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3. Pari Banu

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Die pochende Panik in meinem Herzen … ließ die wunderschöne klare Stimme einer Fee aus 1001 Nächten erklingen. Sie schwebte einher, und bunte, sanft im Wind wehende Tücher von Seide umwehten ihren Körper. Eine hübsche Melodie voller Anmut umschmeichelte mein Ohr, und die Schönheit ihres Feengesichts verzauberte meine Augen – wie sie jeden Sterblichen verzaubern würde, der sie zu sehen und zu hören bekäme. Schwebend und schwerelos war sie erschienen, stand sie vor mir in der Luft und sang für mich und meine Brüder Speck und Schinken und für meine Schwestern, die Würste, und der Blick ihrer Augen versprach uns das Paradies ewiger Glückseligkeit – wenn wir ihr nur folgen würden …

Jegliche Angst vor dem Absturz war verflogen. Noch hielt mich der feste Griff meiner Hände davon ab, vom Wursthimmel auf den Steinboden zu fallen, doch ich spürte bereits, wie sich meine Hände langsam lockerten, um der Fee zu folgen, wohin sie mich auch entführen würde. Doch bevor ich die Hände öffnen konnte, entdeckte ich in ihrem Gesicht das Gesicht meiner Schwester, als hätte es sich in einer tieferen Schicht hinter dem ihren verborgen. Auch sie lächelte, doch so, als hätte ich soeben den Griff meiner Hände gelöst und wäre nun ganz in ihrer Macht – als könnte sie mich abstürzen lassen, oder als sollte ich, von ihr bezirzt, ihr doch vertrauen und ihr durch die Lüfte in alle Schönheiten dieser und anderer Welten folgen … damit sie mich zu guter Letzt doch noch auf dem steinharten Fußboden unseres Fleischerreiches zerschellen lassen konnte? Die Wiederkehr der immer gleichen und schönen Melodie, die sich in einem sanften Kreis drehte und drehte und die mich und jeden, der sie hätte hören können, langsam eingelullt, schläfrig und willenlos gemacht hätte, machte mich stutzig. Reflexartig, wie ich den schwarzen Spieß gegriffen hatte, als Oswalds Arme mich in den Fleischhimmel hoben, verschloss ich meine Finger zu einer Faust, um mein Leben in den Händen zu behalten und nicht unmerklich in den Schlaf zu sinken und abzustürzen.

Meiner Schwester war nicht zu trauen. Vier Jahre älter als ich, war sie mir überlegen. Sie durfte in die Schule, ich musste in den Kindergarten. Ich spürte die Gefahr, die mir drohte, von beiden Seiten, von meiner schwindenden Kraft und von meiner mich in den Schlaf lullenden Schwester. Also versuchte ich, mich hochzuziehen, damit sich meine Beine irgendwo im Gestänge unterhaken könnten und ich Halt fände, um die Arme zu entlasten. Aber die Deckenkonstruktion begann zu wackeln, und neben mir krachten zwei Spieße in die Tiefe … Der Blick nach unten offenbarte ein Schlachtfeld: die richtungslosen Wegweiser weiß gekalkter Zervelatwürste, Mettwürste wie abgetrennte Gliedmaßen, Schinken, die auf dem Fußboden der Metzgerküche lagen wie gefallene Soldaten. Blitzartig wurde mir klar: Es gab keine Rettung. Bald würde auch ich hinunterkrachen, zerplatzen und verstreut auf dem Steinboden liegen; nur dass ich Knochen hatte, die beim Aufprall zerschellen würden, ohne dass sie je ein Arzt wieder zusammenflicken und reparieren könnte. Und selbst wenn ich irgendwie überleben sollte, was unwahrscheinlich schien beim Anblick des Gemetzels am Boden, würde es mir nicht gelingen, mit zersplitterten Knochen zum Fenster zu robben, mich mit Armen und Händen zur Fensterbank hochzuhieven, das Fenster zu öffnen und mich zu befreien – oder zumindest um Hilfe zu rufen.

So vertraut ich auch war mit all den lufttrocknenden Fleischfreunden, die stets unter der Decke hingen, noch nie hatte ich zwischen ihnen gehangen, und noch nie hatte ich mit ihnen von oben hinabgeschaut auf ihre Brüder und Schwestern, die ich aus scheinbar sicherer Höhe hatte abstürzen lassen bei dem Versuch, mich zu retten, und die nun, ihrer stolzen Würde beraubt, kärglich und unordentlich verstreut auf dem Fußboden lagen, den die Friedel, unser buckliges und nicht mehr junges Mädchen für alles, diesen wie jeden Abend geschrubbt hatte und dessen nassen Glanz keiner mehr mit den Schmutzspuren seiner Schritte besudeln durfte. Denn zweifellos war es eine Würde, nicht sofort, wie manche ihrer frischfleischigen Geschwister, verzehrt zu werden, sondern zuvor in stiller Ruhe trocknen zu dürfen und haltbar gemacht zu werden, also länger zu leben als diese.

Von meinem Vater wusste ich, was hier oben wie lange zu hängen hatte; ich kannte die Trockenzeiten von Wurst und Schinken, bevor sie verkauft werden konnten. Doch meine eigene Trockenzeit kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass etwas umso teurer wird, je länger es an der Luft trocknet. Denn trocknendes Fleisch verliert Wasser, und für dieses vertrocknete Wasser, das sich in Luft auflöst, also für Luft, muss der Kunde im Laden bezahlen. Er, mein Vater, kaufe ja auch keine vertrockneten Schweine, sondern bezahle für ihr Lebendgewicht, mit Wasser im Fleisch und Blut in den Adern. Trotz dieser Erklärung fand ich es immer ungerecht, dass jemand für etwas bezahlen muss, das nicht mehr da ist, das sich in Luft aufgelöst hat, denn die Luft gehört schließlich allen.

Wieso hatte mein Vater, der mich ihm gegenüber zu bedingungslosem Vertrauen erzogen hatte, wieso hatte ausgerechnet er Oswald nicht daran gehindert, mich in den Wursthimmel zu hängen und dort so lange hängen zu lassen? Als sein Chef hätte er es ihm doch verbieten können. Oder ihn davon abhalten, schließlich war er stärker als Oswald. Oder etwa nicht?

Er musste doch wissen, dass ich keine Bindfadenschlaufe habe, und wenn ich eine hätte, wo sollte die sein? Etwa um den Hals geschlungen? Da wäre ich erstickt. Oder sie hätte mir den Hals gebrochen. Und mir eine Bindfadenschlaufe um die Füße zu wickeln, als könnte man mich beliebig lange kopfunter an einen Räucherspieß hängen, auch das wäre nicht praktikabel, denn mir wäre das Blut in den Kopf gestiegen und schließlich aus Augen, Ohren, Nase und Mund herausgeflossen.

Fragen bedrängten mich; und da ich die mich umschwirrenden und sich verknäuelnden Fragezeichen nicht entwirren und auflösen konnte, fühlte ich mich bald noch hilfloser, verlassener und einsamer, als ich es ohnehin schon war. Wieso hat Vati Oswald nicht daran gehindert, mich im Himmel aufzuhängen? Ja, schlimmer noch – sein Lächeln hat ihn als Oswalds Komplizen, wenn nicht gar als seinen Anstifter, verraten. Wieso ist er mit Oswald, sogar währenddessen noch merkwürdig lächelnd, aus dem Raum geschlichen? Wieso ist das Licht ausgeschaltet worden? Und wieso die Tür verschlossen? Es konnte nur eine Antwort geben: Ich sollte langsam vor mich hin sterben, ohne mich selber retten zu können oder von anderen gesehen und aus meiner Not befreit zu werden.

Doch was habe ich verbrochen? Wofür soll ich bestraft werden? Und wenn schon der Himmel aussieht wie die Hölle, wie wird dann erst die Hölle aussehen? Etwa wie die Räucherkammer unserer Metzgerei? Um in die Hölle zu kommen, muss man am Leben sein. Also werde ich den Sturz überleben. Doch noch nie ist jemand aus der Hölle zurückgekehrt. Wie lange wird das Leben in der Hölle wohl dauern? Ewig. Wie lang dauert ewig? Eine Ewigkeit. So lange, wie ein kleiner Vogel, der alle hundert Jahre einmal seinen Schnabel wetzt am höchsten Berg der Welt, Zeit benötigt, den Berg abzuwetzen, bis er flach ist wie der Strand am Meer. Aber was beginnt dann hinter dieser Ewigkeit? Eine neue Ewigkeit. Weil eine Ewigkeit kein Ende hat. Hinter der Ewigkeit gibt es nichts. Noch nicht einmal ein Nichts. Wenn die Ewigkeit ein Nichts wäre, dann könnte es sie ja nicht geben. Da es sie aber gibt, muss sie etwas sein, und wenn sie etwas ist, muss sie auch ein Ende haben.

Vielleicht langweilt sich die Hölle irgendwann mit mir, wirft mich in eine feuchte und dunkle Ecke und lässt mich sterben?

Auf all diese Fragen gibt es nur eine Erklärung: Ich lebe. Und hierfür soll ich bestraft werden. So viele Menschen, jeden Tag immer wieder neu, leben nicht! Sie leben einfach nicht. Obwohl sie da sind. Aber sie kommen nicht ins Leben. Bleiben in den Bäuchen der Frauen verborgen. Im Dunkel. Und doch könnten sie leben. Es gibt viel mehr Menschen auf der Erde, die nicht leben, als Menschen, die es ins Leben geschafft haben. Genauso gut hätte ich versteckt bleiben können im Leben, und an meiner Stelle hätte ein anderer, von mir aus auch eine andere, das Licht der Welt erblickt. Ich habe die Grenze vom bloßen Da-Sein ins Leben überschritten – und dafür werde ich bestraft. Weil ich jemand anderem das Leben weggenommen, also gestohlen habe. Das ist der Grund, warum ich im Himmel hänge. Um in die Hölle zu kommen. Aus Gründen der Gerechtigkeit, als Erziehungsmaßnahme des Lebens? Und die Hölle, das kann nur die Räucherkammer unserer Metzgerei sein.

Wo bleibt Mutti? Wieso kommt sie nicht, nimmt einen Stuhl, stellt ihn unter mich, steigt herauf, hebt mich aus dem Gestänge, umarmt mich, gibt mir einen Kuss, zaubert aus den Seitentaschen ihrer grünen Strickjacke zwei Paar knallroter Kirschen hervor, hängt sie mir über die Ohren, gibt mir einen zweiten Kuss und lächelt mich an? Wieso geschieht nicht, was zu geschehen hat? Wieso tut sie das nicht? Wo bleibt sie?

Ich war fünf Jahre alt, damals – und seit fünf Jahren König. Naja, vielleicht auch erst vier oder viereinhalb oder vierdreiviertel, aber auf jeden Fall ein König, ein kleiner König. Über drei Königreiche. Und mein zweites Königreich war die elterliche Metzgerei in Gera, Ortsteil Lusan.

Die Dunkelheit ängstigte mich. Obwohl es keine wirkliche Dunkelheit war. Denn Straßenlicht fiel in den Raum, und ich und die gleichgültig vor sich hin hängenden Würste und Speckseiten warfen stumpfe Schatten – oder lebendige, schwankende, wenn Autos vorüberfuhren und das Licht ihrer Scheinwerfer durch den Raum wandern ließen. Dann – als könne ich mit den Bewegungen die Vorüberfahrenden auf mich und meine Lebensgefahr aufmerksam machen – bewegte ich mich, zappelte vorsichtig mit den Beinen, schwenkte, mal mehr, mal weniger, den Körper hin und her, doch stets darauf bedacht, dass weder meine Hände von dem schwarzen Spieß abrutschten noch dieser aus dem Himmelsgestell herausbrach. Doch sie sahen mich nicht, nicht die Kraftanstrengung des Festhaltens, nicht meine Angst vor dem Absturz.

Und sollte mein Schatten mich sehen, so beachtete er mich nicht. Er war einfach nur da und wollte weiter nichts, außer nur da zu sein. Wieso löste er sich nicht von meinem Körper, wanderte durchs Fenster auf die Straße, um dort wild herumzufuchteln, damit jemand käme und mich vom heranschleichenden Tod befreite? Der Schatten meines Körpers lebte durch mich, war mein dunkles, losgelöstes Ich: Gäbe es mich nicht, gäbe es ihn auch nicht. Er würde gnadenlos vom Licht geschluckt. Wieso erschien ihm sein Leben, das ich ihm spendete, so bedeutungslos, dass er nichts unternahm, mich zu retten und, indem er mich rettete, auch sich? Doch er war Knecht, tat stur, was mein Körper ihm befahl, ohne jegliche Anteilnahme und eigenen Willen zu handeln.

Und wenn schon mein Schatten faul und blöd und träge war, wieso wollten dann nicht wenigsten die Schatten von Wurst und Speck und Schinken ausbrechen aus ihrer beengten Existenz und dem engen Raum ihrer Gefangenschaft? Wieso wollten sie nicht ihr schwarzes Licht nach draußen in die Weite scheinen lassen oder auch nur auf einen kleinen Spaziergang schicken durch ein Fenster oder einen Gardinenspalt im Aufenthaltsraum, um eine ihnen verborgene Welt zu entdecken und sie für mich um Hilfe zu bitten?

Sie kannten nur die Welt hier drinnen und schienen zufrieden zu sein mit ihrem dummen Glück. Ich kannte die Welt da draußen, kannte den Weg, den ich nach Hause zu gehen hätte, und würden sie mich befreien, ich nähme die Wurst- und Schinkenschatten mit in die Sommerleithe, sie dürften sich zu uns an den Tisch setzen und mit uns zu Abend essen von all dem, was ihnen hier im spärlichen Licht der Straßenlaterne und der vorüberfahrenden Autos verheißungsvoll, aber unerreichbar entgegenleuchtete.

Oder waren sie gar nicht dumm, sondern stellten sich nur so, registrierten stumm, was um sie herum geschah, verständigten sich in einer für die Menschen unhörbaren und, selbst wenn diese sie hören würden, unverständlichen Geheimsprache, die sie, sollten sie es wollen, jederzeit aufscheinen lassen könnten wie das Menetekel in der Bibel auf der Wand: Mene Mene Tekel Upharsin. Aber sie wollten nicht. Und so blieb alles, wie es war.

Je länger ich hing, umso blasser wurde meine Phantasie; und im bald aufziehenden Schimmer der Morgensonne würden die Schatten erbleichen. Weg aus meinem Kopf! Ihr Schatten, weg! Haut ab! Los! Verschwindet! Denn ich will nur eines: mit meinen Füßen wieder auf der Erde stehen.

Was sich bewegt, lebt; und was lebt, hat Antlitz, hat Gesicht. Augen beginnen silbern zu glänzen, Schweineköpfe glotzen mich an, verziehen ihre Rüssel und grunzen. Schweineohren wachsen zu Elefantenohren und richten sich auf. Was haben sie vor mit mir? Sind sie, die den Tod schon erlebt haben, neugierige Zaungäste meines nahenden Todes? Und kündigt sich nicht grollend und Lichtblitze vorausschickend draußen am Himmel ein Unwetter an, dessen Spektakel meine Reise ins Ungewisse begleiten wird? Meine Hände, die mich festhalten sollten, um mich vor dem Untergang zu bewahren, werden feucht, beginnen zu schwitzen, und der kalte Schweiß des sich anschleichenden Todes mischt sich mit der immer heißer werdenden Glut meiner Angst. Das am Räucherspieß klebende Fett beginnt zu schmelzen, fließt als heißes Öl an meinen Armen herunter, verbrüht meine Haut, sammelt sich als siedend heiße Fettbrühe in meinen Schuhen, und der schwarze Holzstock über mir, an dem ich mich festhalte und der mich hält, verwandelt sich langsam in eine rot glühende Eisenstange, während meine Hände kälter und kälter werden, betäubt von der erfrierenden Hitze und der Glut des Eises.

Es gibt keine Rettung. Niemanden, der die Tür aufschließt, das Licht anknipst und mich befreit aus meinem Geängste und dem Gestänge meiner Pein. Ich bin allein.

Wie gern läge ich jetzt in meinem Bett! Selbst ein schweres Gewitter, vor dem ich mich schon immer unglaublich fürchte, im Bett über mich ergehen zu lassen, wäre besser, als hier zu hängen. Wie viel lieber würde ich, von Bettwäsche umhüllt und verborgen, das Grauen unberechenbar einschlagender Blitze ertragen, das grelle Zittern eines unwirklichen Lichts, diese schrecklichen, alles erhellenden und die Augen erblinden lassenden Sekunden samt dem gleichzeitig peitschenden und knallenden Donner, der, kaum ist er verklungen, sich mit steigernder Wut wieder und wieder laden und blitzschnell wie eine zum Biss hervorschnellende Kobra entladen kann, um irgendwann weiterzuziehen, sich in der Ferne zu verlieren und das Gefühl zu hinterlassen, ich sei noch einmal davongekommen.

Blitz und Donner, das weiß ich, haben Kraft und Gewalt, mich, mein Bett, mein Schlafzimmer, unser Haus, ja, unsere Familie, wenn nicht gar ganz Gera zu vernichten, aber – sie tun es nicht! Sie drohen nur. Um weiterzureisen. Vielleicht haben sie uns unter dem Grollen heranpolternder Gesteinsbrocken und dem Getöse von Paukenschlägen im Licht des Blitzes betrachtet und uns für unwürdig befunden, von ihnen vernichtet zu werden, um sich ihrer Macht würdigere Opfer zu suchen? Stärkere, an denen sich ihre eigene Stärke hätte austoben können? Oder schwächere, um sie verächtlich zu bespötteln?

Neben einem vom Blitz gespaltenen Baum zu stehen, der in Flammen aufgeht, neben verkohlten Kühen auf der Weide oder zerstörten Häusern, aus denen Menschen flüchten, deren Haare und Kleider brennen und die aussehen wie verzweifelt fortrennende Fackeln auf Beinen – all das wäre mir lieber, als hier oben zu hängen. Bedrängt von grunzenden Schweinefratzen.

Schweine fressen alles. Auch mich? Einst hatten die Tiere, die jetzt tot und in Würste und Schinken verwandelt neben mir hängen, Gesichter und Leben, sind herumgesprungen und haben sich des Lebens gefreut. Nun sind sie tot, doch ihre Geister – so etwas gibt es, wie ich aus den Geschichten meiner Mutter weiß, die sie meiner Schwester, Klaus und mir vor dem Einschlafen vorgelesen hat – leben und wollen sich nun an mir rächen. Aber rächen wofür? Was habe ich ihnen getan? Ich habe sie nicht getötet. Oswald und mein Vater haben sie getötet. Sollen sie doch Oswald und meinen Vater neben sich hängen und für ihre Ermordung bestrafen und quälen.

Ich esse ohnehin lieber frisches Brot, bestrichen mit Butter und bestreut mit Salz oder Schnittlauch, als belegt mit dem Fleisch, das jetzt neben mir hängt. Mit einer Ausnahme: Nichts geht über eine Scheibe Brot mit grober Leberwurst. Wenn man die Leberstückchen im Mund spürt, sie mit der Zunge am Gaumen zerdrückt zu einem feucht-mehligen Brei und die Leber ihren Geschmack entfaltet, dann ist dieser Genuss die Veredlung des altehrwürdigen Fleischerhandwerks in Perfektion. Aber weder können die Würste und Schinken, inmitten derer ich hänge, dieses mein Geheimnis wissen noch ahnen. Wie und woher auch?

Oswald! Vor ihm, der mich zuerst zu meiner Freude, dann zu meiner Trübsal himmelhoch gehängt hatte – so freundlich er mir gegenüber war in Gegenwart meiner Eltern –, hatte ich mich, wenn ich mit ihm allein war, immer ein wenig gefürchtet. Außerdem schien er mir, fühlte er sich von mir unbeachtet, etwas Andersartiges auszustrahlen, etwas Finsteres, Verborgenes. Seinem wulstigen Gesicht, seinen wie mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger nach vorne gekneteten Augenwülsten samt wuscheliger Augenbrauen, seinen nach außen gestülpten, viel zu dicken Lippen, den drahtigen kurzen Haaren – die mich immer an den Dutt aus silbernem Draht erinnerten, mit dem Mutti die Tiegel säuberte –, von denen er, obwohl er jünger war als mein Vater, schon viele verloren hatte und unter denen die Schädeldecke hervorschimmerte, aber ganz besonders seinem Lächeln – konnte ich all dem trauen? Oder war es nur eine Verstellung wie bei Rotkäppchen und dem Wolf?

Nichts half. Weder schlimmere Ängste zu beschwören noch meine verzweifelte Situation mit den bunten Bildern meiner Phantasie zu verzieren und zu beschönigen.

Was nur, was hatte ich getan? Was verbrochen, dass ich sterben musste? Noch nie hatte ich den Tod gefühlt. Jetzt war er da.

Sommerleithe

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