Читать книгу Die gefährliche Macht schöner Geschichten - Kolja Menning - Страница 9
ОглавлениеKapitel 1.2
Nach fünf Jahren war Tania dreimal befördert worden. Das war ziemlich außergewöhnlich, allerdings hatte Tania nichts anderes von sich erwartet. Alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen. Sie durfte regelmäßig Kundenworkshops alleine durchführen, managte je nach Projekt kleine Teams mit zwei bis drei Personen und bemühte sich redlich, die ihr anvertrauten Kollegen auf den rechten Weg zu bringen. Nicht jeder war ein ungeschliffener Diamant wie sie. Das heißt, eigentlich betrachtete Tania sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als vollkommen ungeschliffen. Teilgeschliffen vielleicht. Mitten im Prozess des Schleifens. Wie dem auch sei, die meisten ihrer weniger erfahrenen Kollegen erinnerten eher an hübsche, aber nicht allzu brillante Kieselsteine, die vollkommen glücklich damit schienen, sich treiben zu lassen, und keinerlei Ambition hatten, je ein Edelstein zu werden (ist chemisch vermutlich auch schwierig). Dennoch nahm Tania ihre Rolle als erfahrene Kollegin ernst. Selbst einen jungen Mann, der im besten Fall ein plumper Backstein war, gab sie nicht auf.
Und doch – mit der Zeit spürte sie mehr und mehr, dass die Werbeagentur nicht imstande war, ihr Potenzial vollständig auszuschöpfen. Immer häufiger wurde sie auf LinkedIn von Headhuntern kontaktiert, die ihr den nächsten großen Karriereschritt versprachen und mit wohlklingenden Titeln lockten. Anfangs war Tania unwohl dabei, die Nachrichten der Headhunter auch nur zu lesen. Sie fühlte sich, als betrüge sie ihren Arbeitgeber, der ihr doch so viel gegeben hatte. Sie fand jedoch zunehmend, dass sie eigentlich viel mehr gab, als sie im Gegenzug erhielt. Und so stimmte sie schließlich mit einem Gefühl, das eine Mischung aus Unbehagen und Aufregung war, einem Treffen mit einer besonders kompetent scheinenden Headhunterin zu.
Während des Treffens erkannte Tania, dass auch die Headhunterin im Story-Telling-Business tätig war. Auch sie verkaufte Geschichten. Individualisierte, schöne Geschichten. Es war nicht das erste Mal in ihrer beruflichen Laufbahn, dass nicht Tania anderen eine schöne Geschichte erzählte, sondern ihr eine erzählt wurde. Zum Beispiel in Karrieregesprächen mit der korpulenten Claudia hatte es solche Situationen bereits gegeben. Claudia erzählte bei diesen Gelegenheiten üblicherweise die Geschichte der großartigen Entwicklung der Werbeagentur, zu der Tania einen zwar kleinen, aber wichtigen Beitrag leiste. Das machte Claudia als Geschäftsführerin zu einer der Protagonistinnen, während Tania eine – mehr oder weniger wichtige – Nebenrolle zuteilwurde.
In der Geschichte, die die Headhunterin Tania erzählte, spielte Tania hingegen die Hauptrolle und die Headhunterin selbst eine wichtige Nebenrolle. Wenn Tania Frodo war, war die Headhunterin Gandalf. Und wenn Tania Harry Potter war, war die Headhunterin Dumbledore. Tania spielte mit. Sie sagte Sätze wie »Das hört sich nach einer einmaligen Chance für mich an.« Oder »Ich bin wirklich froh, dass Sie mich kontaktiert haben.« Und es bedurfte keiner Heuchelei. Tania bemerkte, dass sie sich nach etwas anderem gesehnt hatte. Frischem Wind. Neuen Herausforderungen. Es war das erste Mal, dass Tania die Macht schöner Geschichten am eigenen Leib spürte. Was die Geschichte der Headhunterin so mächtig machte, war, dass sie dem entsprach, was Tania hören wollte. Also willigte sie ein, den Kunden der Headhunterin zu treffen: den Marketingchef eines Medienunternehmens, der eine fähige rechte Hand suchte. Das Marketingteam bestand aus vierzehn Personen, von denen fünf – oder vielleicht auch sechs – Tania direkt unterstellt sein sollten. Es war eindeutig eine einmalige Chance.
Das Medienunternehmen, erklärte der Marketingchef Tania bei ihrem ersten Treffen, befand sich in einer genauso kritischen wie aufregenden Phase: Es stand mit einem Bein in der alten, analogen Medienwelt und hatte mit dem anderen Bein den Schritt in die Welt des Internets gemacht, ein notwendiger Schritt, wie der Marketingchef Tania erklärte, wenn das Unternehmen in zwanzig Jahren noch im Geschäft sein wollte. Die Vision des Marketingchefs war noch nicht sonderlich klar; er hatte seinen Posten selbst erst vor ein paar Monaten bezogen. Doch die Leidenschaft, mit der er von Veränderung sprach, mit der er Ideen in den Raum warf, sie kurz darauf wieder verwarf, wie er Tania an seinen Ideen teilhaben ließ und ihren Ideen zuhörte, als wären sie bereits ein Team – all das beeindruckte Tania so sehr, dass sie nicht lange zögerte. Als das Angebot kam, nahm sie es sofort an, was sich, wie Tania sich später immer wieder sagte, als die beste Entscheidung ihres Lebens herausstellen sollte.
Sie sollte allerdings zwei Jahre warten müssen, bis sie den wahren Wert dieser Entscheidung erkennen sollte.
Mit dem Gehalt hatte das nichts zu tun, denn das war zwar wirklich nicht schlecht, doch, um die Sache auf den Punkt zu bringen, zehn Prozent niedriger als das, was sie in der Werbeagentur gehabt hatte.
Auch Lars, der Marketingchef, war nicht der Grund dafür. Lars war zwar erstens intelligent und zweitens nett, eine angenehme zumal nicht selbstverständliche Kombination, wie Tania fand, doch Lars hatte Schwierigkeiten damit, seine Vision des »Brand New Digital Branding«, wie er es nannte, umzusetzen. Tania erkannte, dass das durchaus nicht allein Lars’ Schuld war; im Vorstand des Unternehmens saßen allzu viele allzu alte Herren mit weißem oder gar keinem Haar, die sich erstaunlich schwer damit taten, im Internet die Zukunft ihres Geschäfts zu sehen. »Never change a winning team«, erklärte einer der Herren Tania einmal, als sie und Lars ihm ein neues, frisches, cooles Marketingkonzept präsentiert hatten. Und dann empfahl er ihnen, durchaus wohlwollend, der Tradition des Hauses einen größeren Stellenwert in ihren Konzepten einzuräumen.
Es war das erste Mal, dass Tania ganz sicher wusste, dass sie mit der Geschichte, die sie erzählt hatte, nicht zu ihrem Zuhörer durchgedrungen war. Tania musste sich ihre erste große Niederlage eingestehen. Es deprimierte sie. Als sie mit Lars darüber sprach, lachte der. »Mach dir nichts daraus!«, sagte er. »Jeder Misserfolg ist eine Chance, etwas zu lernen! Eine Chance, die es zu nutzen gilt! Oder wie schon Einstein sagte: Was uns nicht umbringt, macht uns härter.«
Dass dieser Satz nicht von Einstein stammt, spielte keine Rolle. Auf die Message, die Kernaussage, kam es an. Von der Wichtigkeit von Misserfolgen hatte Tania natürlich schon viel gehört. Im Studium hatte sie sogar mal eine Vorlesung gehabt, in der es ausschließlich darum gegangen war, wie Misserfolge die Menschheit spalten in jene, die sich von ihnen demotivieren lassen und aufgeben, die fortan ein gar tristes Dasein fristen und bestenfalls im Mittelmaß versinken, und jene, die Misserfolge, genau wie Lars – und Einstein oder Nietzsche oder wer auch immer – gesagt hatte, als Chance begriffen. Tania war bisher nie in einer solchen Situation gewesen, doch es konnte keinen Zweifel geben, zu welcher der zwei Gruppen sie gehören wollte.
Ein Jahr lang versuchten Tania und Lars immer wieder, mit immer neuen Ideen bei den alten Herren aus der Chefetage zu landen. Sie arbeiteten mit Feuereifer, schlugen sich die Nächte um die Ohren, ließen sich von dem offenkundigen Desinteresse der in ihren Präsentationsterminen meist Erdnüsse futternden Riege der alten Herren nicht entmutigen und gingen auch mit Fieber oder Schnupfen ins Büro. Gleichzeitig vergaß Tania ihr Team nicht. Allerdings waren die ihr unterstellten Kollegen allesamt lediglich hübsche Kieselsteine. Gewiss nicht dumm, man konnte mit ihnen arbeiten, doch Tania hatte keine große Hoffnung, dass sich einer von ihnen einmal zu einer Führungsperson im Marketingteam entwickeln würde. Aber dafür war sie ja da. Sie wies an, motivierte, lobte, gab Feedback und fühlte sich bald wohl mit ihrer Personalverantwortung.
Doch irgendwann ebbte ihr Enthusiasmus ab. Selbst Lars schien immer häufiger, als habe er mindestens zwei Gänge zurückgeschaltet und seinen Schaltknüppel abgebrochen, sodass ein Hochschalten nicht mehr möglich war. Sie definierten eigene Deadlines vorsichtiger, begannen, sie immer regelmäßiger zu verpassen, kamen morgens später ins Büro, gingen abends früher und machten den Computer nur noch selten zu Hause an.
Es war alles in allem keine unangenehme Zeit. Zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben gab Tania nicht Vollgas. Sie traf sich regelmäßiger mit Freundinnen, ging in Cafés, Restaurants, Bars. Sie hatte eine kurze, aber sehr leidenschaftliche Beziehung mit einem jungen Isländer, einem fleischgewordenen Widerspruch: Tagsüber war er so kühl, dass man an einen isländischen Gletscher denken mochte, und nachts erinnerte er an einen isländischen Vulkan. Nach zehn Tagen und elf Nächten hatte Tania genug von diesem Wechselbad und beendete die Beziehung.
Sie hatte ein Abenteuer mit einem verheirateten Mann, auf das Tania nicht stolz war, und eine weitere Beziehung mit Julius, einem jungen Kinderarzt, der in seinem Beruf seine Berufung gefunden hatte. Als es nach vier Monaten begann, ernst zu werden, beendete Tania die Beziehung. Julius war am Boden zerstört, denn er behandelte nicht nur täglich Kinder, sondern hatte auch angefangen, davon zu träumen, mit Tania selbst ein, zwei Kinder in die Welt zu setzen. Es liege nicht an ihm, erklärte Tania ihm und meinte das vollkommen aufrichtig. Es war ihre Schuld. Seit geraumer Zeit nagte das beständig stärker werdende Gefühl an ihr, dass sie vom rechten Weg abgekommen war. Sie war schwach geworden, hatte ihr Ziel vorübergehend aus den Augen verloren und hatte sich treiben lassen. Gewiss, es war schön gewesen mit Julius, der Sex würde ihr fehlen und Julius auch, denn – auch hier war Tania ehrlich – da war mehr zwischen ihnen als nur Lust. Doch hin und wieder musste man kleine Opfer bringen! Wer dazu nicht bereit war, aus dem würde niemals etwas werden.
Zu allem Überfluss hatte sie sich auch körperlich gehen lassen, obwohl sie eigentlich mehr Zeit gehabt hätte, sich gesund zu ernähren und Sport zu treiben. Bereits seit ein paar Monaten wog Tania fünfhundert Gramm mehr als noch vor einem Jahr, Tendenz steigend – das durfte nicht so bleiben.
Tania arbeitete hart daran, diesen unerfreulichen Trend umzukehren – was ihr gelang. Sie versuchte, Lars zu motivieren, wieder Vollgas zu geben – was ihr nicht gelang. Im Gegensatz zu ihr schien Lars in seiner Situation nicht unglücklich: Er arbeitete immer weniger für ein sehr ordentliches Gehalt, machte neuerdings erstaunlich lange Toilettenpausen und verbrachte fast mehr Zeit damit, mit den alten Herren in der Chefetage über Fußball, Politik oder Rückenleiden zu diskutieren, als ihnen disruptive neue Marketingkonzepte zu unterbreiten. Ach, was, disruptiv! Der Ausdruck war so nicht zutreffend. Mit »disruptiv« hatte das alles schon lange nichts mehr zu tun. »Neu« vielleicht hin und wieder mal – doch selbst das war nicht immer der Fall.