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1.1.4 Nach-Wort im Jahrbuch an die Entlassenen des Abiturjahrgangs1988

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(StD. Klaus Schikore (Kurslehrer u. Abiturkoordinator)

Unser Leben hat viele Abschiede. Einer der leichtesten ist wohl der von der Schulzeit: 13 Jahre „Zwang“ – im Einzelfall mögen es auch 14 sein – können über Bord geworfen werden, und man fühlt sich in der frisch gewonnen geglaubten „Freiheit“ am Beginn seines nun eigentlich erst richtig eigenständigen Lebens, am Anfang seiner „Selbstverwirklichung“. So viele Anführungszeichen, so viele Einschränkungen schon beim Nach-Wort auf die zu Entlassenden?

Nach-Wort ist nicht „Nachruf“ – unsere Sprache unterscheidet hier recht gut. Nach-Wort ist hier gemeint von einem, der bleibt, an die, die gehen oder schon gegangen sind: in ihren Hoffnungen, Wünschen, Plänen. Es ist der Gruß des Lehrers (er bleibt: in seiner Pflicht vor dem nächsten Jahrgang, der nächsten Schülergeneration) an die Schüler, die gegangen sind, mit einem Zertifikat in Händen, von dem man meint, es öffne die Tür Eurer Berufswünsche, und das landläufig doch immer noch „Reifezeugnis“ genannt wird. Welche Widersprüche müsst Ihr nun neu erfahren?

Was haben wir Euch also mitgegeben, wenn das Nach-Wort eines Bleibenden Euch beim Fortgang begleitet? Sind nicht Zweifel angebracht an dem, was Präliminarartikel zum Schulgesetzt an Erziehungs- und Bildungsauftrag einer Öffentlichkeit vorstellen, und dem, was Schulwirklichkeit daraus macht? Hier liegt doch ein erster Grund für den „Zwang“, dem Ihr nun enthoben zu sein meint. Aber an dieser Schulwirklichkeit, unserem Schulalltag, sind beide Seiten beteiligt: Lehrer und Schüler. Jenen Widerspruch zwischen Auftrag und Alltag müssen wir uns teilen.

Hier liegt die Wurzel jenes „Zwanges“, den Ihr nun meint, hinter Euch gelassen zu haben; hier liegt das Grundverständnis oder Missverständnis von „Freiheit“, die Ihr durch die Schule vorenthalten bekommen zu haben meint; hier liegt der Anfang aller „Selbstverwirklichung“, von der viele meinen, mit so schneller Zunge reden zu müssen. Schüler und Lehrer sind auf Jahre – mal kürzer, mal länger – aufeinander angewiesen. Sicher, wir suchen einander nicht aus, und einige verstehen einander, andere nicht – aber, das ist ja nicht jener „Zwang“. Sondern der tägliche Ablauf der (doch noch) kleinen Pflichten: das tägliche Aufstehen-Müssen, der tägliche Gang zur Schule, die Hausaufgaben (wenn man sie gemacht hat), die Klassenarbeiten oder Klausuren, die Zensuren, die Zeugnisse … das sind doch all diese Zwänge. Und in ihren wöchentlichen, monatlichen und jährlichen Wiederholungen seht Ihr ja uns, die Lehrer.

„Mich schafft diese Schule“ hörte ich dieser Tage eine Schülerin besonders laut sagen, als ich vorbeiging. So haben doch die meisten von Euch – sicher gab und gibt es Ausnahmen – auch empfunden. So müsst Ihr ja auch empfunden haben – Ihr seid doch jung. Und wer sieht in Eurem Alter und aus eigenen Stücken oder gar gerne ein, dass Schule notwendig der erste gesellschaftliche Kontrapunkt Eures heranwachsenden und sich orientierenden, sich probierenden Lebens ist? Und wir Lehrer sind es, an denen Ihr Euch – zugestandenermaßen oder nicht – reibt und gerieben habt. Bildungsauftrag und Schulalltag: Reibefläche Eurer Individualitäten! Persönlichkeiten wachsen selten in Harmonie. Solltet Ihr diese Erfahrung beim Abschied, beim Fortgang über Bord werfen, vergessen wollen?

Unsere persönliche Freiheit ist bestimmt durch die Notwendigkeit sozialer (= mitmenschlicher) Verantwortung. Hierfür muss ich mich in die Pflicht nehmen lassen. Die Gesellschaft, in die wir Euch entlassen, ist eine Ellenbogengesellschaft, die nur an das denkt, was sie hat und was ihr nützt, die Sinn und Inhalt von Leistung nur misst nach Zahl, Haben und Gewinn. (Das Gegenbild – es gibt es noch – wird eher ausgelacht als ernstgenommen.) In diese Gesellschaft, die ihr soziales Gewissen mit der täglichen Statistik über Millionen von Arbeitslosen, mit täglichen Hunger- und Elendsbildern aus den unterentwickelten Gebieten der Erde, mit ministerieller Beschönigung immer neuer Umweltkatastrophen fernvisuell beruhigt und danach abschaltet, wachst Ihr mit Eurer „Schulweisheit“ hinein. Haben wir Euch denn die Reife vermittelt, die Ihr braucht, diese Welt für Euch selbst zu begreifen und zu bewältigen? Welche Freiheit habt Ihr denn noch – wenn nicht die aus Euch selbst heraus –, Euch diese Welt lebenswert zu gestalten?

Bei dieser Frage komme ich zurück zu jenem „Zwang“ der Schule, zu den „kleinen“ Pflichten: Sie fordern uns täglich. Aber wenn wir uns täglich in der von uns geforderten Pflicht üben (auch und gerade gegen den „inneren Schweinehund“), haben wir es im Leben leichter, die Forderung der Gesellschaft an uns zu begreifen und zu bestehen. Das hat die Schule zu leisten: lernen, dass wir eines Tages selbst Verantwortung zu übernehmen haben gegenüber dem Mitmenschen. Das kann ich nur, wenn ich gelernt habe, mich selbst in die Pflicht zu nehmen. Ich glaube, diese Erfahrung nehmt Ihr doch mit hinaus, wenn Ihr geht. Auch das macht den Abschied leichter – trotz aller Ungewissheit über den kommenden Weg, den Ihr geht.

Es zählen nicht die Punkte, die Ihr auf Eurem Abiturzeugnis mit auf den Weg nehmt … (sicher, für den Numerus Clausus einer zentralgesteuerten Studiumzulassungsquote haben sie Funktion) – aber das meine ich hier nicht. Denkt auf Eurem weiteren Lebensweg und später im Beruf nicht an diese oder ähnliche Ziffern. Was besagen sie schon? Noten, Schlüsselzahlen für den vermeintlichen Erfolg. Es zählt im Leben nur, ob Ihr anständig geblieben seid: vor Euch selbst und gegenüber anderen. Dieser Wunsch möge Euch an Eure Schule erinnern.

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SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert

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