Читать книгу Choreographie - Handwerk und Vision - Konstantin Tsakalidis - Страница 50
ОглавлениеDiese 128 Richtungen auf einer technischen Ebene zu verstehen ist die eine Sache - eine andere, sich mit ihnen auszudrücken - und das im Sinne einer der Richtung anverwandten Subtextempfindung. Der Subtext ist in der Wortsprache der Text, der hinter einem einzigen Wort stehen kann. Nehmen Sie zum Beispiel das Wort „Komm"; das können Sie in endlosen Variationen, also mit unterschiedlichen Subtexten sprechen. Ein zärtliches „Komm" steht einem energischen gegenüber, aber es sind dieselben Buchstaben. Legen Sie dieses „Komm" nun in eine zu sich her winkende Geste, haben Sie die Möglichkeit, diese ebenfalls zärtlich oder energisch auszuführen. Das ist dann die Qualität, mit der Sie die Bewegung ausführen. Wenn Sie nun aber räumlich interpretieren wollen, dann strecken Sie die Hand vielleicht diagonal nach vorne in den Raum, um sie dann sinken zu lassen. Ein anderes „Komm" ist zum Beispiel das In-den-Raum-Legen des Oberkörpers, nach diagonal hinten, ein weiteres ist vielleicht das Auf-den-Boden-Senken des Kopfes usw.
Angenommen aber, Sie vertanzen in Ihren Stücken keine Sätze und auch keine theatralischen Handlungen, sondern setzen sich tänzerisch mit einem Thema auseinander, wird das Empfinden des Personal Space zu einer Annäherungsmethode. Virginia Wolf hat gesagt, dass alle ihre Bücher genial seien - an den von Worten nicht erreichbaren Ufern. Dort sind die Bücher schon fertig, und sie sind vollkommen. Das Schwierige ist, die Stoffe von dort abzuholen, ohne dass sie Schiffbruch erleiden. Wenn Sie mit dem Tanz Stoffe abholen wollen und nicht das geschriebene Wort illustrieren, dann brauchen Sie den Raum als Sprache, und zwar in einer Vielfältigkeit und Lebendigkeit, die Sie trainieren müssen.
Halten Sie sich vorwiegend in festgelegten Formen der Repertoirebewegung auf, ist die Ausdrucksmöglichkeit des Raumes an die Vielfalt der Richtungen des Repertoires gebunden und dadurch oft begrenzter. Es finden sich allerdings immer wieder Tänzer, die den Ausdruck der räumlichen Interpretation vermitteln können, gerade weil sie sich in den gewohnten Figuren bewegen. Aber die Regel ist das nicht. Die Regel ist, dass das Sensationsgefühl verebbt, die Bewegungen mechanisch präzise sind, und ihre räumlichen Bezüge nicht empfunden werden - und somit vom Zuschauer auch nicht nachempfunden werden können.
Die Grenzen des inneren und äußeren Raumes
Es gibt Tänzer, die vereinnahmen mit ihren Bewegungen den gesamten Bühnenraum, inklusive Zuschauerraum, während andere nicht über die Begrenzungslinien ihres Körpers hinausragen. Und das hat nichts mit der Technik zu tun, die mit den Muskeln und Knochen herstellbar ist. Es hängt damit zusammen, inwiefern jemand den inneren Raum vergrößern und die Zuschauer in diesen mit einbeziehen kann.
Bewusstes, differenziertes Arbeiten mit dem Ausweiten und Begrenzen des persönlichen Raumes schafft unterschiedliche Kreise der Aufmerksamkeit und der Verein-nahmung. Ein Tänzer, der seinen Aufmerksamkeitskreis über seinen persönlichen Raum hinausführen kann, findet mehr Beachtung als einer, dessen Intentionen nicht über die Kinesphäre hinausreichen.
Das Arbeiten mit Menschen, das In-sie-hinein-Versetzen, das ich als Choreograph brauche, erfordert dünnhäutige, membranische Grenzen um mich herum. Funktioniert die Verbindung zwischen innen und außen, werden Sie es daran merken, dass es mehr Stücke und Stoffe gibt, als Sie überhaupt choreographieren können, weil von außen ständig Impulse zu Ihnen durchdringen, und diese Sie an einem tiefen Punkt berühren.
Übungen zur Verbindung von innen und außen, die sich aus diesem Thema bis zur geleiteten Komposition entwickeln, finden Sie hierzu in Kapitel 11, Seite 348.
Musik und Bewegung
Metrum
Musik ist ein Mysterium. Wie jedes Mysterium ist sie mit den uns gegebenen Methoden nicht erklärbar. Sie bleibt ein Geheimnis. Um die mit dem Geheimnis einhergehende Verunsicherung in Begreifbarkeit zu verwandeln, sind wir dazu geneigt, die Musik auf das schnell Erfassbare zu reduzieren. In den vielen Fällen der choreographischen Aufschlüsselung der Musik wählen wir schon allein deshalb das Metrum. So ist es eine traurige Tatsache, dass sich die meisten Choreographien auf der Amateurebene zwischen den Zählzeiten „Eins" und „Acht" mit einem Akzent auf der „Fünf" die der Beginn des zweiten Taktes ist, bewegen. Ganz gleich, was in der Musik alles passiert, dieses Prinzip wird durch den Titel hindurch eisern durchgezogen. Und weil das so gut funktioniert, suchen viele schon gar nicht nach anderer Musik als solcher, die in der Unterteilung von eins bis acht zählbar ist.
Die im Tanz häufig benutzte Einteilung der Musik in acht Zählzeiten wird mit der Betonung auf der Eins und der Fünf phrasiert.
Wenn Sie es lieben, im Metrum zu bleiben oder das Im-Takt-Bleiben für Ihre Gruppe besser ist, sollten Sie sich trotzdem die Möglichkeit offen halten, innerhalb des Metrums die Bewegungsakzente auf andere Zählzeiten als auf die Eins und die Fünf zu legen.
Beispiele anderer Akzentsetzung
Diese Verschiebung der tänzerischen Eins erzeugt eine dynamische Beziehung zwischen dem Tanz und der Musik. Diese Beziehung wird der Zuschauer nicht nur in Bezug mit dem Metrum erleben, sondern auch mit allen anderen in der Musik stattfindenden Bewegungen, wie der des Gesangs, der einzelnen Instrumente usw. Dadurch wird der Tanz zu einem Dialog mit der Musik. Zwischen dem Metrum und den einzelnen Elementen der Musik gibt es Verhältnismäßigkeiten, die vom Zuhörer empfunden werden.
Beispiel, wie verschiedene choreographische Elemente ins Verhältnis mit dem Metrum und zu anderen musikalischen Bausteinen gesetzt werden können
Arbeiten wir an fertigen Musikstücken, stehen wir ständig vor der Frage der Verhältnisse zwischen Tanz und Musik. Es ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, wie Sie den Tanz zum Beat oder zu anderen Elementen, wie Gesang und Instrumenten, ins Verhältnis setzen können. Weist die Musik viele Impulse auf, bietet es sich an, im Tanz ebenfalls mit Impulsen zu arbeiten. Die Eins-zu-eins-Umsetzung heißt: musikalischer Impuls ist synchron zum tänzerischen Impuls. Die Impulse lassen sich aber auch zeitlich versetzen. Dies hat die Wirkung, dass der Tanz den Musikimpuls scheinbar vorwegnimmt oder der Tanz der Musik hinterherhängt oder ein Echo ist. Oppositionell zur Musik bewegen Sie sich, wenn während des musikalischen Impulses die Bewegungen innehalten und dort weiterführen, wo die Musik eine Pause macht.