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»Woher kommt nur das ganze Blut?«

Darüber wollte sie nicht sprechen. Auch ansonsten war sie wenig gesprächig. Eben hatte sie sich aus dem Bett gewühlt und eines seiner T-Shirts – eines mit tiefblauer Farbe, das perfekt mit dem Blond ihrer Haare harmonierte - übergestreift. Nun hockte sie auf dem Sofa, auf dem Konstantin die Nacht verbracht hatte, und verschlang eine Schüssel Haferflocken: Smafu war alles, was er ihr anbieten konnte. Konstantin erinnerte sich noch sehr gut daran, wie aus den Smart Food Silberpäckchen der Streitkräfte der rationierte Einheitsbrei der Stadt geworden war. Smafu, die »Mahlzeit der Sieger«. Ausgekippt über die Massen.

Mehr noch als für das karge Mahl schämte er sich für sein Zimmer. Schmutzig und unaufgeräumt war es. Wie jedes andere Mädchen würde auch die Fremde es irgendwann vor Ekel meiden und davonlaufen. Nur war sie kein gewöhnliches Mädchen. Sie ähnelte vielmehr einem zugelaufenen Hund.

Ein geprügelter Hund, dachte er voller Argwohn. Kinder hätten sicher gebettelt, ihn behalten zu dürfen. Doch er hatte ja keine Kinder. Mit wem auch?

Zumindest ließ sich die Kleine einen Namen entlocken: Mara. Und Mara wirkte fahrig. Während sie auf dem Sofa herumwippte, die Schale an den Lippen und gierig die Haferflocken löffelte, irrte ihr Blick durch das Zimmer, hüpfte von einem Gegenstand zum nächsten.

Das Nachtlicht neben der Tür.

Hüpf.

Der alte Röhrenfernseher, der brummte, selbst wenn er aus war.

Hüpf.

Die vergilbten Vorhänge mit der Gardinenstange, an der der Lack abblätterte.

Hüpf.

Der mit allerlei Gerümpel und leeren Bierflaschen übersäte Wohnzimmertisch.

Hüpf.

Das kleine Replikat von Edgar Degas Ballerina.

Hüpf, hüpf, hüpf.

Und er selbst.

Hüpf.

Sie hatte ihn im Visier.

Was sollte werden? Die Kleine konnte nicht bleiben. Sie gefährdete seine Heimlichkeit. Und ihre Nervosität steckte ihn an. Jeden Moment erwartete Konstantin, dass etwas die Tür zersprengte, dass Rauchgas sie niederrang und ihnen das Bewusstsein raubte. Dass der Apparat sie verschleppte, wie er schon zahllose andere verschleppt hatte. Kluge Menschen zumeist, allerdings mit einem ungesunden Hang zur Mitteilsamkeit. Mittlerweile verhielten sich diese Menschen still. Konstantin dachte an seine alte Clique, die kleinen Revoluzzer mit den großen Klappen.

Schon zu Beginn der Umwälzung, als man noch für etwas kämpfen konnte - oder gegen etwas -, damals, als es noch keine Stadt gab - nicht wie heute -, da machten bereits Gerüchte von den perfiden Methoden der Resozialisierung subversiver Störenfriede die Runde.

Von der einen insbesonders: der mentalen Säuberung. Die Therapie, damals wie heute ebenso geheim wie wirkungsvoll, wandelte angeblich auch die militantesten Abweichler in fromme Lämmer um ... oder in sabbernde Wracks. Konstantin wusste nur so viel, dass sie elektrisch, chemisch und psychologisch bearbeitet wurden. Aber er konnte nicht sagen, ob es Wahrheit oder Mythos war. Sicher war nur, dass einige seiner Freunde aus Studienzeiten nicht mehr dieselben waren, nachdem sie den Untersuchungsbereich A der DeSi kennen gelernt hatten. Womöglich war auch die kleine Mara in solch einer Behandlung gewesen. Oder eine solche Behandlung stand ihr kurz bevor ... Was gewiss Ärger nach sich zog. Großen Ärger. Mara aber schwieg zu all seinen Fragen.

Woher kommt sie nur? Und woher stammt das ganze Blut?

Konstantin stopfte die blutigen Sachen in den Müll und hoffte, dass diese im Schlund der ausgedienten Dinge dieser Welt verschwinden würden - und die Probleme, die an ihnen klebten, gleich mit.

Rot wie Blut. So viel Blut.

Während all der Zeit ließ Mara das kleine Spielzeug, das sie mitgebracht hatte, nicht aus den Fingern: eine golden schimmernde Kugel, groß wie eine Kinderfaust. Vielleicht war Mara ja eine Ausreißerin, die gegen ihre Eltern rebellierte, vielleicht aber auch nur eine obdachlose Streunerin, die sich durch die dunklen Viertel der Stadt schlug. Oder war sie eine Verwirrte aus der Psychiatrie, eine Diebin, eine Mörderin? Nein, wahrscheinlich bloß ein verängstigtes Kind, das das Schicksal an seine Tür gespült hatte.

Aber warum gerade an meine Tür?

Gab es einen Gott, der ihn prüfen wollte, indem er ihm eine hilflose Seele auf die Schwelle legte?

Derweil rollte die Kleine die goldene Kugel über die Tischplatte - hin und her, her und hin. Es klang blechern und die Kugel fabrizierte ein leise knatterndes Geräusch.

Im Kühlschrank stand nur noch eine einzige Bierflasche. Eine wahre Tragödie, die nach Nachschub schrie. Konstantin trank das Bier und warf erst einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, dann auf seinen Gast.

»Kennst du die Geschichte vom Froschkönig?«

»Kann sein«, murmelte Mara, ohne den Kopf zu heben. Die Kugel rollte sie weiter unter der flachen Hand.

»Darin gibt es eine Prinzessin, die auch so einen goldenen Ball hat.« Zehn Minuten vielleicht, dann rief die Arbeit, dachte er. Neun oder zehn. Vielleicht auch nur neun. »Die goldene Kugel jedenfalls, die fiel ihr in den Brunnen und der Froschkönig holte sie heraus. Die Prinzessin musste ihm einen Kuss geben. Weil er sie gerettet hatte.« Jetzt sicherlich nur noch neun Minuten. »Gibst du mir auch einen Kuss, Kleine?« Das Rollen verstummte, das Mädchen starrte ihn baff an. Dann löste sich ihre Starre.

»Na vielleicht«, grinste sie. »Wasch dich. Rasier dich«, fügte sie schnippisch an.

Sie konnte sprechen, tatsächlich.

Während er aus der Küche das Klappern von Tellern hörte, wusch er sich die ramponierte Nacht aus dem Gesicht. Der Spiegel zeigte jemanden, mit dem er gar nichts anfangen konnte: einen Frosch, keinen Prinzen. Einen Frosch, der sich unter einem dunklen Stein verkrochen hatte.

Aber was ist schon eine Geschichte, verglichen mit dem wahren Leben? Wann hat eine Geschichte jemals weitergeholfen?

Geschichten werden überschätzt. Und Luftschlösser werden zerrissen von den wirklichen Monstern. Siebenköpfige Drachen sind ein Witz gegen das, was die DeSi einem antun kann.

Nur am Ende wünschst du dich dann vielleicht in solch ein Märchenland hinein: eines mit einer Prinzessin und einem Froschkönig und einem goldenen Ball. Aber dann am Ende ist nichts mehr von dir übrig, das in dieses Märchenland fliehen könnte.

Gar nichts mehr.

Er schlug mit der Faust gegen den Spiegel.

Verdammte reflektierte Ehrlichkeit.

Damals da war er bereit gewesen zu handeln - für die kleine Revoluzzerclique, für Donna. Doch dann war er dem Dezernat näher gekommen als ihm lieb war und hatte den eisigen Atem der monströsen Dinge gespürt, die dort unten lauerten - dort im Bereich A.

Es gab eine Zeit, da sind Zustände in Frage gestellt worden. Zustände, zu denen er sich heute kein Urteil mehr erlaubte. Im Gegenteil - er war froh, dass er überhaupt noch eine Meinung besaß zu diesem oder jenem, und nicht durch die mentale Säuberung jeglicher Dialektik beraubt war. Es war kein Heldentod, der ihn ereilt hatte, nein, es war aber auch kein Heldenleben, das er führte. Es war die Arbeit in der Fleischfabrik. Die letzte Möglichkeit, dem Apparat durch die gierigen Finger zu schlüpfen.

Es gab andere Zeiten, als noch nicht alles unter Kontrolle gewesen war, als die Menschen noch frei atmen konnten. In gewisser Weise erinnerte Mara ihn an diese alten Tage, in denen die kleine Revoluzzerclique noch ihre Revoluzzerideen verbreitete. Die Kleine, die so unversehens in seine geheime Festung gestolpert war, hatte diese Büchse geöffnet. Konstantin erinnerte sich wieder an alle.

Der letzte Tag.

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