Читать книгу Sommerleithe - Klaus Weise - Страница 11

6. Renates Anfall

Оглавление

Denn am nächsten Morgen, die Sonne schien friedlich in das Zimmer, in dem wir zu dritt geschlafen hatten, schrie uns etwas aus dem Schlaf: «Ich ersticke! Ich ersticke!» Renate. Sie war außer sich. Sie tobte. Sie war in Panik – und schrie, wie ich sie zuvor nie schreien gehört hatte. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib, als sei der Teufel im Begriff, mit ihr wer weiß was zu tun, und sie müsste nicht nur ihren Körper retten, sondern auch noch ihre Seele, nur wüsste sie nicht, in welcher Reihenfolge, bevor er sie würgte, mit Haut und Haar verschlänge, Besitz von ihr nähme und sie zu seinem willfährigen Instrument machte. Sie sprang im Zimmer umher, sprang aufs Bett und vom Bett herunter, rüttelte an der Türklinke, pochte mit den Fäusten gegen die Tür. Vergebens. Sie konnte die Tür nicht öffnen. «Ich ersticke! Ich ersticke!» Dieses Eingesperrtsein, dieses Nicht-fliehen-Können machte sie rasend. Immer und immer wieder sprang sie gegen den Schrank und warf sich gegen die Wände, als könne sie durch sie hindurchspringen wie Armin Dahl im Fernsehen durch eine Glasscheibe, und schrie dabei: «Ich ersticke! Ich ersticke!» Sie schien den Verstand zu verlieren, wenn sie ihn nicht schon verloren hatte, gepeitscht vom Affentanz des Irreseins.

Monika und ich waren hilflos. Wir konnten nichts tun. Hätten wir versucht, sie anzufassen, um sie zu beruhigen, sie hätte uns mit einem Streich zerklatscht wie Fliegen. Noch nie hatte ich einen derartigen Vulkanausbruch eines Körpers erlebt, noch nie eine derartige, von besinnungsloser Angst gepeitschte Panik; es war, als blickte sie dem Tod ins Auge. Meine Schwester war ein Dynamitbündel im Augenblick der Explosion.

Der Anfall dauert bereits einige Minuten, als mein Vater gegen die Tür klopft und brüllt: «Was ist da los?! Verdammt noch mal! Was ist da los?!» Und meine Schwester brüllt zurück: «Ich ersticke! Ich ersticke!» – «Dann macht doch das Fenster auf! Monika, Dieter, seid ihr da?» – «Ja, wir sind hier!», schreit Monika, und ich: «Sie ist verrückt geworden! Vati, hilf uns, hol uns hier raus!» – «Ich ersticke, ich ersticke!» – «Macht verdammt noch mal das Fenster auf!» Monika stürzt zum Fenster, reißt es auf, und meine Schwester, als würde sie sich gleich aus dem Fenster stürzen, brüllt auf die Straße: «Ich ersticke, ich ersticke!» Monika schreit die Tür an, hinter der mein Vater steht und die er mit seinem Körper aufzudrücken versucht, und sie brüllt: «Das Fenster ist auf, das Fenster ist auf, Renate stürzt sich gleich auf die Straße! Hilfe, Hilfe!» – «Dann haltet sie fest, haltet sie fest, damit sie sich nichts antut!», brüllt er zurück, und mich brüllt er an: «Dieter, mach die Tür auf, los, macht die Tür auf!» Derweil hat Monika versucht, Renate vom Fenster wegzuzerren, doch die schleudert sie von sich, gegen mich, der vor der Tür steht, ich falle zu Boden und brülle: «Der Schlüssel ist weg, es gibt keinen Schlüssel» – «Dann such ihn gefälligst und schließ verdammt noch mal diese Scheißtür auf!» Inzwischen muss meine Mutter auf dem Flur erschienen sein, denn auch sie beginnt zu schreien: «Renate, was ist los? Hörst du mich? Antworte! Renate, Renate!» Doch Renate steht schon wieder vor dem geöffneten Fenster und brüllt, dass es die gesamte Nachbarschaft hören muss: «Hilfe, ich ersticke! Hilfe, ich ersticke!»

Auf der Straße haben sich an diesem sonnigen und an sich beschaulichen Sonntagmorgen bereits einige Leute versammelt. Ratlos schauen sie nach oben zum Fenster: «Was ist da los?» – «Nicht springen, nicht springen!» – «Ich ersticke, ich ersticke!» Meine Mutter: «Du erstickst nicht, Renate, du erstickst nicht! Beruhige dich!» In diesem Chaos denke ich, dass uns nur der Schlüssel retten kann, und beginne ihn zu suchen. Doch ich finde ihn nicht, und meine Schwester tobt und brüllt weiterhin. Plötzlich! – Was ist das? Ein ungeheurer Schlag kracht gegen die Tür und – Ruhe. Ruhe.

Renate, Monika und ich starren auf die Tür. Was war das? Es folgt ein weiterer Schlag. Und ein nächster und noch einer und noch einer. Doch die Tür öffnet sich nicht. Das Schloss hält. Das Türblatt muss mit dem Rahmen untrennbar verschweißt sein. Wieder ein Schlag. Jetzt bekommen auch Monika und ich es mit der Angst zu tun. Wir beginnen zu schreien: «Hilfe, Hilfe!», und weil auch wir plötzlich keine Luft mehr bekommen, schreien auch wir: «Wir ersticken, wir kriegen keine Luft mehr! Hilfe! Wir ersticken!», und je lauter und verzweifelter unsere Schreie, umso wütender und kraftvoller die Schläge, mit denen mein Vater die Tür zu öffnen versucht. Doch plötzlich änderte er seine Strategie. Er drosch nicht weiter auf das Schloss ein, sondern seine Attacke galt dem Türblatt selber, und nach zwei, drei weiteren Hieben hatte, unglaublich, der Axtkopf die Tür durchschlagen, blieb eingequetscht im Holz stecken und schaute uns an: Was hatte die Axt vor? Es schien, als suchte sie, als müsste sie herausfinden, hätte sie die Tür erst zertrümmert, wem zuerst, wem danach und wem zuletzt sie den Schädel spalten würde. Mir, Renate, Monika?

Dann nickte die Axt dreimal mit dem Kopf, offenbar hatte sie sich entschieden. Sie wurde aus dem Schlitz, in dem sie steckte, herausgezogen und donnerte mit unglaublicher Wut erneut auf das Holz nieder. Wir schrien. Mit aller Kraft, zu der unsere Stimmen und Körper fähig waren. Jetzt hatten wir alle drei Angst, nicht mehr nur meine Schwester. Doch Angst ist das falsche Wort. Denn Angst hat man vor etwas, das erst noch kommt und nicht schon da ist. Doch das, was wir hatten, war da. Es war in uns. Auch wenn wir es nicht kannten. Es hatte von uns Besitz ergriffen, und wir waren ihm, was immer es war, ausgeliefert. Noch schlimmer: Unser Zustand fütterte das Ungeheuer, vor dem wir uns derart fürchteten, peitschte die Ausgeburt unserer Angst, katapultierte uns in atemlosen Taumel, dass wir herbeisehnten, wovor wir uns fürchteten, damit es endlich verrichte, wovon wir nicht wollten, dass es geschehe, und wovon wir doch wollten, dass es besser sofort geschehe als später: unsere Vernichtung. Der Zustand der uns zerreißenden Kräfte hatte einen Namen. Panik. Besinnungslose, pure Panik.

Schließlich stand er da, unser Vater, die Axt in den Händen, eingerahmt von zersplittertem Holz, in dem Loch, das er selber aus der Tür herausgedroschen hatte. Unser Vater hatte einen Teil des Wohlstands, den er und meine Mutter unter Mühen und mit kontinuierlichem Fleiß aufgebaut hatten, zertrümmert. Sein Blick war nicht weniger wahnsinnig als der meiner Schwester und der von Monika und mir. Er verhieß nichts Gutes. Die zertrümmerte Tür war erst der Anfang einer unbändigen Zerstörungswut. Seiner. Gleich würde er uns in seiner Rage erschlagen und danach das ganze Haus dem Erdboden gleichmachen. Die Axt fest wie eine Waffe vor seiner Brust in den Händen haltend, brüllte er uns an: «Seid ihr verrückt geworden? Seid ihr völlig verrückt geworden?» Ich dachte, unser Vater sei verrückt geworden, wie er dort vor uns stand. In seiner Brutalität und Unberechenbarkeit; ein Vulkan kurz vor dem erneuten Ausbruch, noch zerstörerischer als der erste. So muss er ausgesehen haben im Krieg, von dem er aber nie anders berichten konnte als mit anekdotenhafter Leichtigkeit und einer Gemütlichkeit in der Stimme des noch einmal Davongekommenen.

Meine Mutter hat sich durch die zersplitterte Tür gezwängt und umarmt Renate. Und Renate umarmt sie, fest. Und beginnt zu weinen. Und Mutter und Tochter, sich in den Armen liegend, weinen. Mein Vater, noch immer die Axt in den Händen, tritt ans Fenster und schaut zu den Leuten, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt haben und nicht wissen, ob sie soeben Zeugen eines abscheulichen Familiendramas geworden sind: «Alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung. Ich weiß auch nicht, was da passiert ist! Die Kinder hatten sich eingeschlossen und plötzlich keine Luft mehr gekriegt.» Und dann, die Axt zum Beweis aus dem Fenster haltend: «Da musste ich die Tür einschlagen.»

Meine Schwester. Sie fürchtete sich schon immer vor Vögeln und deren Geflatter. Nie hat sie ein Zimmer betreten, in dem auch nur ein Kanarienvogel frei herumflog. Außer, sie wusste es nicht. Hatte sie ihn entdeckt, schrie sie sofort hysterisch und flüchtete aus dem Zimmer. Meine Mutter fürchtete sich vor Schlangen. Und weil ich meine Mutter liebe, fürchtete auch ich mich vor Schlangen. Und fürchte mich noch immer. Ich mag sie einfach nicht. Ehe man es sich versieht, wird man hinterhältig gebissen und stirbt elendig. Am Gift. Oder ein Python fällt vom Baum, umschlingt deinen Körper und erwürgt dich.

Meine Schwester, was sie wohl gepackt hatte in ihrer Not? Als sie schrie, sie bekomme keine Luft und müsse ersticken – während sie, die sich vor flatternden Vögeln fürchtete, selber wie ein flatternder Vogel durch ihr Mädchenzimmer flatterte? War es die Hitze, die Mädchen anfällt und sie zu Frauen macht und sie später – so wie meine Mutter sagte, sie habe die fliegende Hitze, von der ich dachte, sie müsse fliehende Hitze heißen – wieder verlässt und sie in einen Zustand versetzt, gegen den der Arzt Tabletten verschreibt, die Brustkrebs verursachen, an dem die Frauen später sterben – so wie meine Mutter? Wollte Renate das Zimmer ihrer Kindheit verlassen, während sie gleichzeitig Angst hatte, es zu verlassen? Ist das bei Frauen so? In diese Richtung gingen meine Fragen, ohne dass ich sie mir so hätte stellen können, damals.

An diesem Sonntagmorgen gab es bei uns wie üblich zum Frühstück zwei Stück Torte für jeden und anschließend gebratene Eier mit Mettwurst und Kümmel, denn unser Vater behielt lieber den salzigen als den süßen Geschmack im Mund.

Sommerleithe

Подняться наверх