Читать книгу SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert - Klaus Schikore - Страница 5
1.1 Festreden aus besonderem Anlass des Gymnasiums OHZ 1.1.1 Festrede zur Entlassung des Abiturjahrgangs am 24. 06. 1967
Оглавление(Klassenlehrer: StR. Schikore)
Herr Direktor!
Verehrtes Kollegium!
Werte Gäste!
Meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!
Als Sie vor noch nicht Jahresfrist sich als kommende Oberprimaner in diesem Saale versammelten, um durch Ihr Anwesendsein die ersten Abiturienten unseres Gymnasiums zu verabschieden, mag mancher sich von Ihnen noch unbewusst gewehrt haben gegen den Gedanken, in abzählbaren Tagen selbst in der Prüfung zu stehen und – zu bestehen: vor sich selbst, vor uns Lehrern und der Öffentlichkeit, d. h. doch vor der Gemeinschaft, in die wir alle gestellt sind. Aber ist es nicht zu verständlich, dass wir Menschen uns immer erst innerlich gegen etwas wehren, von dem wir wissen, dass es auf uns zukommt? Allein, darauf nimmt das Leben keine Rücksicht, es fordert uns, und in dem Moment besonders, wo wir vielleicht meinten, in Abwehr gegen das Unbekannt-Bekannte, in Geborgenheit oder gar in Gewöhnung uns einen vertraut gewordenen Lebensraum geschaffen zu haben.
Heute haben Sie „bestanden“, das Damals ist für Sie gewesen. Heute ist es an Ihnen, Abschied zu nehmen. Und wer weiß, wer Sie morgen sein werden? Nicht Skepsis liegt in dieser letzten Frage, nicht ein Zweifeln an Ihrer Kraft, an Ihrem Willen, das Neuland, in das Sie nun hineintreten, auch bewusster und tapferer – im alten römischen Sinne – zu durchschreiten. Bangen könnten wir um Sie gewiss, die Sie als junge Menschen – noch relativ unbelastet mit den Erfahrungen des Lebens – in eine Welt hinausgehen, die anscheinend aus keiner Erfahrung ihrer Geschichte gelernt hat, die trotz furchtbarer Geschehnisse nach wie vor Parolen aus Hass, Neid, Missgunst und Blut auf die Transparente eines Fortschritts geheftet hat.
Nein, dieses Unsichere, Beklemmende und vor aller Zukunft noch Ungeborene war mit der Frage nach Ihrem späteren Dasein noch nicht gemeint. Sie sollten sich nur einmal bewusst werden, wie sehr dieser für Sie so bedeutsame erste Abschluss Ihres Lebensweges eingebettet liegt in dem Gesamtzusammenhang dessen, was Geschehen heißt. Und dann stellen Sie vielleicht ein erstes Mal betroffen fest, wie gering, wie klein Ihr eben Erreichtes gegenüber dem ist, was jetzt neu kommt. Sie stehen wieder an einem Anfang: doch dieses Mal nicht – wie Rilke sagen würde – „vor allem Anfang“, sondern schon mitten in unseren Anfängen. Was aber ist dieses Mittendrin-Stehen in den Anfängen anderes als ein Beteiligtsein an Geschichte?
Es ist manch einem Schüler – auch Abiturienten – liebgewordener Brauch, nach dem Erreichen seines Klassen- bzw. Schulzieles, die Schulbücher und -hefte den Flammen zu übergeben. Niemand – des seien Sie gewiss – würde beim Schein eines solchen Feuers glauben, die makabren Ereignisse des 10. Mai 1933 brächten sich unbewusst wieder in Erinnerung. Feuer muss nicht immer Schaden-, es kann auch Freudenfeuer sein. Aber doch symbolisiert eine solche Handlung den Abbruch mit einer Welt, die einem bislang geistige Heimat bedeutete, es symbolisiert das Überbordwerfen dessen, was man für spätere Zeiten als Ballast glaubt nicht mitschleppen zu brauchen oder – zu können. Ein solches Feuer im Kamin oder im Garten brennt sicher doch auch zur Freude darüber, dass für uns Menschen Abbruch Aufbruch ist.
Sie, meine lieben Abiturienten, dürfen, ja, Sie müssen mit Ihrer Jugend sich freuen für Ihren Aufbruch. Denn die Räume, in die Sie hinausgehen, sind für Sie ebenfalls noch jung, neu. Und alles Junge und Neue birgt in sich den Reiz des Wagnisses. Wenn das Wagnis nicht wäre, wer wollte dann Geschicke und Geschichte, den Fortschritt unserer Menschheit begreifen? Auch wenn die Welt, die Sie erwartet, von Ihnen noch nicht recht verstanden werden kann, weil scheinbar das Koordinatensystem von schulischer Erfahrung, schulischem Wissen und Lebenswirklichkeit trügt oder kaum noch vernünftige Orientierung zulässt, so haben Sie doch in das Wagnis einzutreten. Was sollen Sie nun wagen? Und wofür? Diese Frage hat Ihre Generation an uns, die wir Ihnen ein Gerüst für Ihr weiteres Leben gesetzt haben, zu stellen.
Es sei mir als Ihren einstigen Klassenlehrer in der Stunde Ihres Aufbruchs noch einmal gestattet, einige Gedanken und Orientierungspunkte abzustecken, die Ihnen helfen mögen, sich in unserer heutigen Welt einzurichten. Geschichte verläuft nicht nur im Nacheinander von Geschehnissen, sondern ist zugleich auch ein „Zusammenhang im Geschehen“ (Nicolai Hartmann). Der Mensch als kulturell determiniertes Wesen ist in ihr verwurzelt. Das heißt, der Zeitgeist, in dem der Mensch steht und mit dem er lebt, findet seinen Ausdruck nicht nur im Tradieren von Vergangenem, sondern wird auch geprägt von einem vielfachen Zusammenwirken waltender politischer, soziologischer und geistiger Strömungen und Veränderungen. Karl Jaspers sagt über Geschichte, dass wir durch sie uns selbst sähen, „gleichsam an einer Stelle in der Zeit, mit dem Staunen vor der Herkunft und vor der möglichen Zukunft, ganz gegenwärtig, je vieldeutiger die Zukunft wird.“-
Wahrlich, die Menschheitsgeschichte versetzt uns in Staunen! Sie beginnt da, wo zum ersten Male der Gebrauch der Sprache, des Feuers und einfacher Werkzeuge die Arbeit des Menschen die Tätigkeit seines Geistes bezeugt; das mag 500 000 bis 600 000 Jahre her sein. Manch Historiker der nach den schriftlichen Quellen kaum mehr als 200 Generationen – also etwa den hundertsten Teil der Menschheitsgeschichte – einzuordnen vermag, sträubt sich dagegen, dass für die rund 20000 Generationen seit dem ersten Auftreten des Menschen ein so unheimlich langsames Entwicklungstempo angenommen werden soll. Dabei vergegenwärtige man sich einmal, wenn ein Mensch aus der Zeit um 1800 plötzlich in unsere Gegenwart hingestellt wäre, um einen Spaziergang vom Bremer Bürgerpark zum Hauptbahnhof zu unternehmen: Dieser Mensch fände sich wohl eher in der Welt zur Zeit der römischen Republik oder gar Babylons zurecht. Träte heute Ikarus unvermittelt in den Kreis der Weltraumpiloten, er würde angesichts der technischen Möglichkeiten den Sinn seines Sturzes wohl kaum begreifen. Der Mensch der Urwaldtrommel ließe heute sein Tam-Tam fassungslos verstummen, wenn er erleben könnte, wie durch die vervollkommnete Nachrichtenübermittlung, durch Rundfunk und Fernsehen jedes Tagesereignis an jedem anderen Ort der Erde miterfahren werden kann.
Die Technik hat unsere Welt umfassend verwandelt. Wunschträume der Menschheit sind Wirklichkeiten geworden – und wir ergründen dies beinahe als Selbstverständlichkeiten. Dennoch vermögen wir heute trotz unseres noch so entwickelten Intellekts nicht abzuschätzen, wie die Welt aussieht, kämen wir einmal in die Verlegenheit, als Besucher aus der Vergangenheit eine Stippvisite in die Welt nach weiteren 3000 Jahren vorzunehmen. Meinen wir wirklich, im historischen Gang der Dinge alle Zusammenhänge, alle Entwicklung als kausale Notwendigkeit der Geschichte zu verstehen? Was ist denn notwendig geworden, dass unsere Welt so ist, wie wir sie heute vorfinden? Meinen wir, mit dem Bewusstsein der Notwendigkeit des Gewordenen in der Geschichte schon die Garantie für ein richtiges Handeln und Verhalten in der Gegenwart gepachtet und für die Zukunft geplant zu haben? Die noch so zündenden und frappierenden Theorien oder historischen Idealkonstruktionen über den notwendigen Verlauf von Geschichte dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass aller Notwendigkeit des Geschehens auch die Zufälligkeit beigegeben ist, die Zufälligkeit, die im Handeln von uns Menschen liegt.
Meine Damen und Herren! In der Weltgeschichte – und das ist Hegels Täuschung – ist es nicht vernünftig zugegangen. Er irrte in der Annahme, dass eine philosophische Betrachtung der Geschichte die Absicht verfolgen müsse, alles Zufällige zu entfernen und nur den allgemeinen Endzweck der Welt zu konzipieren, nach dem in den großen Menschen der Geschichte sich nichts anderes äußere als der jeweils partikulare Wille des Weltgeistes. Auch die auf den ersten Blick bestechende Marx’sche Konzeption von dem notwendigen Ablauf der ökonomischen Gesellschaftsformationen oder das fatalistische Geschichtsbild eines Toynbee und ebenso das von Spengler großartig geschilderte Untergangsgemälde unserer Kultur entbehren der Notwendigkeit ihrer Erfüllung. All diese auf den notwendigen Ablauf von Geschichte gegründeten Theorien und Vorstellungen, ob sie nun auf Endzeithoffnung oder Endzeituntergang verfasst sind, fassen nicht das Element des Zufälligen, des Unvorhersehbaren in der Geschichte. Dieses Element aber liegt in ihr, wie es in uns Menschen liegt. Hier stehen wir vor dem Unbegreifbaren, dem Nichtverstehbaren von Geschichte, weil sie uns auch die Tiefgründigkeit unserer Existenz offenbart – in unseren guten wie in unseren bösen Handlungen. Hier waltet Geschichte in uns, und sie hat uns in der Gewalt. Es ist eine der schwersten Übungen für uns, diese Gewalt zu bewältigen.
Jaspers hält das Sich-bewusst-machen von Gewalt als eine sehr wichtige Orientierung für unser heutiges politisches Denken, weil Gewalt ein unser Dasein bestimmender Faktor ist. Ich zitiere aus seinem von manchem Politiker nicht gerade geschätzten, weil zu offenherzigen Buch ‚Wohin treibt die Bundesrepublik?‘: „Wir müssen die Wirklichkeit der Gewalt anerkennen. Sie ist nicht schon abgeschafft durch den Willen zur Gewaltlosigkeit. Sie ist eine harte, nicht wegzudenkende Wirklichkeit. Wo sie verschwunden scheint in glücklichen, friedlichen, privaten Situationen, wird vergessen, dass auch dieses Dasein sich irgendwo auf Gewalt gründet, die andere vollzogen haben oder vollziehen. Der Gewaltlose ist Nutznießer solcher Gewalt. Und sogar in der Friedlichkeit selbst ist die Gewalt doch plötzlich in irgendeiner Form wieder da. Für politische Zielsetzungen ist sie zwar nicht Norm, aber einschränkender Faktor. Wer Vorstellungen absoluter Gewaltlosigkeit hat und an sie glaubt, verfällt eines Tages erst recht an die Gewalt.“ (a.a.O.; S 206) – Soweit Jaspers.
Auf eine schlichte – vielleicht schlechte – Formel gebracht, heißt das: Gewalt bewältigen durch Gewalt. Wir finden diese Formel überall in der Geschichte bestätigt. In ihrer scheinbaren Paradoxie jedoch liegt für uns der Reiz, aber auch die Versuchung. Den Maßstab der Anwendung von Gewalt finden wir allein in der Rangordnung unserer Werte, nach denen wir – gleich von welcher Position aus – unser Leben eingerichtet haben. Keiner kann so vermessen sein, von sich zu behaupten, er habe die alleingültige Wertskala in der Hand und das allein glückverheißende Rezept. Wir wissen, dass die Menschen unterschiedlicher Auffassung sind über die Vorstellungen von Menschenwürde und Freiheit. Es sollte jedoch zum Wesen jedes offenen Denkens gehören, den Standpunkt des anderen zu überprüfen, zu überdenken, um vielleicht das eigene Urteil auch einmal zu revidieren. Wissen um Tatbestände und Offenheit im Anliegen sind Grundpfeiler echter Gewalt, auch geistiger. Man hat sich aber nicht in der Gewalt, wenn man die Meinung des Gegners gewaltsam oder mit versteckten Mitteln der Verketzerung zu unterdrücken trachtet.
Sie, meine Abiturienten, werden bald erfahren – das gilt für unseren kleinen provinziellen Alltag genauso wie für den Bereich der großen Politik –, wie schwer das Maß echter Gewalt zu handhaben ist. Gewalt bewältigen ist nicht, in jugendlichem Übereifer und politischer Unausgegorenheit Macht zu demonstrieren und Gewalt herauszufordern. Gewalt bewältigen ist aber auch nicht, in institutioneller oder staatlicher Überheblichkeit den Willen Andersdenkender niederzuknüppeln. Es ist eine schwere Kunst, sich in der Gewalt zu haben. Es gehört manches Maß an Mäßigung dazu, auch Gelassenheit – wenn ich Sie an Gedanken meines Vorgängers an diesem Platze erinnern darf. Sie dürfen aber nicht gelassen zuschauen, wenn Gewalt missbraucht wird, und Sie haben die Pflicht – das möchte ich nicht versäumen, Ihnen mit auf den Weg zu geben –, Gewalt dort zu brandmarken und mit aller Kraft zu überwältigen, wo sie Verbrechen wird oder zum Verbrechen aufpeitscht. Noch sind die Wunden des Wahns nicht vernarbt, die ein Mann im Namen des deutschen Volkes der Welt zugefügt hat, da regen sich wieder Gesinnungstreue und versprechen, die „Ehre der Nation“ wiederherzustellen. Wehren Sie solchen uns bekannten Anfängen! Bekennen Sie, dass Sie nicht gewillt sind, solchen Rattenfängern zu folgen!
In einem 1957 in der Aula der Universität von Uppsala gehaltenen Vortrag hat Albert Camus den Zuschauern das Bild jenes orientalischen Weisen in Erinnerung gerufen, der einmal um die Gnade zu beten pflegte, die Gottheit möge ihm ersparen, in einer interessanten Zeit zu leben. Da wir aber keine Weisen sind –so hat der Dichter das Bild auf uns Heutige umgekehrt –, habe die Gottheit es uns nicht erspart; und wir lebten in einer interessanten Zeit. So auch Sie, wenngleich Ihre Generation nicht die Erfahrung der unsrigen und der älteren hat durchstehen müssen. Ich wünsche Ihnen diese auch nicht. Nur wachhalten möchte ich Ihr Bewusstsein dafür, dass die Menschheit aus den furchtbarsten Katastrophen ihrer Geschichte noch immer nicht zu lernen bereit ist. Wie anders konnten wir in den vergangenen Tagen und Wochen die Absurdität der Worte eines – so nennt er sich – Staatsmannes begreifen, der sein Volk und die arabische Welt zum Kampf aufstachelte und sich nicht schämte, vor aller Weltöffentlichkeit die Vernichtung des Staates und die Ausrottung des Volkes zu fordern, das vor noch nicht Generationsfrist den schrecklichsten Blutzoll seiner über dreitausendjährigen Geschichte in deutschen Konzentrationslagern und Gaskammern hat zahlen müssen. Und wenn ein so in seiner Existenz bedrohtes Volk zur Notwehr gezwungen ist (wir spüren hier die tragische Problematik), darf sich eine mächtige Nation vor aller Welt hinstellen und Israel bezichtigen, es überfalle im Sinne „zionistischer Weltverschwörung“ und in der Manier Hitler-Deutschlands die friedlichen arabischen Nationen. In solchen Situationen haben Sie dann ein feines Gespür, mit wieviel Heuchelei und Verlogenheit in unserer heutigen Politik Machtpositionen gehalten werden sollen.
Setzen Sie dagegen – gleich, wo Sie dazu später Gelegenheit haben werden – all Ihre Aufmerksamkeit über unser Tagesgeschehen und vor allem Offenheit und Anständigkeit im Denken! Haben Sie den Mut zur Offenheit, wagen Sie Offenheit immer dann, wenn Sie einem Denken und Handeln begegnen, das des Menschen unwürdig ist! Auch – wenn Sie es Freunden vorhalten müssen. Ja, ich denke hier an Vietnam: Bilder von brennenden Hütten unschuldiger, hilfloser Menschen, von zerrissenen Kindern, Frauen und Greisen sind des Menschen unwürdig! Neben der Verderbtheit unserer Welt haben wir nämlich eine Hoffnung: Wir können Schlechtes erkennen und uns bekennen zum Besseren. Wissen um die Wirklichkeiten unseres Weltgeschehens allein genügt nicht. Um unser Wissen zu nutzen, benötigen wir die bekennende Kraft unseres Geistes. Wollen wir Deutsche in der heutigen Welt mit die Beteiligten am Fortschritt der Menschheitsgeschichte sein, so müssen wir – um mit Jaspers zu sprechen – unserer mit „unwahrhaftiger Auffassung erfahrene Situation in Bezug auf unsere nächste Vergangenheit“ vor allem mit „Tatsachentreue und Urteilskraft“ begegnen. Wir brauchen – so sagt der Philosoph – für die „Redlichkeit unseres Selbstbewusstseins und unseres politischen Denkens“ ein neues Unterscheidungsvermögen von Wesentlichem und Unwesentlichem, ja, für unseren Anteil an der Geschichte sei „die Klarheit eines neuen Geschichtsbewusstseins“ entscheidend. Lassen Sie mich hierzu einige letzte kurze Anmerkungen machen.
Wenn wir aus den beiden letzten Jahrhunderten unserer Geschichte eine Erfahrung gewonnen haben, so diese: Wir sind am Ende unserer nationalen Geschichtsbilder angelangt. In der Welt wird heute in anderen Größenordnungen gedacht, nicht mehr in der engen Lokalhistorie eines Nationalstaates. Wir sehen heute unser Volk eingeordnet in einen größeren Funktionszusammenhang einer großräumig gegliederten Welt. Das zwingt uns zu Konsequenzen. Wir haben unser eigenes Geschichtsbild zu revidieren, und nicht nur das, sondern auch das Bild von uns selbst und unserer Rolle in der Geschichte. Dazu gehört auch das Bewusstsein von der Tragik unserer gegenwärtigen Situation. Wir überwinden sie aber nicht, wenn wir Wunschbilder einer Vergangenheit träumen, sondern nur, wenn wir nüchtern, aber zielbewusst an der Aufgabe der Zukunft bauen. Diese geht über Deutschland hinaus (ich sage absichtlich nicht „hinweg“) und heißt: Europa. –
Lassen Sie mich, meine Abiturienten, an dieser Stelle noch einmal Ihren alten Schulmeister spielen und Ihnen sagen: Herrschaften, politische Rückfälle in nationales Gebaren gleichen nur retardierenden Momenten eines Dramas, dessen Handlung den Tiefpunkt bereits hinter sich gelassen hat und nun aufsteigend der Lösung zueilt, wobei sie (die Rückfälle) selbst nur die Trittstufen, nicht die Setzstufen der steigenden Handlung darstellen.
Mit dem Bild der „Stufen“ möchte ich Sie, meine Abiturientinnen und Abiturienten, nun aus unserer Schule entlassen. Es möge Ihnen nach Ihrem Auszug Sinnbild sein für das Aufsteigende Ihres Lebens. Die Schlussworte über die Ausdeutung jenes Bildes von den „Stufen“ soll Ihnen ein Dichter mitgeben:
Stufen (Hermann Hesse)
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen;
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden:
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
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