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2.1.3. Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus

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Das Orgien-Mysterien-Theater und der Wiener Aktionismus sind im Zusammenhang mit internationalen Praxen institutionskritischer Kunst zu denken, die sich gegen Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre zunehmend ausgebreitet haben. Zur gleichen Zeit legte Nitsch die Grundstrukturen seines Orgien-Mysterien-Theaters fest: Überwindung der Sprache, reales Registrieren von Gerüchen, Geschmackswerten, Temperaturen sowie Tastempfindungen und Inszenierung realer Geschehnisse, wie die Beschreibung des Sechtagespiels zeigt. Parallel dazu befassten sich die österreichischen Künstler Otto Muehl, Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler mit ungewöhnlichen sowie irritierenden theatralen Vorgängen. Die vier Künstler (Brus, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler) lernten sich schließlich kennen, befruchteten sich gegenseitig, lernten viel voneinander und wurden vor allem von der Psychoanalyse beeinflusst. Während ihre künstlerischen Aktivitäten noch nicht unter dem Namen „Wiener Aktionismus“ bekannt waren, wiesen die vier Protagonisten jedoch einen gemeinsamen Nenner auf: die Inszenierung sinnlich intensiver und exzessiver Realgeschehnisse.

Die Bezeichnung „Wiener Aktionismus“ ist jünger als die jeweiligen Aktivitäten von Brus, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler. Im Juni 1965 soll der Name „Wiener Aktionismus“ von Brus in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Le Marais1 verwendet worden sein, in der die vier Protagonisten Erwähnung fanden. In seinem 1970 veröffentlichten Artikel „Wien. Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film“ geht Peter Weibel von den frühen 1940er- und 1950er-Jahren über die künstlerischen Arbeiten Arnulf Rainers und der Wiener Gruppe aus. Danach befasst er sich mit den Wiener Aktionisten, ohne zu einer Definition zu kommen. Rüdiger Ergerths Artikel „Wiener Aktionismus“ wurde ebenfalls 1970 im Kunstmagazin veröffentlicht. Er setzt sich mit dem Wiener Aktionismus auseinander, ohne ihn begrifflich zu bestimmen.2 Es steht fest, dass sich die Bezeichnung „Wiener Aktionismus“ Anfang der 1970er-Jahre etablierte, ohne jedoch eine allgemeingültige Definition angesichts der Vielfalt der zu fassenden künstlerischen Realgeschehnisse anzuführen. „Wiener Aktionismus“ als Begriff lässt sich eher in einer ausdifferenzierten Vorgehensweise beschreiben: Während die vier Protagonisten des Wiener Aktionismus von der Sprache als Kommunikationsmittel ihres künstlerischen Tuns Abstand nehmen, sind sie auf die verbale Sprache angewiesen, um ihre theoretischen Grundgedanken zu vermitteln:

es geht darum, durch intensives erleben neue wirklichkeiten zu finden und zu schaffen, damit unser lebensbereich erweitert wird. der staat, das erlaubte, die abgebrauchten regeln setzen fest, was wirklichkeit ist. so kann die aktion als reaktion auf den wirklichkeitsverlust begriffen werden, dem wir ausgesetzt sind. sie ist der ausbruch aus der umschnürung in richtung lebendigkeit und existenz. die aktion stellt unsere verlorene sinnlichkeit wieder her, indem sie die zu erfassende wirklichheit demonstrativ vor unsere sinne stellt. unsere wirklichkeit zeigt sich als etwas ständig sich veränderndes. wir stossen uns ab von wirklichkeitsbereich zu wirklichkeitsbereich, leben uns stets in eine wirklichkeit hinein, die wir uns schaffen. die futuristen, die dadaisten, die surrealisten mussten ausbrechen aus den ordnungen, aus der sprache, aus einer festgefahrenen wirklichkeit. immer geschah ein ausbruch zu einer neuen wirklichkeit.3

In dieser Hinsicht ist der Wiener Aktionismus in der gesamten Zeit seines Bestehens im Gegensatz zu den bereits erwähnten institutionskritischen Kunstpraxen ein Spannungsbogen gewesen – für die Aktionisten selbst sowie die gesamte, einschließlich der staatlichen sowie internationalen Öffentlichkeit. Ohne Vergleich ist der Wiener Aktionismus als eine drastische Reaktion auf die soziokulturellen sowie politischen Tatbestände der österreichischen Nachkriegszeit zu verstehen. Er ist wiederum je nach Prägung und Künstlerperson ausdifferenzierend aufzufassen. Im Sinne von Klocker bezieht sich das Verständnis des Terminus Aktionismus als „politisch, agitativ“ auf die künstlerische Arbeit von Muehl, Oswald Wiener und teilweise auf die Arbeit von Brus. Eine andere Ausdifferenzierung ist nach Klocker die formale Qualität, die von der gestischen Malerei (Action Painting) der ersten Nachkriegsavantgarde ausgeht; hier geht es um das Werk Nitschs und Schwarzkoglers, um den frühen Brus und um Teilaspekte der Arbeit Muehls. Für Klocker treffe Aktionismus auf die gesamte Spannweite des Wiener Aktionismus zu, wenn dieser als psychoanalytischer Begriff – abgeleitet von ausagieren, abreagieren – verstanden werde. Klocker schlussfolgert, dass der Begriff im weitesten Sinne auf den performativen Charakter dieser Bewegung hinweise und so die gesamte Breite ihrer Entwicklung umschließe.4 Es ist festzuhalten, dass sich der Wiener Aktionismus ursprünglich in der Wiener Nachkriegszeit an „den literarisch, performativen Experimenten der Wiener Gruppe und des Wiener Literarischen Kabaretts der 50er Jahre“5 direkt entzündete. Die Wurzeln des Wiener Aktionismus weisen vielseitige Einflussrichtungen auf: z.B. die sich „auf die expressionistische, dadaistische und surrealistische Sprachbehandlung“6 beziehende Wiener Gruppe. Die politische Verdrängung der österreichischen Verwicklung im Zweiten Weltkrieg gilt als unmittelbarer Entstehungskatalysator des Wiener Aktionismus; 1992 erinnerte Nitsch in seiner Rede zur Eröffnung der Galerie Krinzinger an die Entstehungsgeschichte des Wiener Aktionismus: „Der Wiener Aktionismus ergab sich, weil vier verschiedene Künstler, die verschiedene Ausgangspunkte und verschiedene Ziele hatten, aber doch viel gemeinsames aufwiesen, ähnlich auf ihre Gegenwart reagierten, die sie vorfanden und zu verändern suchten.“7

Peter Gorsen zufolge hat der Wiener Aktionismus in den 1960er-Jahren versucht, den Gegensatz von Kunst und Leben aufzuheben.8 Seiner Meinung nach hat z.B. Nitsch den Wiener Aktionismus so definiert, dass er mit den Intentionen des Orgien-Mysterien-Theaters zur Deckung gekommen sei.9 In der Tat hatte Nitsch 1971 in seinem Vortrag „Versuche zur Geschichte der Aktion“ an der Frankfurter Kunstakademie behauptet, dass die Kunst zum Leben durchgedrungen sei, weil nichts gespielt, simuliert oder interpretiert werde. Farben seien weder in abbildendem Sinn noch auf einer Bildfläche angeordnet. Alles sei Leben und ereigne sich tatsächlich, wobei das Leben selbst zu einem intensiveren Ereignis gebracht und die ästhetische Verdichtung vollkommen neu und weit ausholend verstanden sowie erhöht werde – in den Lebensprozess beschleunigt und vertieft.10 Tatsächlich hat sich der Wiener Aktionismus nicht nur von der herkömmlichen Malerei distanziert. Er ist zugleich im Sinne von Peter Gorsen die Verabschiedung der Ausstellungs- und Abbildungsästhetik, die „nur der Endpunkt einer kunsthistorischen Entwicklung“ sei, „die mit Braques Collages, Picassos Reliefkonstruktionen begann und über Schwitters ‚Merzbau‘, Rauschenbergs Combine Paintings und die Assemblages des ‚Nouveau Realisme‘ bis zur ‚Entformung‘ und Verzeitlichung der Materialien in der Prozesskunst führte.“11

Die malerischen Aktivitäten fanden öfters außerhalb der vorgesehenen Malateliers statt. Andere Räume wurden dafür gänzlich erobert, indem Malvorgänge vor dem Publikum prozessual durchgeführt wurden. Dabei wurden Menschenkörper sowie Materialien aus dem Alltagsleben aktionistisch, situationsbezogen und provozierend einbezogen: Provozierend und skandalös waren bei diesen Aktionen die besondere Ansprache sowie die Erweiterung aller menschlichen Sinneswahrnehmung zur Befreiung von soziokulturellen sowie künstlerischen Zwängen, die angeblich nicht nur auf den jeweiligen Protagonisten unterschiedlich lasteten, sondern auch auf der Gesellschaft. Die einzelnen künstlerischen Aktivitäten der Protagonisten, die als Vehikel zur Selbstbefreiung und zur (Selbst-)Erkenntnis eingesetzt wurden, erreichten die Öffentlichkeit – sei es direkt oder vermittelt durch die Presse: z.B. folgte dem Manifest „Die Blutorgel“, das für Nitsch als gedanklicher Anfang des Wiener Aktionismus gilt,12 eine skandalträchtige Malaktion. Gemeinsam mit Muehl, Adolf Frohner, Fritz Graf und dem Tiefenpsychologen Josef Dvorak hatte Nitsch anlässlich seiner Malaktion von 1962 „Die Blutorgel“ verfasst. Darauf erfolgte der aktionistische Umsetzungsgestus der Ablehnung herkömmlicher Darstellungs- und Abbildungsästhetik. Ihre aktionistischen Intentionen führten sie schließlich in einem gemieteten Keller in der Perinetgasse 1 im 20. Bezirk in Wien durch:

Die Akteure hatten sich für drei Tage im Kellergewölbe der Galerie einmauern lassen, um in einer Art Exerzitium sich vom Tafelbild, dem Hauptrequisit der traditionellen Darstellungsästhetik, zu verabschieden. Nitsch vollzog den Ausbruch aus der Fläche durch das gekreuzigte Schaf; Muehl und Frohner schufen „Gerümpelplastiken“ aus herumliegendem Schrott, den sie mit Farbe beschütteten. Es entstanden jene typischen „Materialaktionen“, die den Vernichtungsprozess von Form und Inhalt, das Informal, zum Thema erhoben.13

Aus dieser Aktion entstanden Gemälde und Plastiken, die den fixierten Gestus der Befreiung dokumentieren. Vermittelt durch vermeintliche Augenzeugen (kein Publikum soll im Aktionskeller gewesen sein) und durch die Presse machte sich dieses künstlerische Realereignis in der Öffentlichkeit breit. Diesbezüglich berichtete der Stern: „zentrales Ereignis der Drei-Tage-Klausur wäre die Schlachtung eines Lammes gewesen, mit dessen Blut man ein Bild an die Wand gemalt hätte.“14 In der Kronen Zeitung stand:

Drei Tage und Nächte war die Perinetgasse im 20. Wiener Gemeindebezirk der Ausgangspunkt wilder Gerüchte. Die Polizei intervenierte, der Tierschutzverein schickte einen Inspektor. Der Grund: Passanten wollten bemerkt haben, dass im Keller des Hauses Perinetgasse 1 wüste Orgien veranstaltet werden, bei denen Tiere gequält und geschlachtet worden sein sollen […]. Einem Inspektor war zu Ohren gekommen, dass bei der „Kellerpartie“ ein geschlachtetes Lamm eine nicht unwesentliche Rolle spielen sollte. Doch da gab es nichts, was gegen das Tierschutzgesetz verstieß. Sonntags stellten sich zwei Inspektoren der Kriminalpolizei ein. Sie erkundigten sich bei den drei „Kellerkindern“, ob sie überhaupt Österreicher seien. Was bejaht wurde. Dann sahen sie sich das Geleistete an: Draht- und Blechplastiken hingen von der Decke, riesengroße für den Normalverbraucher nicht ganz verständliche Gemälde zierten die Kellerwände.15

Aus diesen Auszügen aus der Presse wird ersichtlich, dass die Reaktionen der Öffentlichkeit mehrheitlich unterschiedlich waren. Diese als skandalös und rechtswidrig gesehene Malaktion markierte den ersten Meilenstein aller bevorstehenden, radikaleren Aktivitäten des Wiener Aktionismus. 1968 fanden diese Aktionen in der Gemeinschaftsaktion „Kunst und Revolution“ ihren Höhepunkt.

[…] der Einsatz des Körpers als Material, körperbezogene Aktionen, der aktionistische Einsatz von Sprache und der Einbezug des begleitenden sprachlichen Kommunikationsaufwands in die Aktion. Damit erhält die Aktion Kunst und Revolution einen paradigmatischen Charakter für den WA als Ganzes.16

„Kunst und Revolution“ schien alle bestehenden Grenzen überschritten bzw. ausgereizt zu haben, sodass die gesamte Aktion verurteilt wurde, während Brus, Muehl sowie Wiener verhaftet wurden. Die Gruppe zerfiel nach dieser gemeinsamen drastischen Aktion.17 Nitsch gelang es aber 1970, seine 32. Aktion im „Aktionsraum I“ in München durchzuführen, die seiner Ansicht nach zu diesem Zeitpunkt die vielleicht am besten verwirklichte Aktion18 gewesen sei. Seitdem führte Nitsch fortwährend Aktionen sowie Malaktionen durch: Die 144. Aktion fand am 25. März 2015 im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung „ExistenzFest – Hermann Nitsch und das Theater“ im Wiener Theatermuseum statt, während die 70. Malaktion vom 17. bis zum 19. November 2014 in der Galerie Elisabeth & Klaus Thoman, ebenfalls in Wien, zu verfolgen war.19 Somit hat das nicht nur institutionskritische, sondern auch zivilisationskritische20 Orgien-Mysterien-Theater den beendeten Spannungsbogen des Wiener Aktionismus überlebt.

Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen  Theater

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