Читать книгу Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater - Koku G. Nonoa - Страница 34
2.1.4. Das Orgien-Mysterien-Theater und die aktuelle soziokulturelle Situation
ОглавлениеDas Orgien-Mysterien-Theater ist innerhalb der aktuellen soziokulturellen Umstände für die Mehrheit ein tabubrechendes und somit hochproblematisches Gesamtkunstwerk, das Verdrängtes in der Lebenswelt mit extremen, künstlerisch-devianten Ausdrucksmitteln aktionistisch vor Augen führt. Abgesehen von der kulturellen Ausgangslage bezüglich der „Rahmenbedingungen und Referenzpunkte des Wiener Aktionismus in Österreich“1 sowie der neoavantgardistischen künstlerischen Strömungen der 1950er- und 1960er-Jahre (wie Fluxus, Happening, Action Painting etc.) wurzelt Nitschs Orgien-Mysterien-Theater auch im Tachismus. Durch den Surrealismus und Dadaismus bedingt, lässt sich der Tachismus als eine andere künstlerische Schaffensweise auffassen – mit dem Ziel, nichts zu reproduzieren oder abzubilden, was bereits in der Natur vorhanden ist. Für Nitsch bedeutet dies künstlerisches Schaffen und intensives Erleben neuer Wirklichkeitsbereiche.2 Dieses besondere Verständnis des Tachismus verbindet er mit dramatischen sowie aktionistischen Arbeitsweisen, um die Grundrisse seines Orgien-Mysterien-Theaters festzulegen.3 Dies führt ihn nicht nur zum Rückgriff auf die Tragödie der griechischen Antike und auf deren kultisch-religiöse Vorstufen, sondern auch auf das Gesamtkunstwerk von Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud.4 Zugleich distanziert er sich vom dramatischen/klassischen Theater Europas wegen des für ihn wichtigen, intensiven Erlebens neuer Wirklichkeitsräume mit der einhergehenden tragischen Erfahrung:
mich störte die trennung zwischen drama und lyrik, ich wollte letztere wesentlich stärker als bisher in den spielablauf bringen, aber ohne seine dramatische kraft zu vermindern. dies führte zu einer fast barock wuchernden, dem expressiv surrealen nahestehenden wortschöpferischen sinnlichen intensität, welche die sprache durchbrechen musste, um zum gestalten mit der wirklichkeit zu gelangen.5
Nitschs Theaterkonzept als Kritik an der Form des klassischen Theaters kommt in diesem Zitat zum Ausdruck, indem er sich, wie im nächsten Punkt ausführlich aufgezeigt wird, mit der europäischen Theatergeschichte auseinanderersetzt. Dies bewegt ihn gleichzeitig zur intensiven Beschäftigung mit dem Wesen der Tragödie und der kultisch-religiösen Vorstufen in der griechischen Antike sowie mit der Opferhandlung in der christlichen Religion. In diesem Zusammenhang steht das Orgien-Mysterien-Theater der Institution der christlichen Religion institutionskritisch gegenüber. Von Anfang an werden Nitschs ekstatische Aktionen mit Fleisch, Blut und Gedärmen aus einer in die Tiefe der menschlichen Psyche lotenden, bewusstmachenden Abreaktion vollzogen. Das Ziel sei dahingehend gewesen, Verdrängtes nach außen zu bewegen und bewusst zu machen. An den alten religiösen Opfern interessiert Nitsch ihr Abreaktionscharakter, die instinktive Suche nach sinnlich intensiven Erlebnissen, welche die Opfervorgänge einst charakterisiert haben. Das Orgien-Mysterien-Theater ist außerdem ein Beispiel postdramatischer Theaterpraxen, die das adäquate Darstellungsmedium des Entsetzens6 bestätigen, welches im Sinne von Lehmann wiederum das Theater brauche und das Drama aber hinter sich lassen müsse.7 Für die entsetzlichen Gegebenheiten, die zu Wiederaufnahmen der Grundmotive sowie Strukturen der Tragödie und ihrer religiösen Vorstufen in der griechischen Antike bewegen, fallen – z.B. in der aktuellen Lebenswelt – die fortwährenden Auseinandersetzungen mit ebenso tragischen „Unfällen, Katastrophen in der Natur und Technik, Terrorattacken, Amoklauf, […] «Schicksalsschlägen» wie Krankheiten, schweren Verlusten und Sterben“ an. „Tragödie und mit ihr die Erfahrung von Niederlage, Scheitern, Zusammenbruch wird öffentlich nach Kräften verleugnet, bleibt aber im seelischen Erleben virulent.“8 1989 ist nach dem Fall der Berliner Mauer die Lebenswelt erneut in Konflikte gestürzt, die unter anderem auf den Trojanischen Krieg rückprojiziert werden könnten. Währenddessen wird in der aktuellen Theaterpraxis die rituelle, soziokulturelle sowie politische Dimension blutiger Opfer sowie tragischer Erfahrungen in der antiken griechischen Tragödie wiedergewonnen – wegen ihrer öffentlichen Aushandlung und Darstellung von Gewalt, Terror, Rache und Machtverhältnissen etc.9 Hierfür werden z.B. ungewohnte und fremd gewordene künstlerische sowie ästhetische Ausdrucksmittel verwendet, die bestehende institutionelle und kulturelle Konventionen erschüttern.