Читать книгу Sexy, aber nicht mehr so arm: mein Berlin - Klaus Wowereit - Страница 8

POLITIK UND POLITISCHE KOMMUNIKATION

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Die Bürger erwarten ja auch zu Recht, dass wir Politiker ihnen zuhören. Wobei man sich manchmal wünscht, andere wären nicht ganz so felsenfest davon überzeugt, dass man ihre Meinungen oder Sorgen gerade zum allerersten Mal im Leben hört. Ebenso wie ich die Meinungsstärke vieler Bürger noch mehr schätzen würde, wenn sie auch mir zugestünden, dass meine Position zu einem Thema nicht gleich beim ersten flockigen Einwand ins Wanken gerät. Gleichwohl ist es wichtig, dass man als Politiker Volkes Stimme öfter live und nicht nur durch den Filter von Meinungsumfragen hört. Solche Stimmen müssen auch nicht besonders differenziert ausfallen. Zumindest entstehen dadurch neue Fragen, anhand derer man seine eigene Meinung überprüfen oder mit denen man seinen Fachleuten auf die Nerven gehen kann.

Im Laufe eines Jahres kommen allein bei den öffentlichen Terminen, die man bei Verbänden oder Firmen, in sozialen Einrichtungen oder Schulen, auf Baustellen oder Volksfesten absolviert, schnell ein paar hundert Leute zusammen, mit denen man ins Gespräch kommt. Anders als die Kanzlerin oder einen Bundesminister konnten und können Sie mich in Berlin durchaus auch auf der Straße anquatschen. Und genau wie Sie ging und gehe ich selbst zum Bäcker oder zum Fleischer – wo die Gespräche sich auch nicht bloß um Brötchen, Wurst und Wetter drehen. Außerdem bekommt ein Bürgermeister im Rathaus einen Haufen Post. Jeder wird verstehen, dass ich nicht jeden Brief selber lesen konnte. Aber jeder Brief wird (und wurde) gelesen – und in aller Regel auch von einem Mitarbeiter der Senatskanzlei beantwortet. Als Chef findet man ein „best of“ in seiner Korrespondenzmappe. Und es wird einem auch nicht verschwiegen, wenn der Postbote zu einem bestimmten Thema plötzlich säckeweise Zuschriften anschleppt.

Trotzdem, Politiker ordnen auch die Berichte und Meinungen von „ganz normalen Menschen“ in den Zusammenhang ein. Warum sollten wir – was wir selbstverständlich tun – einem Lobbyisten der Pharmaindustrie ausschließlich eigennützige Interessen unterstellen, Herrn Müller oder Frau Meier aber stets nur für edle Fürsprecher des Gemeinwohls halten? Die Meinung eines Bürgers ist die Meinung eines Bürgers. Und wenn er gegenüber einem Politiker eigene Sorgen, Probleme, Wünsche oder Ideen formuliert, dann spricht er, wie jeder Mensch, halt auch erst mal nur für sich selbst.

Es gibt übrigens einen TV-Klassiker, der seit 1971 Volkes Stimme ein Forum gibt: „Jetzt red i“ im Bayerischen Fernsehen. Die Sendung ist beliebt, wenngleich mit Einschaltquoten meist unter 10 Prozent. Diese televisionäre Bürgersprechstunde beugt sich einer Grundregel des Diskutierens, die lautet: Man kann über alles reden, aber nicht länger als 90 Minuten. „Jetzt red i“ dauert nur 45 Minuten, so lang wie eine Schulstunde, die nach Meinung vieler Pädagogen die Aufmerksamkeitsspanne von Schülern schon strapaziert. Für mich belegt dieser „Jetzt-rede-ich-Quotient“: Länger als eine Dreiviertelstunde mögen Bürger nicht nur ihren Politikern, sondern auch sich selbst nicht wirklich zuhören.

Was Wunder also, dass wir Politiker versuchen, möglichst alles in zwei, drei knackigen Sätzen zu formulieren. Dass wir griffige „kleine“, aktuelle und eher schnell lösbare Themen nach außen gegenüber schwierigen, komplexen und „großen“ Zukunftsthemen bevorzugen. Dass auch die Medien lieber auf verdauliche Storys, auf einen „Skandal“ hier und eine „Enthüllung“ dort setzen – und dann schnell das Thema wechseln.

Tatsächlich liegt im Politmarketing oft in der Kürze die Würze. Weshalb wir vor Mikrofonen und in Pressekonferenzen versuchen, möglichst eingängige „Botschaften“ zu formulieren, bei denen man schlecht was wegschneiden kann. So entsteht vermutlich der Eindruck, wir würden die meiste Zeit nur ausgestanzte Formeln und polierte Worthülsen zum Besten geben. Ich rate in diesem Punkt zu entspannter Gelassenheit. Ja, Werbung nervt. Aber ohne Werbeslogans funktioniert auch die Wirtschaft schon seit fast hundert Jahren nicht mehr. Nur: Wer bei den „Tagesthemen“ oder beim „heute journal“, erst recht bei Phoenix angeödet wegzappt, der darf sich hinterher nicht beschweren, wenn er, etwa bei Wahlen, zum für ihn falschen Produkt greift.

Alles Weitere muss man, wie überall, auch in der Politik schriftlich haben. Beim Hören gehen 80 Prozent zum einen Ohr rein und zum anderen gleich wieder raus. Beim Lesen besteht eine Chance, dass auch von einem längeren Gedanken mehr als die Hälfte haften bleibt. Aber wer liest politische Artikel, Traktate oder gar ganze Bücher? Äußert man sich als Politiker in einer der großen überregionalen Tageszeitungen, im SPIEGEL, im Focus oder in der ZEIT, dann sind immerhin auch Nebensätze erlaubt. Je nachdem, ob man auf die relativ exakt messbaren Auflagen oder auf die etwas wackeliger ermittelten „Reichweiten“ schaut, darf man auf ein sechs- bis knapp siebenstelliges Publikum hoffen. In Berlin erreicht man mit Tagesspiegel, Berliner Zeitung oder Berliner Morgenpost jeweils so um die 200.000 bis 350.000 Leser – immerhin. Das ist – über den Daumen gepeilt – jeder Vierte der knapp 2,5 Millionen Berliner Wahlberechtigten. Ein weiteres Viertel informiert sich – diplomatisch formuliert: knapp und plakativ – via B.Z. oder Berliner Kurier über die politische Entwicklung in der Hauptstadt. Es ist also gar nicht so einfach, in die demokratische Öffentlichkeit vorzudringen.

Ein (in dem Fall konservatives) Periodikum wie Cicero bringt es nur noch auf eine Auflage von knapp 80.000 Exemplaren. Spätestens bei Artikeln im Parlament oder im Vorwärts, bei Aufsätzen im Merkur oder in der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte sind dann die Connaisseure und Profis unter sich. Deren Auflagen sind bestenfalls fünf-, meist nur vierstellig. Und man möchte lieber nicht wissen, wie groß der Anteil jener Hefte ist, die nie ein Mensch von innen sieht. Ebenso wie bei Parteiprogrammen das Delta zwischen Druckauflage und tatsächlicher Leserzahl beachtlich sein dürfte.

Ja, und dann informieren sich heute auch immer mehr Bürger im Internet. Erst mal ist das eine wunderbare Sache: dass heute praktisch jeder alles lesen und auch seine Ansichten zu jedem beliebigen Thema verbreiten kann, ohne dass es da – wie bei den „alten Medien“ – noch nennenswerte Hürden gäbe. Dennoch scheint mir, dass dabei leider auch ein paar ganz nützliche Eigenheiten öffentlich-rechtlicher wie privatwirtschaftlicher Medienangebote unter die Räder kommen, etwa die traditionelle Trennung von Nachricht, Reportage, Analyse und Kommentar. Gerade in den Online-Medien droht diese zu kollabieren.

Gute Journalisten haben vor allem zwei Sachen sehr gründlich gelernt: recherchieren und formulieren. Und sie investieren, wie jeder gute Handwerker, in beides viel Zeit und Arbeit. Sie fragen also nicht nur irgendjemanden, ob er auch gehört hat, dass da und dort dieses oder jenes passiert sein soll. Sondern sie zapfen für jede Information mindestens zwei, besser drei voneinander unabhängige Quellen an. Sie pinnen nicht einfach ab, was irgendwer angeblich irgendwo geschrieben, kommentiert oder gesagt hat. Sondern befragen denjenigen selbst und studieren die fraglichen Dokumente.

Die meiste Zeit verbringen wir Politiker aber gar nicht damit, uns zu äußern, auch wenn das der Teil unserer Arbeit ist, den die Menschen mit Abstand am stärksten wahrnehmen. In Wahrheit hören wir viel mehr zu. Wahr ist allerdings auch: Am meisten müssen wir uns in Sitzungen gegenseitig zuhören. Wobei Parlamentsreden wiederum gern „zum Fenster raus“ gehalten werden, vor allem von Spitzenpolitikern. Heißt: Die Redner wenden sich eher an die Bürger als an die Kollegen, und sie schielen dabei wieder auf Kernaussagen, die als Zwanzig-Sekunden-Schnipsel für die Nachrichten taugen. Das eigentliche „Produkt“ Politik entsteht größtenteils in internen Sitzungen.

Dass alle wichtigen Entscheidungen „hinter verschlossenen Türen“ fallen, ist dabei nur noch eine Legende aus alter Zeit. Nein, ich rede jetzt nicht von den „geheimen“ Beratungen auf Bilderberg-Konferenzen oder in anderen Zirkeln der New World Order. Da war ich leider nie eingeladen. Weshalb ich schlicht nicht weiß, was die wahrhaft Mächtigen des Planeten alles planen. Ich kenne mich mit demokratisch legitimierten Beratungs- und Entscheidungsstrukturen aus. Und da ist es doch eher so, dass heute alles transparent ist und alles berichtet wird.

Die Entscheidungsprozesse sind in demokratischen Systemen wie dem unseren zwar so komplex wie die vielen tausend Fragen, die es Tag für Tag zu beantworten gilt. Weshalb viele Menschen daran beteiligt sind. Wirklich viele Menschen! Und weshalb die Prozesse oft auch ziemlich langsam ablaufen. Aber eines sind sie so sicher wie das Amen in der Kirche: transparent. Man muss halt in die Dokumentationen schauen, was nicht jeder kann oder will. Muss aber auch nicht sein. Denn irgendwer schaut überall rein – und macht sofort Lärm, wenn er was Verdächtiges findet.

Sie kennen das aus dem privaten Bereich: Bevor Sie schwierige Entscheidungen treffen, reden Sie (hoffentlich) mit Ihrer Familie oder mit Freunden. Und fertigen gewiss weniger Protokolle an als Politiker und Staatsbeamte. Weil es halt immer gut ist, Meinungen, Kritik, Ermunterung oder wenigstens Trost von anderen zu bekommen. Ich finde, das muss auch in der Politik möglich sein. Vertrauliche Gespräche, Sitzungen, aus denen nichts herausdringt, Beratungen oder Brainstormings, bei denen auch mal eine weniger gute Idee in den Raum geworfen oder eine etwas zackigere Polemik vom Stapel gelassen werden kann, das gibt’s jedoch im politischen Geschäft heute kaum noch. „Hinter verschlossenen Türen“ kannst du im Grunde gar nichts mehr besprechen. Weil auch hinter den dicksten Türen einer mit WhatsApp, Facebook oder Instagram auf dem Handy sitzt. So kannst du oft schon vor Ende einer Sitzung im Netz lesen, was du da angeblich eben gesagt haben sollst oder wer eine „interne Niederlage“ kassiert hat.

Ob Politik dadurch „transparenter“ wird, dass alle zwei Minuten einer was postet, kann man bezweifeln. Vor allem aber ist es ein Irrglaube, Politik würde durch dieses Dauerrauschen besser. Das Gegenteil ist richtig. Es braucht schlicht Räume, in denen man auch geschützt miteinander diskutieren kann. Wo nicht jedes spontane Wort und jede unreine Idee sofort kolportiert werden. Wo Ideenskizzen nicht nur an die Öffentlichkeit gebracht werden, um ihre Urheber zum Abschuss freizugeben. Wo man über das eine oder andere Argument auch mal eine Viertelstunde nachdenken darf. Und wo es erlaubt ist, eine Meinung aufgrund einleuchtender Gegenargumente wieder zu verwerfen – ohne dass gleich die Schlagzeile aufblinkt, XY sei mal wieder „umgefallen“.

Ich habe so etwas bis rauf ins Präsidium der SPD erlebt. Da sitzen keine zwanzig Leute zusammen. Der Inner Circle, würde jeder meinen. Doch selbst da konntest du nicht offen reden. Denn kaum hattest du was gesagt, was andere jetzt vielleicht gerade nicht so toll fanden, stand das auch schon bei Spiegel online oder sonst irgendwo. Sodass Kommentatoren und Kritiker schon die Messer gewetzt hatten, wenn du aus dem Raum kamst. Wenn nicht sofort geplaudert wird, dann halt ein, zwei Tage später. Seltsamerweise glauben viele Kolleginnen und Kollegen, sie könnten persönliche Vorteile daraus ziehen, die Medien mit Vertraulichkeiten anzufüttern. Dabei sollte doch eigentlich jedem klar sein, dass er nur der oder die Nächste für die Rolle des Hanswurst ist. Und was ist das Ergebnis der ganzen Übung? Dass man sich zur Lösung schwieriger Probleme, bei denen eigentlich der Rat von mehr Menschen wichtig wäre, erst recht ins stille Kämmerlein zurückzieht.

Das ist nicht nur ein Problem unter Politikern. Es betrifft längst auch Fachleute, wissenschaftliche Experten, Interessenvertreter aller Couleur oder Künstler und Intellektuelle, deren oft originelle Einschätzungen man sich auch ab und an mal anhören möchte. Alle haben inzwischen ihr eigenes Schaulaufen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Selbst auf der Beamtenebene musst du heute mit Klatschbasen rechnen. Früher, um nur ein Beispiel zu nehmen, wussten die meisten nicht, was der Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung überhaupt ist. Geschweige denn, wer da drin sitzt. Heute ist deren Jahresgutachten noch nicht ausgedruckt, da hat das wirtschaftspolitische Kommentariat alles schon abgefeiert, bevor du auch nur die Einleitung gelesen hast.

Ich weiß, dass das wohl eher ein kühner Traum ist: Aber etwas Verlangsamung und etwas weniger Mitteilungsdrang würde dem politischen Tagesgeschäft vermutlich guttun. Weil da inzwischen selbst die Profis kaum noch mithalten können, geschweige denn die Bürgerinnen und Bürger.

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