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1.1.3 „Widerstand und Friede – die Verantwortung vor der Geschichte

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“Verabschiedung der Abiturientinnen und Abiturienten am 12. Juni 1987 (Festansprache: StD. Schikore)

Werte Gäste! Werte anwesende Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Eltern unserer zu verabschiedenden Schüler!

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Ihr eigentlich angesprochenen in dieser Stunde!

Gestattet dem Älteren in der Stunde des Abschieds noch einmal das vertrautere Personalpronomen, um Euch in einer unpersönlicher werdenden Zeit den Übergang zum Neuen, noch Unbekannten, nicht allzu krass erscheinen zu lassen.

Ich habe aus drei Überlegungen lange Zweifel gehabt, ob ich der Bitte von Herrn Rechtmann, Euch im Namen der Schule zu verabschieden, entsprechen solle. Erstens: Ist nicht Euer heute von uns bescheinigte Erfolg und der nicht zu verschweigende Nicht-Erfolg von institutionellen und personalen Unwägbarkeiten beeinflusst worden? Was soll da eine Feier zum Abschied? Zweitens: War nicht Eure Schulwirklichkeit ein „Büffeln“, ein „Jagen“ nach Noten, Punkte – und davon möglichst gute und möglichst viele –, mit denen Euch Staat und Gesellschaft durch computergesteuerte Zähl- und IQ-berechnete Testverfahren die Startbedingungen in eine „Leistungselite“ oder in ein „Aussteigerdasein“ offen oder geschlossen halten? Was sollen da Wünsche zum Abschied? Drittens: Was erinnert Euch denn später einmal an diese namenlose Schule, diese anonyme Bildungseinrichtung, die in verordneter Traditionslosigkeit versäumt hat, Euch Leitbilder vorzugeben, deren Wirken und Lebensweg Jüngere, Nachkommende zu eigenverantwortlichem Handeln motivieren? Was sollen in einer zunehmend sprachlosen Zeit Worte zum Abschied? Lasst Ihr nicht vielmehr den Vorwurf an uns zurück, Euch sprachlos gemacht zu haben in einer Zeit, die so dringend der Worte bedarf? Ich versuche, Euch zu antworten. –

Im Frühjahr des Jahres 1986, in der Woche nach Tschernobyl, wird in der 5. Klasse der Bielefelder Laborschule die Frage behandelt, wie es mit unserem Planeten weitergehen werde. Ein 11jähriger Junge schreibt zu dem Thema: „Es wird keinen Krieg mehr geben, die Luft wird wieder klar sein. Die Menschen werden nur noch Katalysator-Autos fahren. Computer wird es bald auch nicht mehr geben, weil die Menschen immer mehr arbeitslos werden. Die Bombenflugzeuge werden abgeschafft. Die Bäume werden grüner. Die Leute werden viel vernünftiger. Sie kapieren, dass das Ganze falsch war.“ Auch dies schreibt ein dreizehnjähriges Mädchen: „Die Erde wird vernichtet. Das Leben ist nur noch mit Robotern möglich. Die Häuser, Straßen und Firmen bestehen aus Eisen, Blech und Kunststoff. Autos werden durch Raumschiffe und Eisenroller ersetzt. Das Leben ist ohne Helm unmöglich; er besteht aus einem Funkgerät, einer Gasluftmaske, einer Antenne und einem kleinen Bildschirm. Es ist nirgendwo etwas Grünes zu sehen. Alles ist grau, hart und kalt. Die Menschen ernähren sich von künstlichen Sachen. Erdöl, Gas, Steinkohle und die anderen Metalle gehen langsam zu Ende. Der Tageslauf besteht aus Heroin, Alkohol und Schlägereien. Bald gibt es keine Menschen mehr. So stelle ich mir die Zukunft vor.“

100 Jahre zuvor schreibt ein deutscher Philosoph, Friedrich Nietzsche, die seherischen Worte: „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon in einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“

Niemand weiß, was aus jenen Kindern, die so geschrieben, wird. Die älteren von uns haben alle ein Stück von dem, was Nietzsche sah, erfahren: Verdun, Stalingrad, Auschwitz, Dresden, Hiroshima. Spiegelt sich nicht in den naiv-erschreckten Kinderaugen die zu Ende gedachte Logik unserer historischen Existenz wider?

Ich bin bei meinem heutigen Thema: Widerstand und Friede - die Verantwortung vor der Geschichte. Ich habe dieses so scheinbar gegensätzliche Wortpaar aus einer Sammlung von Aufsätzen zur Politik des von mir sehr geschätzten marxistischen Philosophen Ernst Bloch übernommen. Bloch ist jener Denker, der uns das „Prinzip Hoffnung“ als konkrete Utopie einer in der Zukunft zu verwirklichenden realen Demokratie vorstellt, indem der arbeitende Mensch sein Dasein radikal begreift, es an der Wurzel fasst und sich Heimat gründet. Und das – so müssen wir heute feststellen – in einer Zeit, da die Menschheit im Begriff ist, sich radikal auszulöschen. Wo ist Euch Hoffnung? Wo ist Euch Zukunft?

Ein Grundübel, dem es zu widerstehen gilt: der Verlust von Eigenverantwortung und die Herrschaft durch Fremdbestimmung. Nicht erst seit heute wissen wir, dass die einst in der Geschichte mit viel Verzweiflung, Blut und Tränen erstrittenen Freiheitsrechte des einzelnen, dass die Vorstellungen der Menschen von einer vom Volkswillen getragenen und legitimierten Herrschaft zu reiner Makulatur in Schullehrbüchern und Propagandaschriften politischer Parteien degradiert worden sind. Im Zeitalter von Atomkernspaltung und Genmanipulation gelten andere Herrschaftsbedingungen. Der konservative Soziologe Helmut Schelsky hat das Verhältnis zwischen Mensch und Staat im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Zivilisation – schon 1961 – wie folgt definiert: „An die Stelle des politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert … Der Sachzwang der technischen Mittel, die unter der Maxime einer optimalen Funktions- und Leistungsfähigkeit bedient sein wollen, enthebt von diesen Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr ‚herrscht‘ man, weil sie funktioniert und solange sie optimal funktioniert … hier ‚herrscht‘ gar niemand mehr, sondern hier läuft eine Apparatur, die sachgemäß bedient sein will … Das Volk im Sinne des Ursprungs der politischen Herrschaftsgewalt wird dann zu einem Objekt der Staatstechniken selbst.“

Dies ist doch die Sprache, die wir täglich aus den Medien und selbst aus den Sitzungssälen unserer Gemeinwesen hören: dieses „optimale funktionieren“, diese „technischen Notwendigkeiten“, diese „Sachgesetzlichkeiten“ und „Planvorgaben“. Das ist doch der Zustand, in dem wir heute leben: abhängig, gespeichert und gesteuert von einer anonymen Apparatur, die uns den vermeintlichen Spielraum individueller Freiheit und politischer Eigenverantwortung nur noch in von sogenannten Sachzwängen bestimmten Fachausschussentscheidungen belässt. „Management“ ist heute gefragt. In den Top-Etagen der großen Glaspaläste managet man Arbeitsplätze wie Börseneinlagen; unsere tägliche Angst um Berufswahl, Broterwerb und Alterssicherung ist Arbeitsmarktstrategien, Inflationsraten und Außenhandelsbilanzen ausgesetzt. Und alles unter der verführerischen Zauberformel: „Mehr Wachstum“. In den Hauptstädten der Welt planen an Konferenztischen Krisenstäbe ihr Krisenmanagement, während die Menschen sich in Städten und Dschungeln zerbomben, zerfleischen oder in Wüsten verhungern. Und alles unter dieser gedanken- und bedenkenlosen Devise: „Weiter so.“

Das zweite Grundübel, dem es zu widerstehen gilt: der Verlust an Frieden und die Herrschaft durch Abschreckung. Seit den Tagen des alten Heraklit geistert das Leitwort des Krieges durch die Menschhirne, dieses „pólemos patér hapánton“: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“. Zweieinhalbjahrtausende Menschheitsgeschichte haben nicht vermocht, die Zahl der Getöteten und die Stätten der Zerstörung dem Machtwahn Einzelner oder einzelner Staaten als abschreckendes Beispiel vorzuhalten. Vielmehr halten Politiker und Militärs Eurer Generation mit dem Strategiekonzept einer nuklearen Abschreckung Waffenarsenale und Vernichtungspotentiale bereit, die, kämen sie zur Anwendung, ein Nachdenken darüber unmöglich machten: Es gäbe uns nicht mehr. Und nicht wenige von Euch müssen solche Waffen handhaben lernen, die uns alle töten. Das ist heute die Perversion, die letzte Konsequenz des Waffenhandwerks. Wir wären unaufrichtig, feige, würden wir Euch das nicht sagen.

Bevor ich zur Skizzierung der Wurzeln dieses Übels komme, muss ich eine in der Öffentlichkeit gerne vorgebrachte Behauptung richtigstellen: Erst der militärischen Präsenz und der nuklearen Abschreckung verdankten wir in Europa seit mehr als 40 Jahren den Zustand des Friedens. Das stimmt ja so gar nicht: So wie es den ‚schäbigen Krieg‘ gibt, gibt es auch den ‚faulen Frieden‘ (Bloch). Und in einem solchen Zustand leben wir hier in Europa seit 1945: An mehr als 150 Kriegen mit mehr als 30 Millionen Toten sind in diesen vier Jahrzehnten die Bündnisländer beider Militärblöcke, NATO und Warschauer Pakt, beteiligt gewesen mit Waffenlieferungen, Ausrüstungen, Ausbildern und Geld. Auch unsere Rüstungsindustrie verdient am Geschäft mit Waffen.

Wo aber sind die Wurzeln dieses Unfriedens? Kriege finden nicht aus heiterem Himmel statt, Kriege werden gewollt, d. h., sie werden im Innern des Menschen geboren und sind Ausdruck friedloser Gesinnung. Ein einzelner Mächtiger, eine Gruppe von Mächtigen, eine Weltmacht will den Krieg und beschließt ihn dann auch. Da aber kein Politiker und keine Regierung gerne zugeben, Macht- und Eroberungsgelüste zu befriedigen, muss das Argument der Verteidigung, der Notwehr Existenz und Handlungen des Militärs rechtfertigen. Das aber heißt – ich zitiere jetzt wieder Nietzsche: „…sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muss, wenn unser Staat notwendig an die Mittel der Notwehr denken soll … Diese Voraussetzung ist aber eine Inhumanität, so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie dem Nachbar die Immoralität unterschiebt und dadurch die feindliche Gesinnung und Tat zu provozieren scheint.“

Wir stoßen hier auf die nächste Wurzel des Übels: Feindliche Gesinnung setzt Feindbilddenken und Bedrohungspsychosen voraus. Und wer sich bedroht denkt, rechtfertigt das Mittel massiver Abschreckung, die selbst wieder Drohung ist und erneute Bedrohung auslöst. Von all dem – glaube ich – haben gerade wir Deutschen in unserer jüngsten Geschichte genug erfahren. Aber gelernt zu haben aus ihr scheinen wir nicht.

Ich befürchte, die jüngsten mahnenden Worte des Bundespräsidenten auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr sind auf wenig offene Ohren gestoßen. Wenn der verantwortliche Minister auf der 24. Wehrkundetagung in München im Februar dieses Jahres ein nachlassendes Bedrohungsbewusstsein der westlichen Bevölkerung bedauert und kritisiert hat und der Generalinspekteur der Bundeswehr auf jener Kommandeurstagung in Oldenburg als Begründung neuer Rüstungsforderungen die Bedrohung aus dem Osten angeführt hat, dann zeigt sich hier staatliche Macht nicht bereit, ja, unwillens, auch nur im Ansatz militärische Denkkategorien aufzugeben – und wir bedürfen so dringend friedfertiger! „Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus – das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss.“ Vor dieser Chance – von Nietzsche uns vor über 100 Jahren in Worten hinterlassen – steht die Menschheit jetzt.

Nur fürchte ich, das erste große, mit viel Hoffnung in Ost und West erwartete Abrüstungsvorhaben im Bereich der atomaren Mittelstreckenraketen wird sich aus militärischen Sachzwängen und bündnispolitischen Strategieplänen zerschlagen. Und die Bundesrepublik wird ihren Anteil daran haben. Es gibt einflussreiche Kräfte bei uns, die die Null-Lösung in jenem Bereich verhindern wollen. Und wenn mit Beginn der 90er Jahre die verbleibenden Pershing-1A-Raketen modernisiert werden, hat die Bundesregierung wohl endgültig vor ihren Bürgern die Glaubwürdigkeit und vor der Geschichte den Anspruch verloren, den Frieden endlich gewollt zu haben. –

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten! Ich konnte hier nur aus meiner Sicht und meiner Erfahrung eine Zustandsbeschreibung der Wirklichkeit skizzieren, in die Ihr nun entlassen werdet. Sie scheint wenig einladend. Bei aller funktionierender Anonymität, bei aller Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit, bei aller noch so organisierter Perfektion: Wir sind zurückgeworfen auf unsere Menschlichkeit. Das klingt paradox, ist aber d i e Chance zur Umkehr in einer Welt, die wissend ans Ende will. Ihr aber seid Anfang! Ihr müsst diese Chance zur Umkehr ergreifen, mit dem Mut zum Widerstand gegen das, was Euch diese, Eure Welt kaputtmacht. Ich kann Euch dafür keine Patentrezepte geben, Ihr selbst müsst sie Euch erfahren. Und niemand kann sich drücken, jeder ist gefordert: wo Ihr auch weiterlernt, wo Ihr auch arbeitet, wo Ihr auch lebt. Wehrt Euch gegen die Gleichgültigkeit in dieser Welt! Wehrt Euch gegen den Hochmut in dieser Welt! Wehrt Euch gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt! Wehrt Euch gegen die Gewalt in dieser Welt, woher sie auch kommt. Hier liegt Eure Verantwortung f ü r diese Welt. Eure Kraft hierzu sei Zivilcourage!

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SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert

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