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8. Sud und Sühne

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Ich brauche sie … sie muss mir helfen. Mich retten. Endlich einmal etwas für mich tun. Mich befreien aus dem Gestänge des Gefängnisses, in dem ich hänge. Jetzt. Jetzt sofort. Sie soll gefälligst auf einem fliegenden Teppich einher schweben, mich aufsteigen, in ein bunt-orientalisches großes Kissen plumpsen lassen und schöne Heimatlieder auf dem Akkordeon spielen, dem schwarz-dunkelrot-perlmuttfarben glänzenden. Endlich wäre ich befreit von meiner Absturzangst, befreit vom einschmeichelnden Feengesang, der mich arglistig und hinterhältig einlullt, um zu töten. Mich zu töten. Unter den vertrauten und lieblichen Tönen der Musik flögen wir heim, als wäre nichts gewesen, und könnten endlich, so wie immer, friedlich zu Hause zu Abend essen. Nur dieses eine Mal soll sie kommen, danach kann sie mich weiterhin drangsalieren, nur dieses eine Mal – und mich retten. Meine Schwester.

Doch das würde nicht geschehen. Es musste eine andere Möglichkeit der Rettung geben. Vielleicht Klaus, mein kleiner Bruder Klaus?

Er war etwa eindreiviertel Jahre jünger als ich. Das ist nicht viel, zu vernachlässigen im Erwachsenenalter, aber mit vier, fünf, sechs Jahren fast ein halbes Leben. Er war dabei und hat mit uns herumgetobt, als wir in der Fleischerküche Fangen spielten, als Oswald mich erwischte, mich an den Oberarmen packte und in den Fleischhimmel hängte. Wir lachten, denn es war ein Riesenspaß. Doch plötzlich waren Vati und Oswald weg. Nur ihre Gesichter schwebten noch einen Augenblick als grinsende Masken im Raum. Dann waren auch sie weg. Verschwunden. Es war dunkel. Ich hing an einem Räucherspieß. Die Tür war verschlossen – und der Spaß nahm ein jähes Ende. Der Schreck fuhr uns beiden in die Knochen. Zumindest mir. Aber ich glaube, ihm auch. Was sollten wir tun? Ich hing im Gestänge unter der Decke, und Klaus stand etwas versetzt unter mir. Ahnte er die Gefahr, dass ich jederzeit abstürzen könnte, und wollte er vermeiden, dass ich auf ihn fallen und ihn verletzen würde? Rechnete er mit meinem Tod?

Wie kann es sein, dass der Tod sich nicht tückisch aus dem Hinterhalt annähert, sondern fröhlich, lachend und mit mir spielend von vorne kommt, sich einen Spaß erlaubt und mich in den Himmel hebt, wo Gott – und nicht der Teufel – wohnt?

Und der erste Zuschauer, der mir beim Sterben zusehen will, hat sich auch schon eingefunden. Er. Mein kleiner Bruder. Mit dem ich immer ein Herz und eine Seele bin. Jedenfalls fast immer.

Er ist zu klein, um mich aus dem Himmel herunterzunehmen, mich vom Fleischbaum zu pflücken, damit ich wieder sicheren Grund unter den Füßen bekomme. Das ist ihm nicht vorzuwerfen – aber dass er aus irgendeinem Grund nicht, wie ich es ihm sage, einen Stuhl vom Küchentisch holt und ihn unter meine Füße stellt, das verstehe ich nicht. Er muss doch die Gefahr erkennen, in der ich mich befinde. Aber er steht einfach nur da und schaut nach oben. Ist er erstaunt, ja, fasziniert davon, wie schnell ein Mensch vom Erdboden verschwinden und sich wenige Sekunden später im Wurst- und Schinkenhimmel wiederfinden kann? Was denkt er wohl? Dass auch ich bald in Wurst und Schinken verwandelt werde und dass das, was neben mir hängt, einst auch lebte, so wie ich jetzt? Noch. Und vielleicht waren die Tiere, denen das Fleisch nach ihrem Tod entnommen wurde, dereinst Menschen wie ich, nur in Tiere verwandelt kurz vor ihrem Tod, weil Menschenfleisch nur Kannibalen essen?

Klaus steht die ganze Zeit unter mir; starr, stumm, versteinert; und glotzt, anders kann ich seinen Blick nicht bezeichnen, als verkünde, was er sieht, eine Botschaft aus einer anderen Welt. Nur welche? Was gibt es da zu sehen, dass er so glotzen muss? Ich, sein verehrter großer Bruder, hänge im Himmel des Fleischerreiches und habe Angst abzustürzen. Das ist alles. Mehr nicht. Aber zu viel, um es noch lange aushalten zu können.

Klaus, lieber Klaus, mein Bruder, bitte hilf mir! Sonst falle ich herunter und muss sterben. Öffne das Fenster, geh auf die Straße und hol Hilfe. Ich kann nicht mehr.

Er hörte mich nicht – oder wollte mich nicht hören. Und was jeder Mensch tut, wenn er schaut, nämlich reflexhaft für den Bruchteil einer Sekunde die Augenlider zu verschließen und sofort wieder zu öffnen, Klaus tat es nicht. Er tat es einfach nicht. Konnte er seinem Blick in diesem Zustand der erwartungsvollen Starre, die herbeisehnt zu sehen, was unaufhaltsam geschehen wird, ohne zu wissen, wann genau, das Augenklimpern verbieten, um dieses Ungeheuerliche, den Sturz vom Leben in den Tod, nur ja nicht zu verpassen?

Er schien darauf zu warten, dass die Schlange endlich das Kaninchen beißt, welches in einer hypnotisierten Bewegungsohnmacht durch den Todesbiss von seiner Angst befreit werden will, denn die Angst vor dem Tod ist schlimmer als der Tod. Und um diesen einmaligen, ja sensationellen Augenblick nicht wegen eines lächerlichen Lidschlags zu versäumen, von dem das Leben unendlich viele, ja zig Milliarden und mehr, bereithält, hatte Klaus seinen Augenlidern befohlen, sich nicht zu schließen. Er war der Zuschauer, der sich den Höhepunkt des Abends unter keinen Umständen entgehen lassen wollte: dabei zu sein und zu sehen, wie ich in den Tod stürze.

Oder wollten umgekehrt seine Augenlider ihn zwingen, etwas zu sehen, wovon sie wussten, dass er es sehen wollte, ohne sich dies allerdings eingestehen zu können? Aber vielleicht war es auch ganz anders: Er sah nicht mich, sondern sich selbst hier oben hängen und wollte dabei zuschauen, wie er selber abstürzen, aufschlagen und sterben würde.

Oder überlegte er, was er wohl tun würde, wenn er hier oben hinge und ich ihn betrachtete, wie er mich jetzt? Doch ich würde ihn nicht betrachten. Ich würde ihm helfen. Ich würde den Stuhl unter seine Füße stellen, hinaufsteigen, die Arme nach ihm ausstrecken und ihm sagen: Jetzt! Er würde in meine Arme fallen, wir beide würden vom Stuhl auf die Kacheln fallen – und wären gerettet. Vielleicht wären wir verletzt, aber tot wären wir nicht.

Klaus war nicht mehr bei sich. War ganz Blick. Doch schaute er nicht mit den Augen, nein, seine Seele schaute durch die Augen aus seinem Körper heraus. Aber was sah sie, verdammt noch mal, dass sie so glotzen musste?

Ich wunderte mich. Wie kann es sein, dass ich mir um ihn mehr Gedanken mache als um mich? Kann er nicht einfach nur aufhören, mich so anzugucken? Bin ich nicht mehr ich? Habe ich mich schon verwandelt? In was denn, um Gottes willen, dass er so gucken muss? Wachsen meinem Kopf Schweineohren, meinem Mund ein Rüssel, grunze ich schon, ohne es selbst hören zu können? Was geschieht mit mir? Bin ich schon tot, und es dauert nur noch eine kleine Weile, bis auch ich es merke?

Doch mit diesen Fragen würde ich mich nicht mehr allzu lange beschäftigen können. Denn ein riesiger Berg, langsam, aber unaufhaltsam, schob sich auf mich zu. Um mich unter sich zu begraben.

Ich versprach Klaus, noch heute Abend im Geheimen mit ihm Westradio zu hören. Aber das bewegte ihn nicht. Ich versprach ihm mein Taschengeld. Auch das überzeugte ihn nicht. Er stand da wie angewurzelt. Schaute in eine andere Welt. Er sah … ja, was sah er? Er sah mich. Inmitten der Sachen, die immer hier oben hängen. Woher also sein geistesabwesender Blick? Und wenn der Geist abwesend war, wo war er anwesend? Was, verdammt noch mal, konnte er sehen, was sich meinen Augen verschloss? Klaus war nicht zu bewegen – und so bewegte er sich auch nicht. Es blieb und es bleibt sein Geheimnis, was er sah. Offenbar etwas zuvor nie Gesehenes.

Lag es daran, dass er von unten heraufguckte, ich jedoch von oben hinunter? Konnte es sein, dass ich genauso schaute wie er und unsere Blicke in Wirklichkeit nicht zwei, sondern ein Blick waren und jeder mit demselben Blick im andern sein eigenes Entsetzen sah und sich fürchtete?

Heißer Dampf steigt auf. Doch trotz der Hitze erfriere ich in der Eiseskälte meiner Angst. Im Brühkessel, ganz nah unter mir, beißen sich Schweineköpfe durch die siedende Metzelbrühe – und Renate spielt eine lustige Melodie. Für einen Augenblick denke ich, vielleicht wird noch alles gut. Die Augen der Schweinsköpfe, die bisher zusammengekniffen waren, öffnen sich, und ihre toten Augen sind nicht tot. Sie beginnen zu leben. Ängstliche, um Hilfe flehende Blicke. Doch wie kann ich helfen, da ich selber gleich in den Brühkessel fallen werde, meine Haut im heißen Wasser verbrennen wird und ich im siedenden Sud ersaufe und elendig verende?

Einige Köpfe beißen sich durch die dampfende Schlachtsuppe, als wollten sie die Wanne, in der sie schwimmen, leer trinken, um die Qualen der heißen, vor sich hin blubbernden Quelle zu beenden, deren Wasser sich mit dem Blut und den aus den abgeschnittenen Köpfen herauslaufenden Säften mischt. Andere prusten die heiße Brühe wie Fontänen in die Luft, um sie aus dem Kessel zu pumpen. Rüssel und Schnauzen, deren Backen frisch gekocht und gesalzen so wunderbar schmecken, beginnen zu quieken, zunächst ganz leise und zart, wie frisch geborene Ferkel, die man am liebsten auf den Arm nehmen möchte, doch dann sich steigernd in den Todeskampf, als sähen sie das Schlachtermesser auf sich zukommen, als spürten sie den Stich, als sähen sie, wie das Messer blutig aus der Wunde herausgezogen wird, verfolgt vom roten sprudelnden Blutstrahl, den das pumpende Herz dem Messer auf seiner Reise zur nächsten Sau hinterherschickt und der nach einiger Zeit gemeinsam mit dem Leben erlischt – ein müdes Rinnsal, das am Boden klebt und sich festhält und bleiben will. Bis es von einem Wassereimer in die Unterwelt der Kanalisation gespült wird.

Doch noch reißen sie die Schnauzen auf, strecken die Zungen hervor, die später zu Zungenwurst verarbeitet werden, und kämpfen und kämpfen, um nicht zu ersticken, zu verbrühen, zu sterben. Will der Gott der Schweine, dass ich geopfert werde, mich selber opfere, um sie zu erlösen? Warten sie darauf, dass ich in den Kessel falle, damit sie mich – ein Opfer ist nur Opfer, wenn es verspeist wird – fressen und sich retten können? Mich, der ich zur Stelle war, wenn Oswald und mein Vater mit nackten Händen die heiße Schwarte des Rüssels und die Schweinebacken vom Schädel streiften, und darauf wartete, dass mir mein Vater, nachdem er es ein wenig gesalzen hatte, vom weichen und sehnigfeuchten Fleisch der Schweinebacke zu probieren gab. Kopffleisch zu essen – war das meine Sünde, für die ich nun büßen musste? Klaus sah, was ich sah, hörte, was ich hörte – und musste mit mir büßen.

Über allem erklang der Lärm von Renates Akkordeon, als ginge es darum, das von heißem Dampf aus dem Brühkessel emporgetragene Sauenquieken in seiner Schrecklichkeit noch zu übertönen. Ich beneidete Renate. Auch wenn die Musik, die sie aus dem Akkordeon quetschte, die Musik der Hölle war. Doch sie spielte und spielte und war nicht hilflos ausgeliefert, so wie ich. Ich war mir sicher, ich wusste: Mit einer anmutigen und lieblichen Melodie, einem einfachen, das Herz berührenden Lied, hätte sie das Schweinegequieke, die Musik der Hölle, verstummen und mich und meinen Bruder in schönere und von einer gütigeren Sonne als der abgestumpften Lampe über dem dampfenden Sudkessel beschienene Gefilde entschweben lassen können.

Festhalten, aushalten, halten … Mir blieb nur eine Möglichkeit, mich zu retten. Ich musste mich selber retten. Aber wie?

Sommerleithe

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