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Am Morgen fand Aurelius sie zusammengesunken am Küchentisch. Den Kopf hatte sie in den Armen vergraben, die Garderobe war in Unordnung. Der Saum der Bluse hing schräg über dem kurzen Rock. Bei näherer Betrachtung war die Bluse falsch geknöpft. Vor ihr stand ein Glas Rotwein. Die Flasche, die er selbst am Abend geöffnet hatte, war bis auf einen kümmerlichen Rest leer. Aurelius stellte sich vor, wie er Ameliens Tabletten in dem Glas auflöste - all ihre Tabletten. Wäre das nicht eine wunderbare Gnade? Würde er nicht selbst gern davon trinken? Von all dem Frieden der pharmazeutischen Industrie?

Er trug Amelia ins Schlafzimmer und entkleidete sie fürsorglich. Einmal schlug sie die Augen auf und sah ihn für eine Weile an. Ein mildes Lächeln dämmerte auf ihren Zügen. Dann rollte sie sich säuglingsgleich in die Laken und schlief erneut ein.

Aurelius machte Tee. Hypnotisiert vom Aroma wäre ihm beinah entgangen, dass die Haushälterin die Küche betrat. Die ehemalige Klinikschwester hatte tagsüber ein Auge auf seine Frau. Nachdem Aurelius sie über Ameliens Zustand aufgeklärt hatte, packte er seine Tasche und ging für ein Stück berufliche Abwechslung.

Aber der Vormittag war dröge, die Klinikarbeit zäh. Er konnte sich nicht konzentrieren: weder auf die wissbegierigen Besprechungen, die neunmalschlauen Studien und Berichte, die seinen Schreibtisch erdrückten, noch über das geölt organisatorische Klimmbimm, mit dem er die Maschinerie hätte am Laufen halten sollen.

Die Rädchen stockten etwas.

Sand im Getriebe.

So vergrub er sich in der Ausarbeitung seines Beitrags zur kommenden Gesundheitskonferenz. »Das Moderne Gesundheitsmanagement« lautete der Vortrag. Doch Aurelius fehlte jedwede Fantasie. Die Worte torkelten nur so über den Bildschirm, er konnte ihnen keine Richtung geben.

Mittags in der Kantine schnappte er Geplapper zum gestrigen Empfang auf, was seine Stimmung trübte. Weder wollte er an die Szene, die Amelia ihm gemacht hatte, erinnert werden, noch wollte er die Geschehnisse danach beleuchten. Noch immer quälte ihn die bange Frage, mit der er gestern zu Bett gegangen war.

Wohin führte das alles?

Als er am Nachmittag mit der Assistenzärztin schlief, hatte er Tränen in den Augen. Das Märchenland bot keinen Ausweg. So sehr Amelia ihn quälen mochte, tausend Mal mehr quälte ihn die eigene Ohnmacht.

Er beschloss, pünktlich zu gehen, um etwas Zeit für seine Frau mitzubringen. Auf dem Weg nach Hause kam ihm jedoch eine Straßensperre in die Quere. Wie so oft bemühte sich die Stadtpolizei um Ordnung. Längst hatte sich ihre Fürsorge in Vormundschaft verwandelt.

Ungeduldig wanderte Aurelius' Blick die Schlucht der grauen Häuser hinauf. Zwischen den steinernen Kolossen sah er die Sonne blitzen. Ein kurzer Moment Wärme an einem ohnehin warmen Tag. Wie mussten sie am Kontrollpunkt doch schwitzen, die grau uniformierten Stadtpolizisten, die derweil einen Fahrer nach dem anderen aus den Wagen zerrten, ihn auf den Kopf stellten, von innen nach außen kehrten oder den Mittelstreifen entlangtanzen ließen, bis seine Linientreue erwiesen war. Ihn, Aurelius Fulva, den Sonderbeauftragten des Gesundheitsdezernats, ließen sie indes pflichtschuldig passieren. Es war Furcht, die er an ihnen roch, als er mit geöffnetem Fenster vorbeifuhr. Und am liebsten hätte er ihnen diese Furcht aus dem Leib geprügelt - nur für ein kleines bisschen Respekt.

Während er sich die Sternstraße hinaus nach Lindhagen schob, dünnte sich der Verkehr aus, bis lediglich die mächtigen, noblen Karossen mit großem Abstand die Allee nach Breitfurt hinauffuhren. Dort, hoch über dem gewöhnlichen Teil der Stadt, so hieß es, seien die Sorgen so selten, die Luft so klar und das Gras so grün. Doch Aurelius wusste es besser. Der verklärte, einfältige Glaube der Massen machte ihn wütend.

Zu Hause angekommen versperrte eine schwarze Limousine die Auffahrt. Kutschen dieser Art brachten ihre Fahrgäste für gewöhnlich an dunkle, feuchte Orte unter der Erde. Ein böses Omen in Blech.

Hastig eilte er ins Wohnzimmer, wo Amelia mit zwei Lakaien der Dezernats für Wohl und Sicherheit plauderte. Eine charmante Gastgeberin konnte sie ja abgeben, selbst für Gesindel wie dieses. Als Amelia ihn sah, strahlte sie, erhob sich und drückte sich an seine Brust. Aurelius aber hatte ein ganz anderes Bild vor Augen: Er sah die zwei Lakaien die Haustür eintreten, eine kreischende Frau ins Freie zerren und sie in eine schwarze Limousine verfrachten - genau wie jene in der Auffahrt.

Für Menschen, die nicht ausreichend konform erschienen, die aus dem Strom der Masse abgeschöpft werden mussten, hatte die DeSi den »Untersuchungsbereich A« eingerichtet. Dort fristeten die Delinquenten ein jammervolles Dasein oder wurden vollends ausgelöscht. So sagte man jedenfalls, denn der Bereich A war ebenso geheim wie seine Methoden.

Und hier nun zwei Ausgeburten dieser Hölle: adrett, moralisch biegsam bis zur Unkenntlichkeit, dabei jedoch rücksichtslos loyal. So beiläufig wie sie einem die Hand reichten, so beiläufig konnten sie einem auch das Genick brechen.

»Was verschafft mir die Freude Ihres Besuchs?«

»Es ist eine Situation eingetreten, zu deren Bereinigung wir Ihre Unterstützung benötigen.«

Aurelius sank in einen der umstehenden Sessel, und streifte - ganz entgegen der Etikette - die Schuhe ab. Sie hatten ihn schon den ganzen Tag lang gedrückt. Und den davor. Und davor.

»Inoffiziell natürlich«, sagte Aurelius, während er nach dem Glas Whiskey griff, das Amelia für ihn stehen gelassen hatte. Treue Seele mit treuen Ritualen.

»Inoffiziell«, bestätigte einer der Männer.

»Und wer verlangt nach meinen Diensten?«

»Doktor Schindler.«

Aurelius hatte schon gelegentlich dem ein oder anderen aus diesem oder jenem Dezernat einen Gefallen erwiesen. Dr. Hans Schindler, den seine Untergebenen furchtsam verhohlen den »Schindler-Hannes« nannten - und das nicht wegen kumpelhafter Allüren, sondern weil er, anders als sein historisches Vorbild, ein skrupelloser Dieb und Menschenschinder sondergleichen war -, dieser Hans Schindler war kein geringerer als der Dezernent für Wohl und Sicherheit höchstselbst. Aurelius nahm einen kräftigen Schluck Whiskey, um zu verbergen, dass sich ihm die Kehle zuschnürte.

»Worum geht es?«

Der stumme der beiden Männer zog einen braunen Umschlag hervor und schob ihn über den Tisch, gerade so weit, das er in Reichweite lag. Als Aurelius sich vorbeugte und nach dem Umschlag griff, erschien ihm dies beinahe wie eine Geste der Unterwürfigkeit.

»Diese Frau ist ein besonderes Problem, das isoliert werden muss.« Über den Rand des Umschlags hinweg blickte ihn ein blondes Mädchen kaukasischer Herkunft so unschuldig an, dass Aurelius zunächst an eine Verwechslung glaubte. Auf der Rückseite des Fotos war in sauberster Sekretärinnenhandschrift ein Name notiert – Marischka Meierhagen – und die zehnstellige Gesundheitsnummer. Darunter noch zwei Chiffren des Fulva'schen Krankheitenattributekatalogs, ein Almanach der auf seinen Großvater zurückging. Die eine Ziffer kannte er nur zu gut: 700 - geistige Unzurechnungsfähigkeit. Die andere, 118, stammte aus der Kategorie der ansteckenden Krankheiten. Er konnte nicht genau sagen, aus welcher, aber der Zweck der Ziffern lag klar auf der Hand: diskreditieren und isolieren.

»Können wir auf Sie zählen, Doktor Fulva?«

Es war keine respektvolle Bitte, lediglich eine rhetorische Frage. Was nützte es, dass er sein Unbehagen zu verbergen suchte, dass er entschlossen nickte, während er kein Wort herausbrachte. Als seine Frau hereinkam, sprachen die Blicke der beiden DeSi-Lakaien Bände. Wollte Amelia nicht den Bereich A kennenlernen, blieb Aurelius keine andere Wahl, als Hans Schindlers Suche nach Marischka Meierhagen zu unterstützen.

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