/A fünf Jahre im Zuchthaus, aus dem Sie am 16. 01. 1954 entlassen wurden.
In West-Berlin wurden Sie als Spätheimkehrer anerkannt. Doch wovor standen Sie, als fast 25jähriger? Was hatten Sie denn gelernt? Während Sie Ihre Uniform trugen, waren zwei deutsche Staaten entstanden, boomte erstmals die Bundesrepublik, debattierte man über die Wiederbewaffnung, hatten wir anderen hier die Schule besuchen oder schon mit dem Studium beginnen können. Als Sie, aus Berlin ausgeflogen, mit Ihrer gesamten Habe, nämlich einem Pappkarton, in Hannover ankamen, standen Sie da nicht „draußen vor der Tür“? 1955 legten Sie in einem Lehrgang für Spätheimkehrer Ihr Abitur ab; begonnen hatte Ihre Schulzeit 1935.
Nach dem Abitur haben Sie anfangs Theaterwissenschaften studiert – Sie haben bei Hilpert am Deutschen Theater kurz lernen können – dann Deutsch, Geschichte, Philosophie. Nach dem 1. Staatsexamen waren Sie ein viertel Jahr Moped-Kennzeichen-Versicherungs-fachmann bei der Gothaer Allgemeinen, kamen anschließend zum Vorseminar in Rinteln, von da zum Studienseminar Göttingen und sind nun seit Ihrem Assessoren-Examen seit April 1963 in Osterholz-Scharmbeck.
Gesellschaftliche Veränderungen in der Bundesrepublik Ende der 60er Jahre zeigten Sie aufgeschlossen auch für Veränderungen in der Schule, für die Orientierungsstufe, für den Gedanken der Gesamtschule, als das Gymnasium und der Philologenverband, dessen Ortsgruppenvorsitzender Sie zeitweise waren, Ihnen nicht mehr zeitgemäß erschienen. Sie haben sich dann anders orientiert. Die Erfahrung hat Sie allerdings seitdem gelehrt, im Gymnasium moderner Form die Stätte zu sehen, in der am ehesten das Bildungsziel zu verwirklichen ist, das ich in Ihrem Sinne vielleicht in Kernsätzen so formulieren könnte: Die Qualität einer Schule wird in der harten hingebungsvollen Erziehungsarbeit des Tages geprüft. Auf der Wunschliste des Schülers steht obenan, etwas Sinnvolles fürs Leben zu lernen, gefordert zu werden, vor allem aber, gerecht behandelt zu werden. Die Schule ist die erste staatliche Instanz, mit der es der Schüler in seinem Leben zu tun bekommt. Es wäre eine Katastrophe, wenn er schon hier einsehen müsste, dass man sein Recht nicht bekommen kann, dass mit zweierlei Maß gemessen wird oder dass die Anforderungen zu billig oder zu hoch sind. Zu den verständlichen Schülerwünschen gehört aber auch Ordnung, die nicht Selbstzweck sein darf, sondern ermöglichen muss, dass zwischen den Teilnehmern am Schulleben ein Geist der Freundlichkeit wirken kann. Die Eltern haben das Recht, von den Lehrern eine angemessene wissenschaftliche und pädagogische Leistung zu fordern. Reform ist die Möglichkeit, die Formen, nicht jedoch die Grundsätze in Frage zu stellen. Leistungswille ist der Gegenpol zu geistiger Gammelei.
Und so haben Sie in all den Jahren als engagierter Lehrer einen hohen Anspruch an Ihre Schüler gestellt, ob in Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde, Philosophie. Forderungen an die jungen Menschen zu stellen, Leistungen von ihnen zu verlangen und ihnen nicht die Illusion vorzugaukeln, in der Schule oder im Leben werde Nichtstun belohnt, war gleichrangig für Sie mit Förderung.
Nach dem Eindruck älterer Leute – und das können die auch immer beweisen – lernt die jeweilige Jugend stets weniger als die Alten in ihrer Jugendzeit. Das mag ein Grund dafür sein, dass ich in Ihnen am Ende Ihres Schuldienstes einen entschiedenen Befürworter des Gymnasiums als der Schulform sehen, die die Forderungen der intellektuellen Bildung und der sozialen Bildung junger Menschen auch in Zukunft erfüllen kann.
Die reformierte Oberstufe sah in Ihnen einen engagierten Verfechter. Ihre besondere Aufgabe wurde die Organisation des Abiturs. Über mehrere veränderte Auflagen der VGO mit einer Fülle dazugehöriger Erlasse und Verfügungen mussten Sie immer wieder Schüler und Eltern informieren, Kollegen beraten, und es hat immer geklappt, es sind keine Fehler unterlaufen, die uns vor das Verwaltungsgericht geführt hätten. Jeder Abiturient dieser Schule müsse über Ihren Schreibtisch, wie Sie einmal gesagt haben, und so hat kein anderer Kollege über die Jahre hinweg einen besseren Gesamtüberblick über unsere Abiturientenjahrgänge gewinnen können als Sie. Die Formen des Abiturs und besonders die Vielzahl von Abiturienten in den 80er Jahren haben Sie aber auch mit gewisser Wehmut an die ersten 10 Jahre Abitur denken lassen, als wir einfach mehr Muße und nicht diese Hektik für unser Tun hatten. Ich erinnere mich noch sehr genau und gern, wie wir beide uns vor mündlichen Abiturprüfungen zusammensetzten und jeden Prüfungstext eingehend besprachen. „Erwartungshorizont“ – dieses Wort gab es noch nicht, praktiziert haben wir es lange vor seiner offiziellen Einführung. Diese Vorgespräche waren für mich immer auch befruchtende Fachgespräche.
Wie fing eigentlich das Schulleben des Kollegen Schikore an einer höheren Schule an? Mit einem Wort: Hoffnungslos! Die Ferdinand-von-Schill-Schule, städtische Oberschule für Jungen in Stralsund, bescheinigte dem Schüler Klaus Dieter Schikore am Ende des dritten Vierteljahres 1940/41, dass er weder Mitarbeit noch Fleiß zeige, dass Deutsch, Englisch, Geschichte, Mathematik, Biologie mangelhaft, Erdkunde, Kunst, Handschrift vier seien, die Versetzung ausgeschlossen erscheine. Und was steht am Ende dieses Schullebens? Die Arbeit des Leistungsfachlehrers im Fach Deutsch wird offiziell folgendermaßen beurteilt: ‚Die Korrektur ist eingehend, genau und sachgerecht. Aus dem Korrekturbild ergibt sich schlüssig die Bewertung. Die Gutachten verzeichnen Vorzüge und Mängel der Arbeiten zutreffend und genau. Sie sind in sich schlüssig. Das Leistungsniveau wird in den Bewertungen bei einem vorbildlich strengen Maßstab zutreffend erfasst. Ein Viertel aller Arbeiten zeigt ein beachtlich hohes Leistungsvermögen.‘ – Ist das nicht eine Spanne?! Davon zu erzählen, muss allen Hoffnungslosen Mut machen, das ist ein Beispiel, das aufrichten muss.
Sie werden im Sommer für Wochen den festen Boden unter den Füßen aufgeben und auf einer Segeljacht die Ostsee durchkreuzen. Die Neigung zum Wasser liegt Ihnen offenbar im Blut: Schon Ihr Urgroßvater war Hafenmeister in Swinemünde, Ihr Vater fuhr im 1. Weltkrieg um Kap Hoorn. Das Meer ist hart, es verlangt und gebiert rauhe Typen, und wer hat nicht erfahren, wie unser Schiko manchmal poltern konnte, wie man sich an ihm reiben konnte, ja ganz gewaltig stoßen konnte!
Aber wer hat eigentlich von einer ganz anderen Seite gewusst, die empfindsame Worte, zarte Lyrik zu formen weiß? Ich zitiere:
Es ist nicht wenig, was aus stillen Stunden davon vorliegt. Sie sollten ihn einmal darum bitten. Es eignet sich, wie ich gehört habe, auch ganz hervorragend für Interpretationsaufgaben!
Sie haben, lieber Herr Schikore, sich gern als Schulmeister bezeichnet. Was steckte dahinter? Das Grimm’sche Wörterbuch sagt zu diesem Stichwort: 1. „In den Stadtschulen, wo man Latein lernt, ist das Wort verächtlich geworden.“ Deswegen haben Sie es wohl nicht gewählt. 2. „Der Schulmeister las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wusste nicht, was er gelesen hatte.“ Das passt wohl auch nicht. 3. „Gott will, man solle seine Schulmeister wie die Eltern in Ehren halten.“ Das könnte schon eher passen. 4. „Ein Schulmeister muss sein wie die Arche des Bundes im Alten Testament, denn in derselben war zwar die Rute des Aarons, aber auch das süßeste Manna.“ Das ist es: Es geht um Fordern und Fördern!
Hat der Kollege Schikore auch außerdienstlich Eindrücke, Streiflichter hervorgerufen? O ja, z. B. als rasanter Tänzer, der für sich und seine Partnerin ungeheuer viel Platz brauchte, da er diagonal in großem Tempo die Tanzfläche zu durchmessen pflegte. Statt einer Tänzerin genügte ihm dafür auch nur ein Teller, der mit Köstlichkeiten eines kalten Büffets gefüllt war. Oder: Schon in reiferem Mannesalter bestieg er den 10-Meter-Turm im Schwimmbad und verließ selbigen mit einem wirklich vollendeten Kopfsprung. Die bewundernden Rufe der jüngeren Damenwelt konnte er wegen des Eintauchens ja nicht hören, aber die Blicke, als er das Wasser verließ!
Lieber Herr Schikore, ich gebrauche nicht die Worte „Sie haben sich um die Schule verdient gemacht“, denn die sind im politischen Bereich zu oft gesprochen worden und zu oft auch für Unverdiente, aber ich bin überzeugt und befinde mich sicher in Übereinstimmung mit den Anwesenden, wenn ich sage, dass 28 Schülerjahrgänge Ihnen zu Dank verpflichtet sind. Wir, das Kollegium, die Schule, werden ohne Sie ärmer sein. Ich wünsche Ihnen gemeinsam mit Ihrer lieben Frau noch viele Jahre eines bewegten, tätigen Ruhestandes.
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