Читать книгу Die gefährliche Macht schöner Geschichten - Kolja Menning - Страница 6

Оглавление

Einleitung zum ersten Teil

»Wenn Sie ehrlich sind, werden Sie sich eingestehen müssen, dass Ihr Leben nichts Besonderes ist. Sie sind nichts Besonderes. Sie haben ein festes Einkommen, das ist gut, Sie sind in einer stabilen Beziehung, schön für Sie, doch beides trifft auf die meisten Erwachsenen Ihres Alters in diesem Land zu. Auch Ihre Probleme haben nichts Außergewöhnliches. Wenn man ein gewisses Alter erreicht, ist es ganz normal, dass man hin und wieder zweifelt. Das ist nichts, worüber Sie sich allzu große Sorgen machen sollten. Sie führen ein ganz normales Leben.«

Tania trat ans Fenster und blickte hinaus in den Dunst der Großstadt. Die Worte ihrer Therapeutin, die sie am Nachmittag aufgesucht hatte, beruhigten sie.

In den letzten ein, zwei Jahren hatte Tania immer häufiger an sich gezweifelt. Es war, als hätte sie überhaupt erst gelernt, an sich zu zweifeln. Fast konnte man meinen, dass sie vorher irgendwie noch ein Kind gewesen war, sorglos, unbeschwert – und mit einem Mal war sie wirklich erwachsen geworden, hatte ihre Unbekümmertheit abgeworfen und erkennen müssen, dass sie mit ein paar ganz grundlegenden Dingen nicht klarkam.

Es hatte sie einige Zeit und viel Überwindung gekostet, einen Arzt aufzusuchen. Der Erste hatte ihr nicht helfen können. Der Zweite auch nicht. Doch der hatte ihr immerhin die erfahrene Psychologin Dr. Carla Alt empfohlen. Und die hatte sich als ausgezeichnet erwiesen. Tania hatte gespürt, dass diese Frau sie verstand. Schon nach nur vier Sitzungen hatte Tania der Therapeutin ihr vollstes Vertrauen geschenkt. Und aus dem Mund dieser erfahrenen, kompetenten Frau zu hören, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, weil sie ein ganz normales Leben führte, hatte etwas ungemein Tröstliches.

Sorgen machte sich Frau Dr. Alt allerdings schon – jedoch nicht um Tania, sondern um sich selbst, denn Tania war jung und gesund, während sie Tanias Mutter hätte sein können, an Diabetes Typ 2 litt, Bluthochdruck hatte und »leicht übergewichtig« war, wie sie Tania erklärt hatte – wobei Letzteres eine überflüssige Bemerkung war, denn mit »leicht« hatte ihr Übergewicht nicht viel zu tun; selbst ein Blinder hätte das nicht übersehen. Kurz, die gute Frau befand sich im Herzen der Risikogruppe für das neue mysteriöse Coronavirus, das in den letzten Monaten immer häufiger in den Medien aufgetaucht war und in den letzten Tagen dafür gesorgt hatte, dass man auch in Deutschland beschlossen hatte, sogar Schulen und Kitas zu schließen.

Es war der 18. März 2020. Niemand in der breiten Bevölkerung ahnte zu diesem Zeitpunkt, welches Ausmaß die Pandemie gar nicht so viel später erreichen würde. Tania war da keine Ausnahme. Seit zwei Tagen befand sie sich im Home-Office, sie hatte verstanden, dass es Menschen wie Frau Dr. Alt zu schützen galt, doch für sie würde das Virus kaum etwas ändern. Dachte Tania.

Sie täuschte sich. Das Virus sollte ihr Leben schon bald unwiderruflich verändern.

Da Tania davon zu diesem Zeitpunkt nichts ahnte, hoffte sie einfach, spätestens in vier, fünf Wochen ihre nächste Sitzung mit Frau Dr. Alt haben zu können. Die Sitzungen würden ihr fehlen, das stand außer Frage, denn sie taten ihr gut. Tanias Durchhaltevermögen würde getestet werden, es würde sogar eine ziemlich harte Probe sein, zumal diese unbestimmte Phase der Abstinenz eine Herausforderung ungewohnter Form darstellte – doch das war nicht zu ändern. Sie würde sich an die beruhigenden Worte der Psychologin erinnern: Sie brauchte sich keinerlei Sorgen zu machen, sie war eine ganz normale Frau. Eine ganz normale Frau Mitte dreißig.

Dabei war Tania früher, das heißt eigentlich bis vor gar nicht so langer Zeit, fest davon überzeugt gewesen, etwas ganz Besonderes zu sein. Nach dem Studium war sie mit grenzenlosen Ambitionen ins Leben getreten und hatte vor Energie gestrotzt, vor Ideen gesprüht! Sie hatte sich als Rohdiamanten gesehen, der nur ein wenig geschliffen werden musste. Es hatte nur wie eine Frage der Zeit geschienen, bis sie sich der Welt in all ihrem funkelnden Glanz zeigen und die Welt ihr zu Füßen liegen würde.

Nun, es war anders gekommen. Gewiss, sie hatte den ein oder anderen kleineren oder auch größeren Erfolg vorzuweisen. Doch wenn Tania ehrlich war, musste sie Frau Dr. Alt recht geben. Sie war kein Rohdiamant und schon gar kein geschliffener Diamant. Sie war ein ganz gewöhnlicher Kieselstein.

Die gefährliche Macht schöner Geschichten

Подняться наверх