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ОглавлениеNachdem die Lakaien der DeSi verschwunden waren, hielt Aurelius Amelia lange im Arm. Dieser Abend war einer ihrer guten Abende. Er klammerte sie fest an sich, wünschte sich, sie nie wieder loslassen zu müssen.
Der nächste Tag fand ihn unaufgeräumt. Die Suchmeldung nach dem infizierten Mädchen schürte sein Unbehagen. Er sorgte sich um sich selbst und Amelia, was ihn wie ein gehetztes Tier durch den Vormittag flüchten ließ. Zudem jährte sich bald der Todestag seines Vaters. Nicht, dass er den alten Herrn sonderlich geliebt hätte, doch genügte die Erinnerung, das Gemüt zu dämpfen. Zwischen Sitzungen, in denen er sich auf nichts konzentrieren konnte, verkroch er sich in seinem Büro. Er vergoss Kaffee auf dem polierten Eichentisch, verlegte Schlüssel und Unterlagen, verlegte auch Termine. Aurelius war kein Spieler, und das Spiel, in das man ihn verstrickt hatte, war zu undurchsichtig, als dass er dabei gelassen bleiben konnte.
Mit dem ersten Glied ist die Kette geschmiedet. Was wird das nächste sein?
Noch einmal rief er sich die Beschreibung in Erinnerung: Marischka Meierhagen, Alter 16, der städtischen Fürsorge entwichen. Das Bild eines gewöhnlichen Teenagers, der so oder ähnlich sich die Nase an Schaufenstern platt drückt, mit dem Hund durch die Straße tollt oder den Rasen der Nachbarn zurechtstutzt für ein kleines Taschengeld. Dieser Person – hochgradig verwirrt und hochgradig infektiös – sei mit aller Vorsicht zu begegnen. Das glatte, blonde Haar mochte mittlerweile gefärbt, gewellt oder gekürzt sein. Von ihrer zierlichen Statur, ihrer unschuldigen Jugend und den tiefen, blauen Augen aber durfte man sich nicht täuschen, nicht erweichen lassen. Sie war trotz ihrer Erscheinung ... Sie war trotz allem ... Trotz alledem war sie ...
Was war sie?
Das war die Frage, hinter die er nicht zu blicken vermochte. Ein Bild in einem Umschlag, das war sie. Mehr nicht. Nur ein flüchtig dahingekritzelter Name, eine Gesundheitsnummer, zwei Chiffren. Umgehend dem Dezernat für Wohl und Sicherheit zu überstellen, hatte er noch vermerkt, bevor der Suchbefehl seinen Weg in die Dienststellen und zum Mediendezernat antrat.
»Das Moderne Gesundheitsmanagement« flimmerte noch immer auf dem Bildschirm vor ihm. Wie mühsam sich die Worte in die Tasten quälten. Vielleicht wäre auch hier eine Fahndung angebracht? »Pointe im Absatz. Praktische Beispiele gesucht! Möglichst simplifizierend und geringfügig sinnentstellend. Die Wortansammlung ist umgehend dem Gesundheitsdezernat zu überstellen.«
Um den Kopf freizubekommen, machte er einen Spaziergang im Park. Das Gehen half etwas. Er ging die große Schleife, grüßte Patienten, dachte an Amelia, der er hier begegnet war, lief an Passanten vorbei, über Ampeln und stellte schließlich überrascht fest, dass er die Klinik fast drei Blöcke hinter sich gelassen hatte. Seine Schritte hatten ihn auf den Gedächtnisfriedhof geführt.
Was nun?
Schon mal ein Plätzchen suchen?
Wohl kaum.
Etwas anderes trieb ihn voran, und er kannte die Reihe, die Zeile, die Parzelle, zu der es ihn zog. Die Grausamkeiten seines Vaters drangen an sein Ohr, die Beschimpfungen, die er ausgestoßen hatte, nachdem die Mutter sie verlassen hatte. »Deine Schuld! Alles deine Schuld!« Doch wie konnte das sein? Wie konnte ein fünfjähriger Junge schuld daran sein?
Das Grab präsentierte sich in untadeligem Zustand - dank des Gärtners, den er beauftragt hatte und der sich einmal monatlich darum kümmerte. Da stand er nun. Näher war er seinem Vater nie gekommen.
War es auch seine Schuld gewesen, dass der Vater, der einst so talentierte Chirurg, dem Alkohol verfiel, seine Schuld, dass er sich immer wieder Prügel einfing? Vielleicht war es sogar seine Schuld gewesen, als der Vater sturzbetrunken auf dem nächtlichen Weg von der Kneipe nach Hause von einem LKW erfasst wurde. Da war Aurelius sieben gewesen.
In diesem Schuldbewusstsein aufzuwachsen, machte seine Kindheit nicht einfacher. Im Jugendheim pissten sie auf Aurelius' Kleider, schmierten Grütze in seine Bücher, tauchten seinen Kopf in Buttermilch. Er weinte sich in den Schlaf, quetschte sein Kissen, presste es an sich und wünschte sich, das Kissen sei ein Mensch, das ihn trösten und die Grausamkeit vergessen ließ. Doch das Kissen war nur Schaumstoff. Der Schaumstoff, aus dem seine Träume waren.
Und nun war er Sonderbeauftragter des Gesundheitsdezernats. Doch noch immer pissten sie auf seine Kleider und tauchten seinen Kopf in Buttermilch. Selbst die niedersten Lakaien des Schindler-Hannes nahmen sich diese Freiheiten. Gerne wäre er in dem Grab vor ihm versunken. Lautlos. Wäre da nicht Amelia gewesen.
Andere in seiner Position hätten sich vermutlich scheiden lassen, hätten die kleine Assistenzärztin geehelicht oder sich in die nächste Affäre gestürzt. Nur verstanden sie nicht, wie allein und verloren er gewesen war - bis zu jenem Tag, an dem Amelia in sein Leben trat.
Sie war ebenso verloren an ihre Dämonen. Instinktiv hatte Aurelius gespürt, dass sie einander Halt geben konnten. Trotz aller Widrigkeiten wollte er sie nicht so leicht aufgeben - schon gar nicht an die hässlichen Monster, die ihren Geist verdüsterten. Es gab nur sie und er hatte sich schon zu lange an sie geklammert, um einfach loslassen zu können. Es gab nur Amelia und das alte Kissen im Jugendheim.