Читать книгу Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater - Koku G. Nonoa - Страница 29
2.1.2.1. Raum, Architektur und Schauplatz
ОглавлениеIm Vergleich zu Kirchenbauten ist das Schlossgebäude Prinzendorf bzw. die Architekturkonzeption eine Analogie zum menschlichen Leib bzw. Körper. Zugleich heißt es, dass das sich dort ereignende Theatergeschehen für den Inbegriff des Seins, der Schöpfung bzw. der Weltwerdung steht. Dabei drückt sich die Gebundenheit des Seins an einen bestimmten Bezugsort/Bezugsraum – wie z.B. an Kultstätten, Tempel, Kirchen, Arenen – aus, wo, wie Nitsch selbst formuliert, „hochämter des theatralischen, dramatischen geschehens aufgeführt werden.“1 So gesehen ist das niederösterreichische Schloss Prinzendorf, das 1971 durch die Initiative seiner Frau Beate Nitsch der Kirche abgekauft wurde, Wohn- und Schaffensort und vor allem Schauplatz und Herz des Orgien-Mysterien-Theaters.
Abbildung 1:
Schloss in Prinzendorf, © Julia Schrenk
Frank Gassner schreibt, dass urkundlich 1120 ein Schloss in Prinzendorf erwähnt wurde, das vermutlich an einer anderen Stelle lag. Nachdem 1631 die Camaldulenser vom Josefsberg die Herrschaft übernommen hatten, wurde 1645 der Vorgängerbau in den Schwedenkriegen stark beschädigt. Der jetzige Bau datiert auf die Jahre 1729/30 und ist von Franz Jänggl und Franz Anton Pilgram geplant worden. Aufgrund von Geldmangel hatte sich der Bau bis in die Jahrhundertmitte verzögert. Gassner zufolge ist dieser Bau im Zuge der Religionsreformen Josephs II. als kontemplativer Orden aufgehoben worden.
Das jetzige Landgut Schloss Prinzendorf befindet sich im Süden am Rand des Dorfes, das von etwa 1200 Menschen bewohnt wird.2 Nun sind der gesamte Schlossbau und die umliegende Landschaft zum performativen Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters geworden.
Es gibt sogar einen umweltfreundlichen bzw. ökologischen Aspekt: „die gegend von prinzendorf soll durch den theaterbau nicht verändert werden.“3 Das Schloss liegt in Prinzendorf an der Zaya im Weinviertel und ist umgeben von Wein- sowie Obstgärten, Wiesen und Feldern. In der christlichen bzw. kunsthistorischen Ikonografie deutet der Hinweis auf Vegetation und Weintrauben auf Leben, Neuschöpfung des Lebens, Freude und Energie hin. In der Eucharistie wird z.B. das Blutopfer durch Wein symbolisch ersetzt. Im Christentum ist der Weinstock ein Christussymbol. Darüber hinaus ist der Garten ein symbolischer Ort, wo unterschiedliche Lebewesen zusammentreffen: Pflanzen, Insekten, Fliegen, Vögel und andere Tiere – dabei ist der Mensch Gärtner, der Leben sät.
Die Weingärten deuten zudem auf Dionysos, den antiken griechischen Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase hin. In der römischen Antike ist er unter dem Namen Bacchus bekannt. Rund um die Symbolik des Weins gibt es das Weinlaub bzw. die Weinblätter, die in der Antike als Glücks- sowie Fruchtbarkeitssymbol vor allem mit dem griechischen Dionysos-Kult oder dem römischen Bacchus-Kult in Verbindung gebracht werden. Im März zu Beginn der Vegetation wurde er mit den großen Dionysien als Fruchtbarkeitsgott verehrt, bei denen auch der Phallus-Kult eine wichtige Rolle spielte. Zur Zeit der Weinlese im Oktober wurde Dionysos mit den kleinen Dionysien gefeiert.4 Insofern wird Dionysos mit Existenzfest, Lebensfreude, Ekstase, Rausch, Energie, Sexualität und Fruchtbarkeit assoziiert.
Abbildung 2:
Prinzendorf. Luftbildaufnahme des Schlosses von S (2004),
© Gabriele Scharrer-Liška
Zugleich geht es aber in diesem Zusammenhang nicht nur um den einen Aspekt oder um die eine Seite der Existenz. Es besteht ein beständiges Wechselspiel von Leben, Tod, Landschaft und Architektur, welches die inneren und äußeren Zustände der Menschen auf diesem ästhetischen Schauplatz des Theaters kennzeichnet. Die Architektur des Schlosses ist eine Art symbolische Einführung in die äußeren und inneren Bereiche des Gebäudekörpers, der an den des Menschen erinnert: Am Beginn war das Gebäude ein dreigeschossiger Bau mit Seitenflügeln, einem dreiachsigen Mittelrisalit, einer Kapelle mit ovaler Kuppel, mit gewölbten Räumen mit einfachem Stuck und Schüttboden im dritten Stock. Dann baute Nitsch für sein Theater das Gebäude in der Erde zumindest konzeptionell weiter.
Konzeptionell zeichnerisch und szenisch-performativ hat Nitsch mit seinen Architekturzeichnungen und durchgeführten Aktionen das Biologische, das Anatomische des menschlichen Körpers zur Schau gestellt. Nitschs Architekturkonzept für die Realisation seines Orgien-Mysterien-Theaters ist nach Wieland Schmied nicht nur ein Kosmos unter der Erde, sondern auch ein Entwurf von höchster Komplexität:
Sechs, sieben Stockwerke tief will er hinabsteigen in den Schoß der Erde. In seinen Gedanken projiziert sich ein Labyrinth unter das andere, […] unter dem Hauptraum und seinen Nebenzellen, den Weinkellern, den Schlafsälen, den Ställen, dem Rosentreibhaus, dem Schlachthaus und dem Kühlhaus und den sie verbindenden Blutrinnen, Blutkanälen, Blutadern, soll die Krypta liegen, unter der Krypta die „Ganggruppe Herzgebilde“ und schließlich ganz unten, auf dem Grund des untersten Labyrinths, vielleicht das verborgene Ziel des Orgien Mysterien Theaters, der Graltempel.5
Abbildung 3:
„die architektur des orgien mysterien theaters. architektur unter der erde“,
© Atelier Nitsch
Diese konzeptionelle und zeichnerische Ansiedlung der Architektur unter der Erde zeigt eine Analogie zum Umgang mit dem menschlichen Körper, der im Zentrum seines Orgien-Mysterien-Theaters steht. So sind organische Formen in seinen konzeptionellen Architekturzeichnungen deutlich erkennbar. Wie der menschliche Körper lässt sich das Innere der Architektur von außen nicht begreifen. Es benötigt eine Besichtigung des Inneren, um zu erfahren bzw. zu erleben, wie jedes Stockwerk unter der Erde ein Labyrinth für sich ist – und, wie Wieland Schmied sagt, mit verwinkelten, verschlungenen, irritierenden Gängen. Eine solche architektonische Konzeption ist wie eine Einleitung in die realen performativen Aufführungsvorgänge des Orgien-Mysterien-Theaters zu lesen – vor allem, wenn Nitsch seine Architektur „wie Querschnitte oder Längsschnitte in den Umriss des menschlichen Körpers, in die Kontur eines Kopfes, in anatomische Tafeln“ schreibe. Um „in diesem Körper wirklich zu Hause zu sein, zu wohnen im Herz, in der Lunge, in der Leber, wechselnd in allen Organen, zu treiben im Blutkreislauf, ein- und auszugehen mit dem Atem“, hat sich Nitsch so unwiderstehlich angezogen gefühlt, dass er aus dieser Anziehungskraft „die Grundrisse seines inwendigen Schlosses“6 gezeichnet hat. Allein in der konzeptionell zeichnerischen Darstellung der Architektur spielen sich die performativen Vorgänge des Orgien-Mysterien-Theaters ab, das eine radikal anatomische Behandlung des menschlichen Körpers in seinem Sosein präsentiert. Wieland Schmied schreibt, dass die Architektur bei Nitsch zweifach in Erscheinung trete: in realer Gestalt des Schlosses Prinzendorf mit seinen weit verzweigten Anlagen und als Entwurf, als Zeichnung, Lithografie, Radierung, als grafischer Zusammendruck. Ihm zufolge haben diese Entwürfe einen doppelten Charakter. Zum einen gäben sie in allen labyrinthischen Verschlingungen einen Plan der sechs oder sieben Stockwerke, die sich unter dem Gelände des Schlosses nach Nitschs Konzept einmal erstrecken sollen. Zum anderen berücksichtigen sie stets die Dimension der Zeit und deuten auf das Spiel hin, das dereinst in diesen sieben Labyrinthen unter der Erde stattfinden solle. In diesem Sinn seien sie als provisorische Skizze jenes Theaterablaufs zu lesen. Dieser Doppelcharakter der grafischen Blätter stehe nach Schmied u. a. für die Grundrisse sowie für die Struktur kommender ritueller Handlungen und Ereignisse.7 Bereits aus diesen Zusammenhängen wird ersichtlich, dass Nitschs Theaterbau die konventionelle Infrastruktur eines klassischen modernen Theatergebäudes sprengt. Hinzu kommen alle regelbrechenden Gestaltungsformen direkter Wirklichkeit.