Читать книгу Die gefährliche Macht schöner Geschichten - Kolja Menning - Страница 10
ОглавлениеKapitel 1.3
Tania hatte gerade beschlossen, dem Medienunternehmen nach gut zwei Jahren den Rücken zu kehren, als Lars ihr zuvorkam. Seine veränderte Einstellung zur Arbeit hatte deutlich weniger mit Faulheit zu tun, als Tania vermutet hatte. Lars hatte erkannt, dass sein nächster Karriereschritt nur anderswo liegen konnte. Also hatte er diesen Schritt vorbereitet, indem er mit Headhuntern geredet und Interviews geführt hatte. Er hatte sich mit den alten Herren bereits geeinigt und würde noch genau einen Monat im Unternehmen sein.
Tania witterte ihre Chance. Endlich war es so weit! Zweifellos würde man ihr nun Lars’ Stelle als Leiterin der Marketingabteilung anbieten. Sie malte sich aus, wie sie vor den alten Herren der Chefetage stand, die Kunst des Story-Tellings auf ein bis dato ungekanntes Niveau trieb und ein jeder an ihren Lippen hing, wenn sie ihre revolutionär-innovativen Ideen vorstellte.
Sie hatte es sich verdient. Sie war kein naives Mädchen mehr. Sie war einunddreißig. Sie hatte Erfahrung. Gewiss, sie hatte es schon weit gebracht, viele beneideten sie zweifellos um ihre großartige Karriere. Sie war jedoch noch nicht ganz das geworden, was sie als Fünfundzwanzigjährige von der einunddreißigjährigen Tania erwartet hatte – was sich nun ändern würde. Ihre Zeit war gekommen! Sie hatte so viel gelernt, so viel an sich geschliffen und an sich schleifen lassen! Sie würde in ihrem Leben ganz sicher nie mehr sprachlos sein, würde immer etwas Intelligentes zu sagen haben, so wie Marc, ihr allererster Manager, damals in der Werbeagentur. Ihr langes Warten würde sich gelohnt haben, sie würde endlich aus dem Schatten treten und endlich – vollkommen geschliffen – in all ihrem Glanz erstrahlen. Die alten Herren würden beeindruckt sein.
Drei Tage und drei Nächte gab sie sich diesem Traum hin. Dann wurde sie geweckt. Lars teilte ihr mit, dass sein Nachfolger ein gewisser Ben Soundso sein würde. Jemand von außen. Jemand mit viel Erfahrung. Er, Lars, würde noch ausreichend Zeit haben, um die Übergabe an Ben zu machen und ihn einzuweisen. Er konnte doch darauf zählen, dass Tania ihm nach Kräften half?
»Selbstverständlich«, hörte Tania sich stammeln. »Es soll ja nicht all das, was wir in den letzten zwei Jahren aufgebaut haben, verloren gehen.« Sie brachte ein Lächeln zustande, das so strahlend war, das man hätte glauben können, dass es von einem vollständig geschliffenen Diamanten ausging.
Es war die größte Niederlage ihres Lebens. Sie verließ das Büro um 15 Uhr, fuhr nach Hause und trank eine halbe Flasche Tequila sehr schnell. Den Rest des Tages verbrachte sie mit einer Tüte Kartoffelchips, einer Tafel Schokolade und dem restlichen Tequila vor dem teuren Flatscreen in ihrer hübschen kleinen Wohnung. Sie verfluchte diesen Ben. Sie verfluchte Lars, sie verfluchte die Riege der alten Herren – und sie verfluchte sich selbst, weil sie sich eingestehen musste, dass sie es nicht geschafft hatte, sich bei den Kahl- und Grauköpfen zu positionieren.
Am nächsten Tag meldete sie sich krank – zum ersten Mal, seit sie ihren Job angetreten hatte. Es ging ihr tatsächlich erbärmlich, was jedoch zum größten Teil an dem Tequila lag. Sie trank zwar keinen Alkohol mehr, aß jedoch eine fettige Pizza und einen noch fettigeren Hamburger, was sie schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Das Ergebnis war vorhersehbar: Als sie den Burger gerade verdrückt hatte, wollte er wieder heraus. Tania schaffte es gerade so eben noch zur Toilette, übergab sich, würgte noch eine halbe Stunde weiter, bis auch das letzte Stückchen Pizza wieder hervorgekommen war, und fühlte sich hundeelend.
Es reicht, entschied sie. Diamanten sind das härteste Material, das die Welt kennt! Ihr könnt mich nicht zerstören!
Sie wusch sich ausführlich, und während sie unter der Dusche stand, reifte ihr Plan. Sie hatte fast hunderttausend Euro gespart, sie war jung und intelligent und hatte einen sehr ansehnlichen Lebenslauf – sie hatte es nicht nötig, sich derart erniedrigen zu lassen. Im Bademantel setzte sie sich später an ihren Computer, verfasste ihre Kündigung und druckte sie aus. Beim ersten Exemplar gefiel ihr ihre handschriftlich daruntergesetzte Unterschrift nicht. Sie hatte den falschen Stift gewählt, und es sah so aus, als habe sie beim Schreiben gezittert. Unterwürfigkeit oder gar Angst – das sollte ihre Unterschrift nicht ausdrücken. Stolz. Unzerstörbarkeit. Das war es, was jeder erkennen sollte. Es würde ihnen leidtun. Doch es würde zu spät sein.
Am nächsten Morgen stand Tania früh auf. Sie verbrachte mehr Zeit als gewöhnlich vor dem Spiegel. Sie überlegte ganze zehn Minuten, was sie anziehen sollte. Es war wie damals in der Werbeagentur. Es war, als wäre ein Story-Telling-Day. Sie dachte an Marc und Claudia – und entschied schließlich, dass an diesem Tag Marcs Ratschläge besser passten. Lars, die alten Herren und dieser Ben waren allesamt Männer. Also wählte sie eine enge Bluse, die ihr Dekolleté bestens zur Geltung brachte. Sie war bereit! Und sie war fest entschlossen, die Sache durchzuziehen. Professionell, cool, unemotional. Cool wie Eis, hart wie Diamant.
Es lief nicht nach Plan. Obwohl sie früher als in den letzten Monaten üblich im Büro war, war Lars bereits da. Und er war nicht allein.
»Morgen, Tania!«, begrüßte er sie. »Darf ich dir Ben vorstellen? Ben, dies ist Tania, von der ich dir gestern schon erzählt habe.«
Tania starrte Ben an. Ihr fehlten die Worte. Tania hatte nie an etwas so Kitschiges wie Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Liebe auf den ersten Blick?? Das stank förmlich nach der Idee eines Marketingprofis, der an die romantischen Sehnsüchte von Frauen appellierte, um ihnen irgendeine Geschichte zu verkaufen. Doch diese Meinung wurde von Ben auf eine SEHR harte Probe gestellt.
Um es kurzzumachen: Tania reichte ihre Kündigung nicht ein. Während einer Toilettenpause eilte sie zum Aktenvernichter und schredderte das Papier, auf dem ganz unten ihre schöne, stolze Unterschrift stand.
Anders, als es für Tania üblich war, lagen dieser Entscheidung keinerlei rationale Gedanken zugrunde. Sie tat es, einem Gefühl folgend. Und mit dieser Entscheidung, ihre Kündigung nicht einzureichen, traf sie auch eine andere sehr wichtige Entscheidung: Sie entschied sich, die Arbeit an dem teilgeschliffenen Diamanten, der sie war, vorerst nicht fortzusetzen.