Читать книгу SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert - Klaus Schikore - Страница 9
1.1.5 Abiturientenentlassung Gymnasium OHZ am 14. Juni 1991
ОглавлениеFestansprache: StD. Schikore
(LK-Kurslehrer u. Abiturkoordinator)
Meine Damen und Herren!
Sehr geehrte Eltern!
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Ich schließe in der Stunde Ihrer Entlassung, in der Stunde Ihres Abschieds auch den jungen Menschen mit ein, dessen Abschied – es war sein letzter – noch vor uns allen liegt und der doch gerne den heutigen Tag miterlebt hätte: Maik Junghans. An seinem kurzen Leben haben Sie wohl etwas von dem geahnt, was geschehen ist und wie schnell sich in einem Leben Anfang und Ende ereignen. Wie bewältigen wir unser Ereignis Leben? Welche Dauer ist uns zugemessen? Was überdauert uns?
Auch in dieser Stunde ereignet sich Geschehen und lässt Geschichte ahnen: Die Schule liegt hinter Ihnen als Vergangenheit, vor Ihnen öffnet sich Zukunft. Und nicht jedem Schülerjahrgang zeigt sich Geschichte in ihrem konkreten politischen Geschehen so hautnah und weltumfassend wie dem Ihrigen: Die Ereignisse der Jahre 1989, 1990 und dieses Jahres halten uns in unseren, sie begleitenden Wünschen, Hoffnungen und auch Ängsten in Atem und machen uns betroffen. Diese Betroffenheit sucht Antwort im Fragen an die Geschichte. Darum lassen Sie mich heute von der „Verantwortung vor der Geschichte“ zu Ihnen sprechen.
Das Wort ‚Geschichte‘ scheint uns bei einer ersten Begegnung mit ihm immer etwas sehr Fernliegendes, fast Fremdes und Sachliches zu sein. Wir meinen sehr oft – zu oft –, uns aus unserem Heute, aus dem Augenblick begreifen zu sollen. Doch Geschichte wohnt schon in unserem Erinnern sehr dicht bei uns. Und jeder Schritt, den wir in das Leben tun, ist zugleich ein Schritt in die Geschichte, in unsere Geschichte. Der Mensch ist in seinem Seins-Verständnis und in seinem politischen Tun ein zutiefst historisch bestimmtes Wesen. In seiner jeweiligen Gegenwart ist er in seinem Handeln und Denken immer bezogen auf seine Vergangenheit und gerichtet auf seine Zukunft, und das heißt zugleich: gerichtet auf das, was auf uns zukommt. An diesem Schnittpunkt von Gestern und Morgen – unserer Gegenwart – sind wir zu einer Entscheidung gefordert: geschehen zu lassen, was uns geschieht, oder selbst handelnd in das Geschehen einzugreifen und es mit zu bestimmen. Hier liegt eine Wesensbestimmung des Menschen, hier liegt die Wurzel dessen, was wir zu verantworten haben.
Ich möchte zum Grundverständnis des Gesagten noch ein weiteres Bild als orientierende Begriffsklärung hinzufügen: Geschichte ist Stein gewordenen Politik. Seine äußere Schale ist der Witterung von Zeit und Geschehen ausgesetzt und wird von immer neuen Schichten überlagert, bis sie – selbst Vergangenheit geworden – in ihrem sedimentären Kern Gegenwärtigen verborgen ist. Erst Neugier, Interesse und Wissensdurst nach unserer Herkunft lassen uns als Gegenwärtige den Bohrer an jenen Stein ansetzen und nach Erkenntnissen über das Vergangene suchen. Was wir an hervorgeholtem Sedimentgestein sortieren, analysieren und aufzeichnen, ist ein punktuelles Erkennen unserer selbst, dessen Wissenswertes wir festhalten, damit es Künftigen bewusst werde und eine Spanne Zeit vielleicht auch bleibe. Das heißt nun auch in andere Richtung, auf die Zukunft hin: „Wer nach vorne fragt, sieht sich unvermeidlich von rückwärts her gefragt.“ In dieser einfachen Formel meines längst verstorbenen alten Göttinger Hochschullehrers Reinhard Wittram liegt eine für unseren historischen Lernprozess grundlegende Einsicht: Wir bleiben in der jeweils neuen Generation gebunden an das Tun der vorangegangenen, wir bleiben vor der Geschichte in der Verantwortung der Generationen.
Nun ist alles Suchen nach Erkenntnis über uns auch ein Lernen an uns. Lernen aber ist immer – neben allem Festhalten an Überlieferungswertem – auch ein Begehen von Fehlern. Ich greife wieder zu einer Formel meines alten verehrten Lehrers: „Nichts auf Erden ist ohne Geschichte, kein Irrtum und keine Wahrheit.“ Hier stoßen wir auf eine weitere Bedingtheit unserer historischen Existenz: Indem wir in ein Zeitalter hineingeboren werden, sind wir Partner, Teilhaber seiner Irrtümer und Wahrheiten. Welches aber sind unsere Irrtümer, welches unsere Wahrheiten? Hier liegt eine weitere, nicht gering zu veranschlagende Schwierigkeit, Geschehen zu verantworten. Wir bleiben eingebunden in den Relativismus unserer historisch-ideologischen Bedingtheit, die immer auch ein Relativieren von Werten meint. Von hier aus wird die Begründung politischen Handelns aus einer historisch gesetzten sittlichen Norm schwierig.
Ich will mein Thema nicht ausweiten, ob und wieweit unser politisches Handeln aus dem Bekenntnis zu einer Gesinnungsethik begründet oder von der Einsicht in eine Verantwortungsethik geleitet ist. Ich will nur den Unterschied skizzieren, aus welchen Motiven politisches Handeln historisch dokumentiert ist. Wenn auf den Kreuzzügen des Mittelalters – ich muss in den Vergleichen stark vereinfachen – die Glaubenskrieger mit der Bibel und dem Schwert in der Hand zum Kampf gegen die Ungläubigen (welche doch auch Gläubige waren) auszogen, dann lag in dem politischen Machtanspruch der Päpste der Absolutheitsanspruch auf die alleinige und ewige Wahrheit. Wenn in den roten Revolutionsarmeen unseres Jahrhunderts die geschundenen Proletarier mit den Parolen eines Marx und Lenin im Munde und mit dem Gewehr in der Hand zum Sturm auf die Paläste zogen, dann lag in dem politischen Anspruch auf Weltrevolution der Absolutheitsanspruch des Menschen auf Verwirklichung eines Erdenglücks. Nicht Kreuzritter, nicht Barrikadenkämpfer zählten die Toten, die im Namen ihrer Fahnen durch ihre Schwerter oder ihre Kugeln endeten. Segen oder Weihe jener Fahnen vollzog sich nach den Forderungen einer religiös bzw. ideologisch verbrämten institutionellen Moral.
In diesen beiden grob skizzierten historischen Bildern liegt ein in unserer gesamten abendländischen Geschichte nachzuzeichnender Dualismus unseres Wertebewusstseins. Einfacher ausgedrückt: die Frage nach ‚Gut‘ und ‚Böse‘ und nach dem ihr innewohnenden Widerstreit. Dies ist und bleibt zugleich die Frage nach der moralischen Instanz unseres politischen Tuns, die Frage nach unserer persönlichen Verantwortung.
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ – dieser von dem großen deutschen Philosophen Immanuel Kant 1788 in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ formulierte Kategorische Imperativ ist gleichsam das moralische Einzugsmotto der Neuzeit. Antike und Christentum finden in ihren Wertvorstellungen bzw. in ihrer Wertetradition zu ihrem abendländischen Kulminationspunkt: dem Humanismus. Hier liegt der Beginn unseres neuzeitlichen politischen Selbstverständnisses, der Beginn einer auf der Freiheit der Person und auf Recht und Gesetz ruhenden staatlichen Ordnung. Und jener Kategorische Imperativ entsprang dem Geist der Aufklärung.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit … Selbstverschuldet ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Diese Worte Kants richten sich an den einzelnen und fordern ihn auf, sich im Denken und durch das Denken vernünftig zu orientieren, um zu praktischem – sprich: moralischem – Handeln zu gelangen. Erst in seiner Mündigkeit wächst dem Menschen Verantwortung zu.
An den Beginn unseres modernen politischen Selbstverständnisses gehört auch der Name des Mannes, gegen den wegen seiner ketzerischen Schriften Haftbefehl erlassen wird und dessen Bücher öffentlich verbrannt werden: Jean Jaques Rousseau. „Der Mensch wird frei geboren“, sagt er und „überall liegt er in Ketten.“ Und diese Unterdrückung beginne mit dem Eigentum: „Der erste, der sein Stück Land einzäunte und sagte: das gehört mir, war der Gründer des Staates und der Ungleichheit.“ Dennoch sieht Rousseau gerade im Staat die Ermöglichung und Verwirklichung von Freiheit: Indem ihm der allgemeine Wille freier Individuen in einem Gesellschaftsvertrag (contrat social) zugrunde gelegt wird. Hier haben wir das Postulat der Volkssouveränität. Und so lautet die Konsequenz seines Freiheitsbegriffs: „Der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit.“
‚Vernunft‘ und ‚Freiheit‘ – gebunden in der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft als die Garanten, uns den Menschheitstraum vom Frieden zu ermöglichen, vom Glück, von Würde?
Was aber ist von diesem Menschheitstraum vom Frieden, vom Glück, von der Würde geworden? Widerlegen nicht die uns fast gegenwärtigen Bilder vom Todesmarsch des kurdischen Volkes, die Schreie aus den Elendsregionen und Flüchtlingslagern dieser Welt jene Vokabeln von ‚Freiheit‘ und ‚Vernunft‘‘ in der Geschichte? Bestätigen sie nicht vielmehr die Unfähigkeit des Menschen, aus der Geschichte zu lernen und sich seiner Verantwortung bewusst zu sein? Wir stoßen hier auf die Frage, was wir im Wissen um unsere Geschichte anderen schuldig sind. Wir stoßen hier auch auf die Frage nach der Schuld in unserem politischen Tun, die sehr dicht bei unseren Entscheidungen wohnt. Wir stoßen hier auf das Problem der Schuld in unserer Geschichte. Ich sagte einmal an anderer Stelle: Erst wer schuldfähig ist, weiß um Verantwortung. Das hieße umgekehrt: Ein Politiker, der um Schuld nicht weiß, handelt ohne Verantwortung, ist verantwortungslos.
Lassen Sie mich, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, in diesem letzten Teil meiner Ausführungen persönlich zu Ihnen sprechen und den Geschichtslehrer, der ich in all den hinter mir liegenden Jahren auch war, etwas zurückstellen. Sie und ich, wir sind Reisende auf dem Bahnsteig „Schule“, auf dem es immer ein Kommen und Gehen gibt. Wir sind die Gehenden – nur mit dem Unterschied: Sie verlassen die Stätte Ihres Lernens heute, ich die meines Lehrens wenige Tage später. Sie stehen im Aufbruch, ich im Abruf. Und noch ein Unterschied ist da: Sie gehen in die Verantwortung hinein, ich gehe aus der Verantwortung hinaus – und dennoch bleiben wir in der Verantwortung der Generationen. Ich habe Ihnen jetzt noch zu sagen, worin wir unserer Verantwortung bewusst werden.
Ich komme aus einem Deutschland, das in meiner Kindheit und Jugend sehr anders war und viel größer als das, in dem Sie aufgewachsen sind. Das Land, in das Sie hinausgehen, ist nun wieder größer als das, in welchem Sie groß geworden sind, aber doch um ein Beträchtliches kleiner als das meiner Kindheit. Ich komme aus einem Deutschland – und es ist jetzt auch das Ihre –, dem zweimal in seiner Geschichte Schuld zugewiesen worden ist: für die Jahre der NS-Herrschaft und für die Jahre der SED-Herrschaft. Zu beiden Zeiten sind Verbrechen begangen worden, am Menschen: Er wurde verfolgt, in Lager verfrachtet, gefoltert, getötet – Zahlen machen hier keinen Unterschied, sie sind groß genug. Aber auch heute wird verfolgt, gefoltert, getötet – auf allen Kontinenten dieser Welt. Wo bleibt uns Orientierung?
Ich bin in dieses Land geflüchtet, um statt Unfreiheit und Verfolgung Freiheit und Recht kennenzulernen. Ich habe beides kennengelernt, und ich habe mich bemüht, diese Kenntnis an junge Menschen weiterzugeben. Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, gehören einer Generation an, der das Wissen um diese Grundwerte von Recht und Freiheit schon längst historischer Bestand geworden ist. Sie waren aber gleichzeitig junge Zeitzeugen einer historischen, weil gewaltfreien Revolution gegen Unrecht und Unfreiheit im damals anderen Teil Deutschlands. Helfen Sie, wenn Ihr Weg Sie heute in diese neuen Landesteile führt, denen, die so lange auf Recht und Freiheit haben warten müssen und denen es heute so schwer fällt oder so schwer gemacht wird, sich in der neuen Freiheit zurechtzufinden. Nehmen Sie dieses Land an: seine Berge, seine Küsten, seine Wälder und Seen, seine Menschen und ihre Geschichte.
Sie werden dort – sollten Ihr Beruf oder Ihr Interesse es erfordern oder wollen – auch seelische Not finden und auf Schuld stoßen. Der Mensch lässt sich viel einfallen, seinen Mitmenschen zu beherrschen, zu quälen um des eigenen Vorteils oder einer politischen Idee willen.
Doch bedenken Sie: Es gibt keine Kollektivschuld eines Volkes – weder für die Jahre 1945 bis 1990 noch für die Jahre 1933 bis 1945. Es gibt nur Schuld im Sinne einer Täterschaft des einzelnen. Das gilt auch für unsere deutsche Geschichte. Doch weder Verdrängung eines historischen Tatbestandes noch Verhärtung in kollektiver Schuldzuweisung führen zu Verantwortung vor der Geschichte. Das Wissen um unsere Geschichte ist unser innere Kompass, die Kompassnadel unser Gewissen. Dies erst macht uns politikfähig.
Der Mensch ist ein Wesen mit Gedächtnis und Gewissen. Dadurch wächst Geschichte ein Stück Humanität zu. Es ist unsere Aufgabe, dass um sie gewusst wird und dass sie uns nicht abhandenkommt. Ich vertraue Ihnen auf Ihrem Weg in die Geschichte. Ich entlasse Sie in die Humanität Ihres Handelns.
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