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2.1.2.4. Beschreibung des Sechstagespiels

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Neben der Verwendung von Film- und Textquellen (z.B. Inszenierungs- und Aufführungstext) liefert die theaterikonographische Perspektive auch reichliche Informationen über vergangene Theatervorgänge. Als einer der Disziplinzweige der Theaterwissenschaft befasst sich die Theaterikonografphie mit der Bildforschung. Ihre Aufgabe besteht darin, auf der Grundlage z.B. von Vasenmalerei (Antike), illustrierten Manuskripten (Mittelalter), „Skizzen, […] Karikatur und Fotografie“ etc. „Bildquellen (im Gegensatz zu schriftlichen oder mündlichen Quellen)“ zu erfassen bzw. zu erschließen, „die über die Theaterkultur einer Epoche Aufschluss geben.“8 Die folgende Beschreibung des Sechstagespiels sowie die gesamte Analyse von Nitschs Theaterkonzept beruht demnach auf einer Kombination von Inhalten aus schriftlichen Quellen (Nitschs theoretischen Texten und Inzenierungstext) und dem Bildmaterial. Den Bildquellen der 100. Aktion (des Sechstagespiels)9 und Dokumenten „gesamtkonzeptionen des 6-tage-spiels“ und „vorläufige, unverbindliche gesamtkonzeption für das vom 3. bis 9. August 1998 in prinzendorf geplante 6-tage-spiel“ 10 ist die nachstehende Beschreibung aufgrund der Übersichtlichkeit entnommen worden.

Als szenisch-performativer Schauplatz des Sechstagespiels waren alle Ecken des Schlosses in Prinzendorf vom 3. bis zum 9. August durchgehend in Aktion: Hof, Park, Stallung, Schüttboden, Weinkeller, Obstgarten, Presshaus, Umgebung, Kellergasse der Eselsstadt. Tische und Bänke wurden entsprechend aufgestellt. Wanderungen und Spaziergänge wurden dabei beliebig unternommen.

Abbildung 4 & 5:

Überblick über die Gesamtanlage und den Vielort-Schauplatz des Sechstagespiels

Nach Sonnenaufgangsmusik fand bereits am ersten Tag die Schlachtung und Ausweidung eines Stieres statt. Die Motive von Ur- sowie Grundexzess, Uranfang, Mutter-, Vater-, Brudermord sowie Mord am Kreuz, Erbsünde, Sündenfall, Entstehung der Urschuld und der Zeit standen im Mittelpunkt. Dabei wurden die genannten Motive in einem Wechselspiel von Schöpfung, Sein, Exzess, Ereignis und Mord in Verbindung gebracht und erfahrbar gemacht. Auch die ewige Vergegenwärtigung des Opfers Christi durch Messopfer wurde in den Aktionen exponiert. So wurden vor dem Mittagessen Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen mit Fleisch, Blut, Tierkadavern und menschlichen Körpern szenisch-dynamisch durchgeführt. Nach dem Mittagessen wurden die Aktionen in Form von Prozessionen mit Tragbahren fortgesetzt: Passive Akteur_innen und Tierkadaver von Stier, Schwein und Schaf wurden mit Tragegeräten transportiert. Der erste Tag erreichte mit dem Hochziehen eines geschlachteten Stieres an der Schlossmauer in Begleitung aller Orchester und Blaskapellen seinen Höhepunkt. Der zweite Tag begann ebenfalls mit einer Sonnenaufgangsmusik. Im Anschluss umrundeten die Blasmusikkapellen in entgegengesetzter Richtung das Schloss. Danach fanden am Schüttboden im dritten Stock des Schlosses Mal- und Ausweidungsaktionen statt, bei welchen Nitsch und Akteur_innen weiße Flächen mit Blut beschütteten und ein geschlachtetes Schwein ausweideten. Nach dem Mittagessen wurden drei weitere Schweine geschlachtet, womit die Ausweidungs- sowie Beschüttungsaktionen unter dem mystischen Leitmotiv fortgesetzt wurden. Nach Beschüttungs-, Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen fanden als Finale des zweiten Tages Spaziergänge sowie Wanderungen zum Presshaus des Schlosses und zur Eselsstadt statt. Darauf folgten das Abendessen und bei Sonnenuntergang die zweite Malaktion: Blutige Leinwandflächen wurden von Nitsch und den Akteur_innen zusätzlich mit roter Farbe beschüttet, bespritzt und beschmiert. Es folgten Ausweidungsaktionen mit einem geschlachteten Schwein. Wie die beiden vorangegangenen Tage startete der dritte Tag mit Sonnenaufgangsmusik. Dieser Tag war auf den Mythos des Gottes Dionysos mit der Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ ausgerichtet: Der Gekreuzigte wurde mit einem verdrängten Dionysos assoziiert, der zum einen als Prinzip des ekstatischen Werdens und zum anderen als das der Zerstörung sowie als Gott der Weltenauflösung und der Wiedergeburt feierlich zelebriert werden sollte. In diese Richtung tranken und feierten alle Spielteilnehmer_innen hemmungslos, exzessiv und rauschhaft. Es fand zudem ekstatisches Trampeln auf Weintrauben, Obst und Tomaten, auf Tierlungen, Fleisch, Gedärmen, Tierlebern etc. in den mit Blut und Wein gefüllten Sautrögen, begleitet von einem extremen Lärmorchester, statt. Nach Sonnenuntergang wurden ein Stier und ein Mann, der vor dem Stier ans Kreuz gebunden und auf einem Tragegerüst befestigt worden war, von vielen Akteur_innen zur Eselsstadt getragen, wo auf den Wiesen der Rausch seine Kulmination erreichen sollte. Die ganze Aktion wurde von Musik begleitet. Der vierte Tag verlief mehr oder minder so wie die vergangenen Tage mit Aktionenfolgen des mystischen Leitmotives: Installationen mit Fleisch, Gedärmen, Blut, geschlachteten Tierorganen, Tierkadavern und nackten menschlichen Körpern. Zur Schau gestellt wurden außerdem einige sakrale sowie medizinische Geräte in den vielen Räumen des Schlosses und der Stallungen. Nach der üblichen Sonnenaufgangsmusik erwiesen sich die Aktivitäten am fünften Tag des Sechstagespiels als der Höhepunkt des mystischen Leitmotivs mit Erreichung des Grundexzesserlebnisses. Nach Prozessionen wurde eine Messe abgehalten, die während der Eucharistie in ein orgiastisches Fest umschlug: Das mystische Leitmotiv, das dabei die Orgie und den Exzess als bittere Daseinsessenz und explosives Aufeinanderprallen von Energiegefügen offenbarte, bedingte das chaotische Grundexzessereignis als ebenso unkontrollierbaren wie unvorhersehbaren Kräftestrudel. Diese Sachlage drückte sich mehrfach durch Schlachtungen von einem Stier und zwei Schweinen aus, die auch an diesem Tag exzesshaft sowie aktionistisch ausgeweidet wurden. Dabei balgten sich die Akteur_innen in Blut, Fleisch und Gedärmen. Sie zerrissen Fleisch und Tierkadaver als Steigerungszeichen des vergangenen dritten Tages. Ein bombastischer Lärm wurde von allen Orchestern als Höhepunkt des orgiastischen Abreaktionsfests veranstaltet. Der sechste und letzte Tag war folglich der Auferstehungstag und wurde durch festliche Prozessionen bestimmt. So geriet das Orgien-Mysterien-Theater zu einem Volksfest. Die gesamte Anlage des Schlosses wurde mit Blumen aller Farben geschmückt. Die Spielteilnehmer_innen wurden fröhlich und feierlich gestimmt. Nach Sonnenuntergang kehrte wieder Ruhe ein. Der nächste Sonnenaufgang wurde in Ruhe erwartet. Erst dann konnten sich die Spielteilnehmer_innen umarmen und küssen.

Mit dem ersten, vollständig verwirklichten Sechstagespiel hat Nitsch nicht nur die innewohnende Destruktion seines Orgien-Mysterien-Theaters gebändigt.11 Er hat sich zugleich in einer stark normativen Ordnung der Gesellschaft durchgesetzt und weist bis heute eine gewisse Dauerhaftigkeit auf.

Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen  Theater

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