Читать книгу Die gefährliche Macht schöner Geschichten - Kolja Menning - Страница 8

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Kapitel 1.1

Als Rohdiamant hatte sich Tania also als Fünfundzwanzigjährige gefühlt. Dass es normalerweise länger dauert als fünfundzwanzig Jahre, um einen (natürlich entstandenen) Rohdiamanten zu erhalten – geschenkt. Was damals fehlte, war der Schliff. Ein Schönheitsfehler, der eigentlich nur vorübergehender Natur sein konnte, denn es wurde fleißig an Tania geschliffen.

Zuallererst von Tania selbst. Als sie im Jahre 2010 als frisch gebackene Absolventin eines Masters in Marketing und International Business Communications ihren ersten festen Job in einer kleinen Werbeagentur antrat, verschlang Tania neben der Arbeit jeden Monat den aktuellen Self-Development-Bestseller und setzte die wertvollen Tipps für mehr Effizienz, mehr Produktivität, besseres Time-Management, selbstbewussteres Auftreten, überzeugendere Kommunikation und – natürlich – mehr Glück im Leben um, integrierte immer neue Routinen in ihren Alltag und konnte förmlich spüren, wie langsam, aber beständig ein echter Brillant Gestalt annahm. Übrigens sowohl innerlich als auch äußerlich, denn auch ihren Körper trainierte Tania. Eigentlich war sie immer schon stolz auf ihre sportliche Figur gewesen, doch mit der Zeit hatte sie nicht nur das tägliche Training verfeinert, sondern auch ihre Ernährung optimiert. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Wenn Tania Fotos von sich im Alter von zwanzig Jahren betrachtete, war es ihr fast peinlich, dass da doch eindeutig das ein oder andere Gramm Babyspeck vorhanden gewesen war. Doch das gehörte der Vergangenheit an. Inzwischen war es, als würde sie bei der Geburt eines Stars von morgen zusehen – nein, nicht nur zusehen, sondern aktiv daran mitwirken.

Auch andere wirkten an diesem Wunderwerk mit, allen voran fünf Vorgesetzte, die Tania in den letzten zehn Jahren gehabt hatte und die alle an ihr geschliffen hatten. Wohlwollend größtenteils. Tania selbst trug ihren Teil dazu bei. Sie hing an den Lippen ihrer Manager, wenn sie ihr Feedback gaben, und freute sich über jedes Wort, das ihr ermöglichen würde, eine bessere Version ihrer selbst zu werden, wie sich ein Kind über die Geschenke zu Weihnachten freut. Gut, einer dieser Manager hatte ihr kaum – oder eigentlich gar kein – Feedback gegeben, das brauchbar für ihre Selbstoptimierung gewesen wäre, doch dazu kommen wir zu gegebener Zeit. Die anderen vier jedoch (übrigens zwei Frauen und zwei Männer) waren mit ihrem Feedback umso großzügiger gewesen. Sicher, Feedback war, das darf man wohl sagen, nicht immer objektiv, wie Tania gleich zu Beginn ihrer Karriere lernen durfte. Doch viel mehr als auf das Feedback kam es darauf an, was man daraus machte.

In der kleinen Werbeagentur war ihr erster Manager ein Mann Mitte vierzig namens Marc. Tania bewunderte, wie selbstbewusst Marc bei Kunden auftrat, wie lässig er Fragen beantwortete, bei denen Tania der Schweiß ausbrach. Tania himmelte ihn an. Rein professionell, versteht sich. Und Marc erklärte Tania, worauf es ankam. »Du darfst nie vergessen«, sagte er immer wieder, »we are in a story-telling business!«

Erst mit der Zeit verstand Tania, was er damit meinte. Es ging den Kunden keineswegs nur um Ergebnisse. Clevere Marketing-Slogans, coole Designs, das war ja alles schön und gut, doch in Wirklichkeit ging es ihnen um die Geschichten, die sie damit ihren eigenen Kunden erzählen würden. Denn diese Kunden kauften nicht Produkte, sie kauften Geschichten. Und deswegen verkauften auch Tania und ihre Werbeagentur nicht Marketingkonzepte, sondern Geschichten. Schöne Geschichten. Marc erklärte Tania, dass es dabei zwar durchaus auf den Inhalt der Geschichten ankam, viel wichtiger aber sei die Form. »Die Delivery, also wie du die Sache rüberbringst, ist mehr als die halbe Miete«, schärfte Marc ihr ein. Schwedische Wissenschaftler – oder vielleicht waren es auch japanische oder amerikanische gewesen – hätten das in aufwendigen Studien zweifelsfrei bewiesen. Eine souveräne Präsentation, ein gewinnendes Lächeln, ja sogar ein selbstbewusstes Schweigen an der richtigen Stelle konnten wichtiger sein als tausend Worte. Und natürlich spielte nicht nur das Auftreten, sondern auch das Aussehen der Geschichtenerzähler eine Rolle, weswegen Marc am Tag vor wichtigen Kundenpräsentationen, die er selbst als »Story-Telling-Days« bezeichnete, immer zum Friseur ging, sich am Morgen besonders gründlich rasierte und sich besonders sorgsam kleidete. Marc war immer gut gekleidet. Doch er achtete darauf, dass es einen subtilen Unterschied gab zwischen einem Tag, an dem sie mit den Kunden einen Workshop abhielten oder ein Arbeitsmeeting hatten, einerseits und einem »Story-Telling-Day« andererseits. Natürlich gab es nicht einen besten Anzug. Nein! Der Anzug, das Hemd, die Manschettenknöpfe, die Krawatte, die Schuhe, ja, selbst, ob er eine Brille trug oder Kontaktlinsen, hing von der Geschichte ab, die sie erzählen würden.

Wie dankbar war Tania für die Einführung in diese Kunst! Marc war ein erfahrener Werber und ein ausgezeichneter Story-Teller. Nach Kundenterminen gab er ihr immer Feedback, wies sie auf Kleinigkeiten hin. Sie solle sich beim Sprechen mehr Zeit lassen, um mehr Souveränität auszustrahlen. Sie solle nicht jede Frage auf dem kürzesten Weg beantworten, weil oft der kürzeste Weg nicht der beste sei. Und natürlich sah sie sofort ein, dass Marc recht hatte, als er ihr empfahl, ihre Blusen ein bis zwei Nummern kleiner zu kaufen und einen Knopf mehr geöffnet zu lassen. Er machte auch keinen Hehl daraus, dass es ihm darum ging, ihr ausgesprochen hübsches Dekolleté mehr zur Geltung zu bringen. Es sei ein kleiner, aber nicht zu vernachlässigender Teil der Form. So wichtig wie bei ihm die Krawatte. Vielleicht sogar wichtiger. Natürlich wandte Tania Marcs Ratschläge an! Und das blieb nicht ohne Wirkung. Marc lobte sie überschwänglich, gab ihr Bestnoten bei den Bewertungen ihrer Arbeit und zeigte sich zuversichtlich, dass sie schon bald mit einer Beförderung rechnen können würde, wenn sie sich weiter so positiv entwickelte. Tania spürte geradezu, wie ihre Verwandlung in einen geschliffenen Diamanten sich peu-à-peu vollzog.

Als Marc ein Jahr später entlassen wurde, weil er, so wurde zumindest gemunkelt, auf einer Feier im Büro eine junge Kollegin belästigt und wiederholt seine Hände nicht bei sich behalten hatte, bekam Tania eine neue Chefin. Claudia trug ihre Blusen weder zu eng noch allzu weit geöffnet – und das war auch besser so, denn das, was bei Tania sexy aussah, hätte bei Claudia eher abstoßend gewirkt. Sie war Mitte vierzig und hatte spätestens nach ihrer zweiten Schwangerschaft aufgehört, sich gegen das Werk, das zu reichliches Essen, zu wenig Bewegung und die unaufhaltsam voranschreitende Zeit an ihrem Körper vollbrachten, zu sträuben.

Jedenfalls empfahl sie Tania, es ihr gleichzutun. Tania widersprach nicht, denn sie erkannte, dass nicht etwa Marc oder Claudia recht und der (oder die) andere unrecht hatte. Es kam auf die Geschichte an, die man erzählte, und wie und mit wem man sie gemeinsam erzählte. Eine wertvolle Lektion. Also passte Tania sich Claudia an, zumal Claudia Partnerin in der Werbeagentur war, ein Schwergewicht auch im übertragenen Sinne. Tania war dankbar, von dieser erfahrenen Frau lernen zu dürfen. Claudia war nicht so charismatisch wie Marc, ihre ganze Art war anders, wobei ihr Kleidungsstil nur einer von vielen Aspekten war, in denen sie sich von Marc unterschied – doch auch sie erzählte und verkaufte schöne Geschichten. Sie erklärte Tania, dass es sehr wichtig sei, das passende Narrativ für einen Kunden zu identifizieren. Und dann galt es, eine passende Geschichte darum zu spinnen. Claudia lobte Tania für ihre Kommunikation, half ihr, diese weiter zu verbessern, und trichterte Tania immer wieder ein, dass sie sich niemals einem Mann unterordnen sollte, nur weil sie eine Frau war. Wenn man über Tanias enormes Potenzial verfüge, dann könne man es – das sah man ja an Claudias Beispiel – auch als Frau weit bringen. Auch das war eine schöne Geschichte.

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