Читать книгу Willenbrecher - K.P. Hand - Страница 6
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Оглавление»Man sehe und staune!«, rief sein Bruder die große Freitreppe hinunter, grinsend und mit ausgebreiteten Armen nahm er die Treppenstufen nach unten. Wie immer trug er elegante Kleidung, bestehend aus schwarzer Anzughose, schwarzem Sakko und weißem Hemd.»Wer kommt den da zurück? Geliebter Bruder, ich dachte schon, du wärest verschollen!«
Alessandro verdrehte innerlich die Augen. »Leider nein. Ich war gezwungen, zu dir zurückzukehren, Bruder.«
Viel Zeit war vergangen, aber sein großer Bruder hatte sich kein bisschen verändert. Seine südländische Haut war noch makellos glatt, trotz das er bereits fünfundvierzig Jahre auf dem Buckel hatte. Er war noch ebenso groß und muskulös gebaut, sein dunkles Haar war noch voll und wies noch keine einzige graue Strähne auf. Und seine blauen Augen hatten noch immer diese durchdringende Schärfe, die andere Männer sofort einschüchterte.
Amüsiert schnaubend blieb Enio vor Alessandro stehen. Er schnippte einen Bediensteten herbei und trug ihm auf: »Bring das Gepäck meines Bruders auf sein Zimmer. Und sorg dafür, dass seine Kleidung gewaschen und sein Bett frisch bezogen wird!«
»Natürlich, Sir«, erwiderte der Bursche und schnappte sich Alessandros schwarze Reisetasche, eher er sich verneigend verabschiedete.
Alessandro seufzte und sah seinem großen Bruder ins Gesicht: »Ich bin durchaus in der Lage, mich selbst um derlei Dinge zu kümmern, Enio.«
»Sicher, aber warum solltest du?« Enio lachte und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Na komm. Du bist rechtzeitig zum Essen eingetroffen.«
»Danke, aber eigentlich will ich nur duschen und schlafen.«
»Und das geht mit vollem Magen besser.«
Ergebend ließ Alessandro sich zum Speisesaal der prunkvollen Villa führen. Wenn sein großer Bruder etwas sagte, war das nie eine Bitte sondern stets ein Befehl. Ein »Nein« würde er niemals akzeptieren. Und auf einen Topsuchtsanfall hatte Alessandro nach der langen Reise keine Lust.
Er war um die halbe Welt geflogen. Hatte sich unzählige falsche Pässe besorgen müssen um überhaupt aus diesem Drecksloch ausreisen zu können, in dem er für einige Zeit untergetaucht war. Er hatte sich nicht einmal den Namen merken können, aber er glaubte, dass er auf einer Insel gewesen war. Alessandro würde es allerdings nicht beschwören. Seine Erinnerung an die Zeit dort war ... vernebelt. Zu viel Alkohol. Zu viel harter Sex. Er erinnerte sich an die Holzhütte, an den Strand und die urwaldähnliche Umgebung. Traumhaft, wenn man über die Armut in den Straßen der Dörfern hinwegsah.
Es hatte alles so schnell gehen müssen, als er auf der Flucht war, er hatte sich voll und ganz auf seinen Komplizen verlassen. Witzigerweise war es nun dieser, der in irgendeinem Land oder auf irgendeiner Insel, in irgendeinem namenlosen Knast verrottete.
Na ja, Alessandro sollte es egal sein, die Welt war ohne diesen irren Typ besser dran. Er dachte auch gar nicht daran, ihn rauszuholen. Erstens, überstieg das seine Möglichkeiten und zweitens, wäre es unklug, den Kerl aus dem Knast zu holen, den man absichtlich zurückgelassen hatte, um selbst fliehen zu können.
Jedenfalls war Alessandro froh, wieder unter seinem echten Namen in seinem eigenem Land zu sein. Nicht das Land seiner Herkunft, sondern einfach das Land, das seine Heimat war.
Seine Familie kam ursprünglich aus dem Süden, was man an den dunklen Haaren und dem guten Aussehen der Brüder erkennen konnte, aber seine Eltern, sowie er und sein Bruder, waren in Deutschland aufgewachsen. Und für Alessandro gab es kein anderes Land, das er seine Heimat nennen konnte. Das hier war sein Zuhause! Denn hier musste man nicht aufpassen, im Schlaf von lästigen Mücken halb aufgefressen zu werden.
Er liebte seine Heimatstadt, aber die Umstände, die ihn hergebracht hatten, hasste er.
»Wie war deine ... Reise?«, fragte Enio amüsiert. »Wo bist du überall gewesen?«
»In der Hölle«, brummte Alessandro trocken. »Und ... in der Hölle, der Hölle.«
Sein älterer Bruder lachte in sich hinein, während sie noch immer in Richtung Speisesaal gingen.
»Ich habe jetzt noch an unmöglichen Körperstellen Mückenstiche und ich fürchte, dass ich nie wieder festen Stuhlgang haben werde. – Wenn es nicht brennt, dann juckt es.««
Enio lachte noch vergnügter und klopfte ihm auf die Schulter. »Also alles wie gehabt, Bruder!«
»Alles wie gehabt«, schmunzelte Alessandro.
Sie bogen in den Speisesaal ein. Drei Männer saßen am großen Esszimmertisch. Einer im teuren Anzug, mit goldblondem Haar und eisblauen Augen. Die anderen beiden in lässige Jeans und schwarze Shirts gekleidet. Beide hatten dunkles Haar, aber einer groß und durchtrainiert mit graublauen Augen und Ziegenbärtchen und der andere klein und schmächtig wie ein junger Bursche mit dem unschuldigen Gesicht eines Engels.
»Seht mal, wer endlich heimgekommen ist«, verkündete Enio.
Alessandro nickte dem Mann mit dem Ziegenbärtchen zu. »Brian.«
Dieser war über eine Suppe gebeugt, die er gerade schlürfte, und nickte zurück.
»Florenz«, begrüßte Alessandro den kleinen Mann, der Brian gegenüber saß.
Dann ging er zielstrebig auf den Mann mit den goldblonden Haaren zu, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte und ihn brüderlich in die Arme schloss.
»Ich hatte schon befürchtet, dir wäre etwas zugestoßen, alter Freund«, flüsterte ihm Alarich zu.
»Nein. Alles gut gelaufen«, gab Alessandro leise zurück und löste sich aus der Umarmung.
»Wo ist dein Partner?«, fragte Brian interessiert.
Alessandro seufzte: »Weg.«
»Tod?«, fragte Enio.
»Leider nein.«
»Leider?«
Alessandro zuckte mit den Achseln. »Was soll ich sagen? Ein toter Mann wäre wenigstens nicht nachtragend, oder?«
»Nun, selbst wenn tote Männer nachtragend währen, würde das die lebenden Männer wenig interessieren«, gab Florenz lächelnd zu bedenken.
Alessandro grinste ihn an. Er mochte den kleinen Kerl.
»Was ist passiert?«, fragte Alarich.
»Das Übliche«, seufzte Alessandro. »Es wurde ... eng. Tja, und im Zweifelsfall rette ich lieber meinen eigenen Arsch. Er hat blöd geguckt, als er am Flughafen festgenommen wurde und ich weiter ziehen konnte.«
Alessandro hatte mit Absicht etwas im Koffer seines Komplizen deponiert, was gefunden wurde. Eine kleine, harmlose ... Pistole. Jedenfalls waren alle mit dem Mann beschäftigt, der eine Schusswaffe bei sich trug und keiner hatte Alessandros nicht sonderlich glaubwürdigen Reisepass genauer betrachtet. Man half seinem Glück eben auf die Sprünge ...
»Hauptsache, du bist zurück«, sagte Alarich und schlug ihm gegen die Schulter.
»Dann ist die Familie ja wieder beisammen«, sagte Enio begeistert.
Doch die Freude wurde zerschlagen, als Alessandro verkündete: »Ich bleibe nicht lange. Nur ein paar Wochen. Da ist ein Job in Aussicht. Wird gut bezahlt.«
Enio sah ihn verärgert an. »Warum arbeitest du nicht für mich?«
»Ich halte nichts von Vetternwirtschaft«, gab Alessandro zurück und ließ sich neben Brian nieder. »So, wo ist die verdammte Suppe? Ich will mal wieder etwas mit Geschmack essen.«
Enio sagte zwar nichts weiter, aber Alessandro wusste, dass dieses Gespräch noch lange nicht beendet war.
***
Norman saß auf dem Beifahrersitz eines dunkelblauen Vans und rieb sich nachdenklich über seine dunklen Bartstoppel.
Der Mann hinter dem Steuer war ein großer, muskulöser Kerl mit struppig rotem Haar und Vollbart. Sein Name lautete Julian. Aber Norman bezweifelte, das auch nur einer dieser Kerle, die er im Moment seine Komplizen nennen durfte, ihren richtigen Namen verwendete.
Aber das war es nicht, worüber er nachgrübelte.
Ohne jegliche Vorwarnung hatte dieser Van heute Morgen vor seiner Wohnung geparkt, als er von seiner Jogginrunde heimgekommen war. Julian hatte bereits in Normans Wohnzimmer gesessen. Nur Gott wusste, wie er herein gekommen war. Er musste irgendwoher einen Zweitschlüssel haben, denn Norman hatte keine Einbruchsspuren an seiner Tür gefunden. Einmal mehr war er froh, dass es sich bei seiner momentanen Wohnlage nur um eine Pseudowohnung handelte.
Man hatte ihm nicht einmal Zeit gelassen, zu duschen, aber immerhin hatte er den voll geschwitzten Trainingsanzug gegen eine abgetragene Jeans und ein einfaches Shirt austauschen können.
Alexander Neumann bevorzugte nämliche eher den ... Holzfällerlook. Ganz zu Normans Leidwesen, der es fast als Beleidigung empfand, sich diese Sachen anzuziehen.
Egal wie lange dieser Einsatz noch dauern mochte, er würde sich nie an diese Kleidung gewöhnen können. Aber auch das war es nicht, was ihn grübeln ließ. Es waren nur beiläufige Gedanken, die unwichtig waren. Solange es half, würde er anziehen, was immer verlangt wurde, damit dieser Einsatz ohne Probleme verlief.
Nein, er grübelte darüber nach, was so wichtig war, das er sich hatte so beeilen müssen.
Julian kannte er schon seit einigen Wochen, Alexander Neumann hatte sich ihn recht schnell als Freund gesichert, aber so sauer hatte er den Kerl noch nie erlebt.
Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Er fragte aber nicht, was los war. Kerle, wie er nun selbst einer war, fragten nie nach dem »Was« oder »Warum«. Sie taten, was man ihnen auftrug ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
Das fiel Norman an diesem Morgen schwer, denn versteckt unter seinem Sitz lagen mehrere Schusswaffen. Zwei Gewehre und drei Pistolen, die Julian ihm gezeigt hatte.
Wozu?, fragte sich Norman. Waffenhandel? Sollten sie die Waffen verkaufen? Oder waren sie dazu gedacht, ihre Kollegen auszurüsten?
Scheiße, fluchte Norman innerlich. Wenn das heute ernst - und jemand mit einer Waffe bedroht wurde, wusste er nicht, ob er wirklich tatenlos zusehen konnte. Bei Unschuldigen ganz sicher nicht. Er konnte doch nicht zulassen, dass jemand verletzt oder gar getötet wurde.
Aber sein Einsatzbefehl war eindeutig. Informationen über den Kopf der Bande und über den Aufenthaltsort sämtlicher Vermissten herausbekommen. Niemand sagte etwas davon, das er nicht eingreifen durfte, wenn jemand bedroht wurde, aber die oberste Regel lautete, sich nicht zu erkennen zu geben.
Einmal aufgeflogen, würde die Bande nie wieder jemand fremdes in die eigenen Reihen aufnehmen. Es gab also nur diesen Einsatz. Diese eine Chance, die Entführten zu finden und diese Organisation unschädlich zu machen.
Julian fuhr den Van auf ein Gelände eines großen Betonklotzes und trat vor dem Tor einer Garage auf die Bremse. Sie warteten, bis das Rolltor hochgefahren war, dann rollte der Van in die dunkle, weitläufige Tiefgarage des Gebäudes. Drei Autos standen dort. Gebrauchte mittelklasse Wagen, die schon bessere Zeiten gesehen hatten.
Julian fuhr einmal eine große Runde über die leeren Parkplätze und parkte den Van direkt vor dem Garagentor, das mittlerweile wieder herunter gefahren war. Dann stieg er aus und Norman tat es ihm ohne Aufforderung gleich.
Julian kam zu ihm herüber und holte den Koffer mit den Waffen hervor, dann schmiss er die Tür zu und ging Norman voran. Stumm und mit aufgesetzt mürrischer Miene folgte Norman dem Mann mit den breiten Schultern durch die dunkle Tiefgarage.
Sie durchquerten eine Stahltür, kamen in ein enges Treppenhaus und nahmen die Treppe weiter nach unten, bis sie in die letzte Etage der Tiefgarage kamen. Dort gab es keine Tore, keine Fenster, keine parkenden Autos und die Zufahrt von oben war versperrt. Es war dunkel und die Luft war von Benzingeruch verpestet, was bedeutete, dass die Lüftungsschächte auch nicht ihren Dienst taten. Norman vermutete, dass diese Etage deshalb nicht genutzt wurde.
Schon vom Weiten sah er, was hier vor sich ging.
Zwei Männer, die zweifellos zu der Bande gehörten, standen nahe bei einem Mann, der auf den Knien kauerte und dessen Hände auf dem Rücken zusammen gebunden waren.
Einer war groß und breit wie ein Kleiderschrank, der andere war eher schmal und drahtig. Beide hatten braunes Haar und das Gesicht eines typischen durchschnitts Deutschen.
Je näher Norman kam, je deutlicher konnte er das geschundene Gesicht des gefesselten Mannes erkennen. Die Augen waren zu geschwollen, die Lippen aufgeplatzt, die Nase gebrochen, untertellergroße Blutergüsse auf den Wangen ... Ein grässlicher Anblick.
Julian nickte den beiden andern Männern zu und stellte den Koffer auf einen provisorischen Tisch ab. Auf der Platte sah Norman unzählige Dinge, mit denen man Menschen foltern konnte. Zangen, Klammern, Scheren, Skalpelle, Benzinkanister ...
Das Blut unter den Knien des Gefesselten sprach Bände, denn es konnte unmöglich alles aus seinem Köper stammen. Der Kerl war also nicht der erste, der zu dieser frühen Stunde gefoltert worden war.
Norman versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Aber das war schwer.
»Pistole oder Gewehr?«
Norman sah Julian an, der die Frage gestellt hatte.
»Ähm ... Pistole«, entschied Norman.
Julian rüstete eine der drei schwarzen Pistolen mit einem Magazin aus, sicherte sie und reichte sie an Norman weiter.
Warum er sich für die kleinere Schusswaffe entschieden hatte, lag auf der Hand. Damit konnte er nämlich umgehen. Er hätte gerne gegrinst, weil man ihm - Beziehungsweise, Alexander - mittlerweile soviel Vertrauen entgegenbrachte, das man ihm sogar bereits eine Waffe aushändigte.
Norman steckte sich die Pistole hinten in den Hosenbund und zog sein vergilbtes Shirt über den herausragenden Griff.
Julian hatte mittlerweile die zwei Gewehre an die andern beiden Männer verteilt, die übrig gebliebene Pistolen steckte er sich selbst ein.
Er schloss den Koffer und verkündete grinsend: »Ein Geschenk von Franklin, weil wir uns dieser Sache annehmen.«
Franklin war der Kopf der Bande, wie Norman mittlerweile wusste. Nur hatte er diesen Kerl noch nie gesehen und er bezweifelte, dass dies sein Geburtsname war.
Die anderen beiden grinsten verschwörerisch zurück.
Der schlanke Mann berichtete: »Tie war die ganze Nacht hier und hat die Befragungen überwacht, er war mächtig angepisst und wollte um jeden Preis wissen, wer den Fehler gemacht hat.«
»Kannst du es ihm verübeln?«, lachte Julian. »Immerhin musste Tie die Sache vor Franklin ausbaden.«
Norman musste sich auf die Zunge beißen, um keine Fragen zu stellen.
Tie war einer von Franklins Verbündeten. Aber auch diesen hatte Norman noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.
»Wie dem auch sei. Sieht so aus, dass es dieser Kerl da war, der den Fehler gemacht hat«, erklärte der schlanke Mann und zuckte mit den Schultern.
Julian nickte, dann drehte er sich zu Norman um. »Na, Alex? Willst du?«
Ohne eine Miene zu verziehen, fragte Norman: »Was soll ich machen?«
Julian und die anderen beiden lachten vergnügt.
»Vergiss es, mein Freund! Ich habe lange genug gewartet, bis Franklin mir diese Ehre gewährte, da gebe ich doch nicht gleich den ersten Mann an dich ab«, sagte Julian und schüttelte amüsiert den Kopf.
Der Scherz ging auf Normans Kosten. Insgeheim war er natürlich froh, dass er nur Zuschauer sein durfte.
Julian trat vor den Mann, dessen Schultern zuckten, als weinte er jämmerlich, dann hob er einen Fuß und trat das Häufchen Elend um. Wie ein nasser Sack fiel der Mann nach hinten.
»Also ...«, begann Julian und stellte sich breitbeinig über den am Boden liegenden Körper. »Du hast mächtig Scheiße gebaut, hab ich gehört.«
»Bitte ...«, flehte der Mann und hustete Blut hervor. »Julian ...«
Norman horchte auf. Dann kannten die sich beiden also? Er war verwundert. Gehörte der Mann etwa zu Franklins Bande?
»Kein Bitten mehr«, schnaubte Julian verächtlich.
»Tie sagte ...« Erneut hustete der Mann und spuckte Blut, eher er weiter sprechen konnte. »Er sagte, er gewährt mir Gnade, wenn ...«
Julian holte mit einem Fuß aus und trat ihm heftig in die Rippen. Die Laute die der Mann anschließend von sich gab, waren scheußlich.
»Was Tie sagte, interessiert mich nicht.« Julian spuckte den Mann an. »Franklin will, dass alle Beteiligten ihre gerechte Strafe erhalten.«
Eine typische Machtdemonstration, wie Norman vermutete. Und da begriff er auch, was hier genau gespielt wurde. Die beiden Männer und der Gefesselte gehörten zu Ties Männern, während Julian und er zu Franklins Bande gehörten. Deshalb hatten sie es so eilig gehabt. Damit dieser Mann starb, bevor Tie ihm Gnade gewähren konnte.
Julian hob den Kopf und sah die Männer mit den Gewehren an. »Wo sind die anderen?«
Der größte Muskelprotz nickte stumm auf eine Tür.
Norman und Julian folgen dem Blick.
»Sieh nach, Alex«, forderte Julian auf.
Der schlanke Kerl holte einen Schlüssel heraus und warf ihn Norman zu, der ihn gekonnt auffing und sich auf den Weg zu der grünen Stahltür machte.
Er öffnete sie. Der Geruch von Tod schlug ihm entgegen. In der leeren Abstellkammer lagen drei Männer in Anzügen. Männer, die man leicht mit einfachen Büroheinis verwechseln konnte. In dem Wissen, das es niemand sah, verzog er bedauerlich das Gesicht.
»Lebt noch jemand?«
Norman ging in die Hocke und tastete an den Hälsen der Körper nach einem Anzeichen auf einen Puls. »Sie leben alle drei«, antwortete er.
Julian brummte vorwurfsvoll: »Franklin wollte sie tot sehen. Alle!«
Norman wandte sich um sah gerade noch, wie Ties Männer mit den Achseln zuckten.
Der Schlanke erklärte: »Tie sagte ...«
»Mir ist egal, was Tie sagte«, zischte Julian wütend.
Er atmete tief durch, dann beauftragte er die beiden: »Oben steht ein Van, da werdet ihr die drei Kerle rein werfen!«
Sie zögerten, doch dann beeilten sie sich, dem Befehl nachzukommen.
Norman speicherte in seinem Hirn die Information ab, dass Ties Männer alles taten, solange man behauptete, Franklin hätte den Befehl gegeben, ohne Rücksprache mit diesem zu halten.
Das war für ihn wohlmöglich noch eine wichtige Information.
Nachdem die Männer die Bewusstlosen fortschleiften, trat Norman wieder neben Julian und fragte leise: »Sag mal, wer ist eigentlich dieser ominöse Tie?«
Julian schnaubte und antwortete: »Niemand, der für dich wichtig wäre. Noch so ein Fehler und wir sind ihn und seine inkompetenten Männer ein für alle mal los.«
Julia beugte sich wieder über den Mann am Boden. Packte ihm in die braunen Haare und zog ihn unsanft zurück auf die Knie. Er brachte sein bärtiges Gesicht nahe an das des anderen heran und fragte: »Wo ist das Mädchen?«
Norman horchte sofort auf.
»Ich schwöre, ich weiß es nicht«, jammerte der Mann. »Sie tauchte nicht auf.«
»Dafür aber die andere Frau, richtig?«
Er nickte und erklärte: »Es war ein dummer Zufall. Wir haben sie heimgeschickt, weil sie durch das Auswahlverfahren gefallen ist.«
»Aber du hast vergessen, Tie zu sagen, das die Frau, die das Gebäude verlässt, eine andere ist, richtig?«
Der Mann nickte, Tränen kullerten aus seinen Augen, als er sie zusammen petzte. »Bitte, ich wollte nicht ...«
»Weißt du, das ist nicht das erste Mal, das du schlampig gehandelt hast.«
»Ich weiß ...«
»Warum sollten wir dir also Gnade erweisen?«
»Tie sagte, er gibt mir einen anderen Posten, weil ich schon so lange ...«
»Tja, aber Tie hat hier nicht das Sagen!«
»Aber … Aber ich arbeite für ihn …«
»Und er arbeitete für Franklin«, warf Julian ein. »Und solange er das tut, ist es Franklin, der über dein armseliges, kleines Leben bestimmt.«
Mehr Tränen der Verzweiflung liefen aus den Augen des Mannes.
»Aber Franklin ist ein gutherziger Mann«, sagte Julian nun milder. »Er gewährt dir eine Chance, wenn du uns sagst, wo das Mädchen ist.«
»Ich weiß es wirklich nicht ...«
»Und Informationen über die falsch entführte Frau?«
Plötzlich wurden die Augen des Mannes groß. »Ja!«, rief er aus. »Sie hat das Formular ausgefüllt! Ein Lebenslauf hat sie auch da gelassen.«
»Wunderbar, und wo ist das Zeug?«
»Oben! Auf meinem Schreibtisch!« Der Mann schien wieder Hoffnung zu haben, doch noch mit dem Leben davon kommen zu können. »Da liegt auch ein Formular über die andere junge Frau. Wenn Franklin sie haben will, kann ich versuchen, sie irgendwie doch noch herzulocken.«
Julian atmete aus und schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, aber das war alles, was wir wissen wollten.«
Julian zog ein langes Jagdmesser hervor und die Augen des Mannes wurden entsetzlich groß.
Gerade als Julian ihm die Kehle aufschlitzen wollte und Norman kurz davor war, doch einzugreifen, schwang die Tür hinter ihnen auf. Eine herrische Stimme rief: »Genug!«
Julian und Norman fuhren zusammen und wandten sich zu der Stimme um.
Ein großer Mann, schlank aber durchtrainiert, stand in der Nähe der Treppenhaustür und zündete sich eine Zigarette an. Er trug eine dunkle Anzughose, ein weißes Hemd ohne Krawatte, der Kragen stand offen, und darüber trug er ein schwarzes Sportsakko. Sein dunkles Haar war zu einer strubbeligen Frisur gestylt, wirkte aber dennoch enorm elegant. Seine schwarzen Schuhe glänzten, als er einen Fuß vor den anderen setzte und selbstbewusst herüber kam. Ein Mann, dessen Aussehen man locker als aalglatt bezeichnen konnte.
Er zog an seiner Kippe und stieß Qualm aus, als er sich zwischen Julian und Norman stellte.
Verärgert sah er auf den Mann zu seinen Füßen hinab. »Ist er das?«
»Laut Ties Männer, ja«, antwortete Julian.
»Hat er was gesagt?«
»Er sagte, er hätte Informationen über beide Mädchen auf seinem Schreibtisch-«
Julian brach ab, als der Mann im Anzug in die Hocke ging und den Mann am Boden ruhig betrachtete.
Der Anzugträger nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in das geschundene Gesicht des Gefolterten.
Der Gefesselte ließ es stumm über sich ergehen. Anders als bei Julian, schien er nun nicht mehr um Gnade flehen zu wollen.
»Wo ist dein Schreibtisch?«, fragte der Mann mit der Zigarette geduldig.
Diese Stimme ... da stellten sich Norman die Nackenhaare auf. So absolut ruhig und beherrscht. Eine Stimme, die zu einem Mann gehörte, der absolut von sich selbst überzeugt war.
Ohne aufzublicken, antwortete der Mann sofort: »Dritte Reihe von Hinten, vierter Schreibtisch von rechts. Auf der Seite des Tischs steht die Zahl Siebzehn.«
»Julian?«
»Ja?«
»Geh und hol die Informationen«, trug der Anzugmann auf und erhob sich wieder. »Vernichte die Informationen über das freie Mädchen. Die anderen übergibst du mir nachher.«
Julian nickte, doch er stockte und berichtete dann: »Zwei von Ties Männer laden gerade drei andere in den Van-«
»Nein, tun sie nicht«, warf der Mann ein. »Sie sind fertig damit und leisten ihren Kollegen jetzt Gesellschaft.«
Julian wandte sich ab um zu gehen, da rief der Anzugmann ihm hinterher: »Sie sind tot, ich habe sie selbst erschossen. Hat etwas Krach gemacht, wenn ich du wäre, würde ich mich also beeilen, den Van mit den Leichen loszuwerden.«
Norman sah, wie Julians Augen groß wurden, eher er sich eilig in Bewegung setzte.
Selbstzufrieden zog der Anzugmann an seiner Kippe und betrachtete anschließend die glühende Spitze, als er fragte: »Wie ist dein Name?«
Norman brauchte einen Augenblick, bis er kapierte, dass er gemeint war. Doch dann antwortete er recht schnell: »Alex.«
»Alexander Neumann?«
Sein Name machte also die Runde. War das gut?
»Ja«, bestätigte er.
Nun sah der Kerl ihn an und verzog die vollen Lippen zu einem schiefen Grinsen. »Sie sind der Betäubungstyp.«
»Entschuldigung, der ... Was?«
Der Mann lachte leise in sich hinein und wandte sich Norman gänzlich zu. »Der Mann, der Tie mit Betäubungsmittel versorgt.«
»Ich weiß nicht, für wen es ist«, warf Norman ein. »Ich besorge es nur auf Anfrage. Wer es an wen verteilt, weiß ich nicht.«
»Ist ja auch nicht wichtig, oder?« Der Mann lächelte und griff sich hinten in den Rücken. »Ich wollte lediglich sagen, dass das Zeug wirklich gut ist, Sie müssen mir unbedingt den Namen verraten.«
Er zog eine Pistole hervor, entsicherte sie und zielte auf den Mann, der gefesselt auf dem Boden hockte. Ohne auch nur einmal hingesehen zu haben, drückte er ab. Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch die Etage.
Der Mann am Boden sackte zur Seite, er war sofort tot.
Das Norman nicht einmal mit der Wimpern gezuckt hatte, sondern lediglich den ruhigen Blick des Anzugkerls erwiderte, schien diesen zufrieden zustellen.
Als Norman jedoch einen Blick nach unten wagte, konnte er nicht verbergen, dass er über den sauberen Kopfschuss staunte. Ohne hingesehen zu haben, hatte der Mann genau die Mitte der Stirn getroffen. Das Opfer war ohne jeden Zweifel sofort tot gewesen.
»Er wollte Gnade«, sagte der Mann selbstbewusst grinsend. »Julian hätte ihm die Kehle aufgeschlitzt um keinen Lärm zu machen. Der arme Kerl hätte lange leiden müssen, eher er an seinem eigenen Blut erstickt oder verblutet wäre. Er nannte mir gehorsam die Informationen, die ich von ihm brauchte, der Kopfschuss war mein Geschenk an ihn.«
Norman widerstrebte es, aber er nickte dem Mann bewundernd zu.
Der Kerl trat noch näher an Norman heran, steckte die Pistole weg und zog an seiner Kippe, während er mit seinen blauen Augen tief in Normans blickte.
»Ich bin Franklin«, verkündete er und stieß Zigarettenqualm an Norman vorbei.
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, gab Norman ruhig zurück.
Franklin lachte leise. »Ja, das glaube ich gern.«
Nach einem letzten prüfenden Blick, wandte er sich ab. Doch über die Schulter forderte er Norman auf: »Kommen Sie mit, Alex. Lassen wir die Drecksarbeit die anderen machen. Ich habe eine bessere Aufgabe für Sie.«
Norman konnte sein Glück kaum fassen. Nach wenigen Wochen hatte er es durch einen blöden Zufall geschafft, in Franklins unmittelbare Nähe zu gelangen.
***
Fatima und Tom waren beide schon sehr früh im Büro. Keiner der beiden sah aus, als hätten sie in der letzten Nacht viel geschlafen. Das lag vermutlich daran, dass beide unermüdlich an dem Fall der vermissten Mona Lorenz arbeiteten.
Am Tag zuvor waren sie zu dieser Rechtsanwaltsfirma gefahren und haben ein paar Mitarbeiter verhört. Die Sekretärin, die Mona Lorenz angenommen hatte und den Mann von der Personalabeilung, der das Bewerbungsgespräch geführt hatte, wurden befragt.
Mona Lorenz war dort gewesen, aber sonst ist nichts Auffälliges geschehen. Die Überwachungsvideos zeigten, dass sie alleine das Gebäude verlassen hatte. Niemand war ihr von dort aus gefolgt. Nur ... es gab keine Kameras auf dem Gelände.
Fatima fragte sich, wo Mona Lorenz danach hingegangen sein konnte. Es gab zwei Möglichkeiten, hatte ihre Mutter auf die Frage geantwortet, als Fatima am Abend zuvor noch einmal bei den Lorenz’ vorbeigeschaut hatte. Entweder Mona hatte das Gelände auf der belebten Südseite verlassen um zu einer nahe gelegenen Bushaltestelle zu gelangen, oder sie hatte den einsam gelegenen Hinterausgang benutzt, um von dort aus schneller zu dem Fitnessstudio zu gelangen, indem ihr Freund arbeitete.
Am frühen Morgen war Fatima beide Strecken abgefahren, dann war sie beide Strecken zu Fuß abgelaufen, in der Hoffnung, eine Spur zu finden. Irgendetwas! Ein Haarband oder eine Haarklammer, die Mona Lorenz gehörte. Mit viel Glück vielleicht ihre Handtasche. Aber die Täter hatten nicht einfach nur Mona Lorenz mitgenommen, sie hatten alles mitgenommen.
Wer immer die junge Frau hatte, war ein Profi.
Fatima wusste leider nicht genau, was für einen Einsatz Norman hatte, aber sie wünschte sich, dass er bald wieder da wäre. Organisiertes Verbrechen war sein Spezialgebiet.
Tom, der sich müde durch das Computerprogramm klickte, seufzte schwer. »Wer könnte sie entführt haben?«, fragte er vor sich hinmurmelnd. Er blickte zu Fatima hinüber und überlegte: »Vielleicht hat ihr Freund etwas damit zutun? In den meisten Fällen ist es jemand, den das Opfer persönlich kennt. Personen, die dem Opfer nahe stehen.«
»Aber wozu?«, fragte Fatima grübelnd. »Welches Motiv könnte er haben?«
»Geld?«
»Mona Lorenz ist arbeitslos, bei ihren Eltern mitversichert und besitzt auch keine Lebensversicherung. Sie ist mittellos. Außerdem war er zum Tatzeitpunkt arbeiten, er hat ein Alibi.«
»Der Tatzeitpunkt kann nicht genau bestimmt werden«, warf Tom ein. »Mona Lorenz wurde zuletzt um kurz vor 18:00 Uhr von der Überwachungskamera der Rechtsanwaltsfirma dabei aufgenommen, wie sie das Gebäude verlässt. Ihre Mutter rief erst Stunden später die Polizei. Mit Sicherheit können wir nur sagen, das keiner mehr ab 18:00Uhr Kontakt zu Mona Lorenz hatte. Was, wenn sie es bis zu ihrem Freund geschafft hat? Was, wenn sie an irgendeiner Ecke auf ihn gewartet hat. Oder an seinem Wagen? Er verschleppt sie und hält sie fest.«
»Und wozu?« Fatima war nicht überzeugt. »Tom, wir brauchen ein Tatmotiv, bevor wir ihn vernehmen.«
»Aber wir könnten zumindest mit ihm reden. Auch mit Mona Lorenz’ bester Freundin sollten wir uns unterhalten. Vielleicht finden wir etwas heraus, was den ein oder anderen belastet.«
Fatima runzelte die Stirn und überlegte laut: »Wenn sie es wirklich bis zum Fitnessstudio geschafft hat, wird irgendwer dort sie gesehen haben müssen.«
Tom nickte eifrig und beschloss: »Da wir sonst keine Spuren haben, sollten wir damit weiter machen, ihre engsten Bekannten zu befragen.«
Fatima nickte und wollte gerade ihren Computer herunter fahren, um sich mit Tom auf den Weg zu Mona Lorenz’ Freund zu machen, als ein Kollege an den Türrahmen klopfte.
»Fatima, da ist eine junge Frau, die dich gerne sprechen würde«, verkündete er.
Fatima bestätigte mit einem Kopfnicken, das er die Frau herein lassen sollte.
»Frau Längler!« Fatima sprang von ihrem Stuhl auf, als sie die Sekretärin herein kommen sah, die sie gestern befragt hatten.
Auch Tom erhob sich von seinem Stuhl.
»Kommissarin Ünal, richtig?«, fragte die blonde Frau verunsichert.
»Ja, richtig.«
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht aufhalten, aber Sie sagten, ich sollte mich melden, falls mir noch etwas einfällt oder falls ich etwas Ungewöhnliches beobachte.«
Fatima nickte und deutete auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Bitte, setzten Sie sich.«
Frau Längler nahm Platz, ihre Stimme war gesenkt als sie sich zu Fatima beugte und sagte: »Es ist vermutlich nichts, aber ich wollte es Ihnen trotzdem erzählen.«
»Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
Die blonde Frau schüttelte den Kopf, dann erklärte sie: »Der Kollege aus der Personalabteilung ...«
Fatima kramte in ihren Unterlagen und fand den Namen: »Florian Maßbach?«
»Genau«, bestätigte die Sekretärin. »Er blieb gestern wieder länger im Büro. Ich bin eigentlich die letzte, die das Gebäude verlässt, mal abgesehen von den Putzfrauen, die etwa eine Stunde nach mir auftauchen. Diese kommen aber nur montags, dienstags und freitags. Flo bleibt manchmal länger, wissen Sie, er war ein widerlicher Kerl, ich glaube, er blieb länger um sich in aller Ruhe Pornos ansehen zu können.«
Fatima nickte, wollte aber wissen: »Hat er etwas verdächtiges gemacht, Frau Längler?«
Sie hatte wenig Lust hier in einen Streit zwischen Kollegen zu geraten. Es kam oft vor, das jemand bei der Polizei auftauchte und behauptete der Nachbar oder der verhasste Kollege wäre ein Verbrecher, nur um ihn loszuwerden.
»Er ist verschwunden.«
Fatima warf Tom einen Blick zu, der diesen ebenso überrascht erwiderte.
»Verschwunden?«, hakte Fatima nach. »Wie meinen Sie das?«
»Er war der letzte Kollege im Büro und sollte die Türen abschließen, weil ja auch keine Putzfrauen mehr auftauchen würden«, erklärte die Frau aufgeregt. »Aber als ich heute Morgen im Büro ankam, waren alle Türen noch geöffnet. Flos Computer lief noch. Erst dachte ich, er wäre schon früh am Morgen gekommen, weil auch sein Wagen auf dem Parkplatz stand. Als er aber nicht aufzufinden war und auch im laufe des Tages nicht auftauchte, kam mir das seltsam. Ich ging auf den Parkplatz vor dem Gebäude und sah mir seinen Wagen an. Da fiel mir auf, dass er noch genauso da stand wie am Abend zuvor, als ich gegangen bin.«
Fatima kam das ebenfalls kurios vor, doch bevor sie Fragen stellen konnte, sprach die blonde Frau bereits weiter: »Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber unter seiner angegeben Nummer hieß es nur: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Also ... nun, ich habe mir die Überwachungsbänder ansehen wollen, weil ich natürlich neugierig war ...«
»Und?«, fragte Fatima ungeduldig.
»Keine da!«, rief die Frau leise aus. »Alle weg. Und die Kameras waren alle nicht mehr funktionsfähig.«
Profis, dachte Fatima und seufzte innerlich. Da waren wirklich Profis am Werk.
»Aber wirklich merkwürdig wurde es erst noch«, fügte die geschwätzige Sekretärin hinzu und kramte etwas auf ihrer Aktentasche hervor, »ich fand einen Stapel davon in Flos Schreibtisch.«
Fatima nahm das Blatt entgegen und begutachtete es. Ein Frageboden, wie man ihm von einem Arztbesuch kannte, nur die Fragen waren etwas anders ...
»Das hat nichts mir unserer Firma zutun«, erklärte die blonde Frau. »Ich fragte meinen Chef, was es damit auf sich hat, aber auch dieser hatte keine Ahnung, und er arbeitet direkt unter Rechtsanwalt Schönmayer, dem Leiter der Firma.«
»Das ist in der Tat merkwürdig ...«, murmelte Fatima, die noch immer das Formular anstarrte.
»Ich weiß nicht, ob das alles etwas mit der vermissten Frau zutun hat, aber ich dachte, Sie sollten davon erfahren, vielleicht führt Sie das ja auf die richtige Spur.«
Fatima nickte und sah der Frau ins Gesicht. »Danke, Sie haben uns wirklich sehr geholfen.«
Frau Längler lächelte und erhob sich. »Das ist das Mindeste, oder?«, sagte sie und lachte unsicher auf. »Wissen Sie, seit den ersten Vermisstenfällen, habe ich fürchterliche Angst das Haus zu verlassen. Ich hoffe nur, dass Sie die junge Frau finden und die Täter unschädlich machen.«
Fatima, die nah am Wasser gebaut war, hatte das Bedürfnis, die junge Frau zu drücken und ihr zu versichern, dass sie genau das tun würde.
Aber nichts war wirklich sicher.
»Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Frau Längler und wandte sich ab.
Fatima nickte und murmelte noch: »Passen Sie auf sich auf.«
Während die Sekretärin das Büro verließ, trat Tom neben Fatimas Stuhl. Als sie zu ihrem Kollegen aufblickte, war sein Gesichtsausdruck grübelnd.
»Was?«, fragte sie verwundert.
»Dieser Florian Maßbach existiert nicht.«
»Was?« Fassungslos starrte sie zu Tom auf. »Woher weißt du das?«
»Ja«, bestätigte er. »Während du mit ihr gesprochen hast, habe ich das mal ganz genau überprüft. Es ist alles da, bis auf eine Geburtsurkunde. Der Kerl tauchte einfach irgendwann mitten in dieser Stadt auf, als wäre er vom Himmel gefallen.«
»Na sieh mal einer an!«
»Ja.« Tom nickte einmal mit dem Kopf. »Ich glaube, dieser Florian Maßbach könnte der Schlüssel zur Entführung der jungen Frau sein.«
»Na toll!« Fatima atmete wütend aus. »Und ausgerechnet der ist verschwunden!«
»Frag dich mal wieso«, gab Tom zurück und sah ihr bedeutsam in die Augen.
Sie nickte und meinte: »Ich nehme mal an, wer immer für das Verschwinden des Mädchens verantwortlich ist, musste auch Florian Maßbach, oder wer auch immer er war, verschwinden lassen.«
»Oder er war es«, grübelte Tom. »Er hat das Mädchen entführt, sie verschleppt. Vermutlich um sie zu missbrauchen. Als wir dann nach ihr gefragt haben, hat er Angst bekommen und ist verschwunden. Vermutlich wollte er es so aussehen lassen, als wäre auch er beseitigt worden.«
Fatima schüttelte den Kopf und warf ein: »Wir haben die Überwachungsbänder vom Tag des Verschwindens gesehen, Tom. Keiner hat unmittelbar nach Mona Lorenz das Gebäude verlassen.«
»Vielleicht hat er einen Komplizen.«
Fatima stöhnte frustriert und fuhr sich durch ihre langen, dunklen Haare.
»Denk doch mal nach!« Tom ging um sie herum und überflog das Formular. »Hier, siehst du! Das ist sein Auswahlverfahren! Vielleicht ist er ein Vergewaltiger, der so seine Opfer heraussucht. Er will wissen, ob sie ansteckende Krankheiten haben, ob sie Familie haben. Er gibt das den Bewerberinnen der Firma, die, die er will, schickt er Heim, ruft seinen Komplizen an, vielleicht sind es auch mehrere Komplizen, die dem Mädchen folgen und es verschleppen. Sie wird missbraucht, bis sie stirb, dann fischen wir sie aus dem Fluss.«
»Aber nicht alle Vermissten tauchten wieder auf, nicht alle Vermissten haben sich bei dieser Firma beworben und es waren auch nicht alle Vermissten weiblich. Alleine kann er das auf keinen Fall gemacht haben.«
»Dann ist es vielleicht die Taktik einer organisierten Bande«, vermutete Tom. »Sie schleusen Mitarbeiter in die Personalabteilungen größerer Firmen. Bewerber müssen dieses Formular ausfüllen und sollten sie ins Beuteschema passen, werden sie verschleppt.«
»Dann müssten alle Vermissten sich kurz zuvor bei irgendeiner Firma beworben haben«, grübelte Fatima.
Sie wünschte, Norman wäre hier, er hatte Toms Enthusiasmus immer am besten bremsen können, während Fatima sich immer mitreißen ließ.
»Das lässt sich schnell überprüfen und so abwegig ist das gar nicht. Denn alle Opfer waren arbeitslose Junkies ohne Familie. Bis auf Mona Lorenz.«
»Vielleicht war sie auch ein Fehler«, kam es Fatima in den Sinn.
Tom nickte zustimmend. »Könnte sein, das sie das Formular falsch ausgefüllt hat, - wieso auch immer -, und so ins Visier der Täter geriet.«
Tom knirschte grimmig mit den Zähnen, fing sich aber schnell wieder und lächelte gekünstelt.
»Und jetzt wird zu schnell nach ihr gesucht«, erkannte Fatima. »Das könnte ihr Leben gefährden, sofern sie noch lebt.«
»Ich hoffe, dass sie noch lebt«, seufzte Tom traurig. »Ich will sie finden. Wenn schon nicht die anderen, dann wenigstens sie.«
Fatima sprang auf und beschloss: »Komm, wir fahren noch mal zu der Firma und sehen uns das selbst an. Danach befragen wir Monas Bekannte.«
Irgendwo musste ein Hinweis darauf sein, was geschehen war. Wenn niemand mehr mit Mona Lorenz gesprochen hatte, konnte Tom mit seiner Annahme Recht behalten.
***
Norman bestaunte die Gemälde in Franklins Arbeitszimmer, während dieser sich kurz entschuldigen musste, weil einer seiner Bediensteten einen Anruf angekündigt hatte.
Erstaunlich, wie viel Geld man machen konnte, wenn man kriminell war, ging es Norman durch den Kopf. Aber rentierte sich das denn wirklich? Menschen neigten dazu, Fehler zu machen. Und wenn man etwas zu verbergen hatte, durfte man sich keinen noch so winzigen Fehler erlauben. Früher oder später wurde man zwangsläufig auf die eine oder andere Weise geschnappt. Wenn nicht von der Polizei, dann aber mit Sicherheit von der Konkurrenz.
Und jemand wie Franklin, für den über hundert Männer arbeiteten, der in einer Villa wohnte und sich hinter viel Geld verstecken konnte, hatte mit Sicherheit sehr viel Feinde dort draußen.
Norman blieb vor einem Gemälde stehen und legte den Kopf grübelnd schräg. Er mochte Kunst, er hatte selbst einige Landschaftsgemälde in seiner richtigen Wohnung aufgehängt. Aber dieses hier konnte er nicht entziffern.
Es stellte keine Landschaft da, auch keinen Körper. Es waren einfach ineinander laufende Farben. Dick aufgetragen. Düstere Farben, die gegenseitig um die Oberhand zu kämpfen schienen. So war jedenfalls seine Meinung zu dem Bild. Ob der Maler ihm da zustimmen würde, war eine andere Frage ...
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Norman blickte zur Tür.
Lächelnd stand dort Franklin und kam zu ihm geschlendert. »Wie der Künstler die Farben eingesetzt hat ist faszinierend, finden Sie nicht auch, Alex?«
Norman wollte schon bejahen, erinnerte sich dann aber daran, dass Alexander Neumann bestimmt nicht wie ein Kunstliebhaber wirkte. Also erwiderte er: »Ich hatte bei jemand wie Ihnen andere ... Bilder erwartet.«
»So?« Franklin sah ihn belustigt an. »Was hatten Sie denn erwartet, bei mir zu finden?«
Norman zuckte mit den Schultern. »Aktgemälde?«
Franklin lachte vergnügt. »So schätzen Sie mich also ein, hm, Herr Neumann?« Er ging an Norman vorbei und stellte sich hinter seinen Schriebtisch.
»Ich dachte, ein Mann wie Sie, sähe sich gerne nackte Frauenkörper an«, scherzte Norman und trat vor den imposanten Schreibtisch.
Einen augenblicklang betrachtete Franklin ihn nachdenklich. Dann sagte er im ernsteren Tonfall: »Dazu brauche ich keine Gemälde.«
»Sicher nicht.« Norman lachte auf. »Mit dieser Villa bilden die Schnecken vor Ihrer Tür sicher eine lange Schlange.«
»Tun sie«, bestätigte Franklin schmunzelnd. »Nur interessieren auch die mich nicht.«
Norman stockte verwundert. »Nicht?«
»Nein, wissen Sie ...«, er setzte sich in seinen Stuhl und lehnte sich zurück, »...ich habe spezielle Vorlieben bei der Auswahl meiner ... nennen wir es mal Partnerinnen.«
Norman kaute auf der Innenseite seiner Wange, dann erwiderte er: »Ich nehme mal an, wir sprechen hier nicht über Haarfarben.«
»Nein«, lachte Franklin, »ganz gewiss nicht.«
»Nun, es geht mich auch nichts an, wen oder was Sie so vernaschen«, wechselte Norman das Thema. »Deswegen bin ich sicher nicht hier.«
»Nein.« Franklin wackelte mit seinen dunklen Augenbrauen. »Aber Sie werden damit zutun haben.«
Norman sah fragend auf ihn herab.
»Tie sagte mir, seine Männer haben ein Sedativum von Ihnen erstanden.«
»Das ist richtig«, bestätigte Norman.
»Nun, ich muss leider zugeben, dass Ihres besser ist, als das, was wir zuvor verwendet haben. Es ist ... schonender aber effektiv. Genau das brauche ich! Pech für meinen alten Lieferanten, aber Glück für Sie, Alex.«
»Sie brauchen mehr davon?« Norman hätte am liebsten geflucht, gab sich aber interessiert, auch wenn er nicht wusste, ob er an mehr herankam.
Franklin nagte einen momentlang auf seiner Unterlippe herum, eher er wissen wollte: »Was ist das für eine Substanz?«
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Unbedingt«, erwiderte Franklin und verschränkte die Finger ineinander.
»Nun, es ist ein selbst zusammen gemixtes Beruhigungsmittel. Hoch dosiert, damit die Betroffenen das Bewusstsein für mehrere Stunden oder sogar Tage verlieren, ohne bleibende Schäden davonzutragen.«
Franklin nickte langsam, er wollte wissen: »Könnte ich es so dosieren, das die Betroffenen bei Bewusstsein bleiben?«
»Sicher«, bestätigte Norman. »Das Problem ist aber ... je öfter es gespritzt wird, je höher muss es dosiert werden, damit die gewünschte Wirkung eintritt.«
»Verstehe.« Erneut nickte Franklin nachdenklich. Dann beschloss er: »Ich möchte, das Sie mir soviel davon besorgen, wie möglich. Egal, was es kosten sollte.«
Norman nickte und wandte sich ab. Scheiße, er brauchte dringend einen Plan ...
»Und Alex?«
Norman drehte sich zu Franklin um.
»Wenn Sie mich bescheißen sollten, was die Summe angeht«, warnte er, »verspreche ich Ihnen die Hölle auf Erden!«
Norman grinste und erwiderte: »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen von vorneherein einen ... Familienrabatt gebe?«
Franklin nickte zufrieden. »Das hoffe ich doch.«
»Keine Sorge«, versprach Norman und verließ gutgelaunt rückwärts den Raum, »ich besorge Ihnen das Zeug zum besten Preis. Es wäre äußerst dumm von mir, einen Großkunden übers Ohr zu ziehen.«
»Ich bin sicher, wir beide werden in Zukunft eng zusammen arbeiten, Herr Neumann«, grinste Franklin zurück. »Ich habe eine Menge Arbeit für sie.«
»Dann freue ich mich auf die zukünftige Zusammenarbeit.«
Norman wollte eigentlich nur noch hier raus, er musste dringend einen alten Bekannten anrufen, obwohl er geschworen hatte, diesen nie wieder um etwas zu bitten.
»Ach Alex?«, wurde er erneut aufgehalten. »Tun Sie mir einen Gefallen und rasieren Sie sich diesen grässlichen Bart ab.«
Norman runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
Franklin seufzte und erklärte: »Nichts für ungut, aber ich hasse bärtige Männer! Bärte sind fürs Fußvolk. Für Julian und seine widerlichen Kumpanen, die die Drecksarbeit machen.«
Lächelnd zeigte er auf Normans Brust. »Aber Sie, mein Freund, sind zu höherem berufen. Sie sind jetzt mein Lieferant. Ein enorm wichtiger Teil in meinem ... Geschäft. Ohne Sie, bekomme ich keine Ware mehr rein. Also sorgen Sie bitte dafür, dass sie etwas seriöser aussehen.«
Norman nickte und zwang sich zu einem Lächeln. »Der Bart kommt sofort ab.«
»Schön!«
»Fein«, erwiderte Norman und wandte sich ab.
Er zog die Tür des Arbeitszimmers hinter sich zu und atmete erst einmal durch. Kurz nachdem die Tür geschlossen war, hörte er Franklins Stimme sagen: »Tie! Wo zum Teufel steckst du? Ich verspreche dir, ich jage dich bis ans Ende der Welt, wenn du dich bis Mittag nicht zurückgemeldet hast ...«
Norman hätte gerne das Telefonat belauscht, doch er wusste nicht, ob und wo Kameras in der Nähe waren, deshalb ging er den Flur entlang und verließ die große Villa eilig.
Franklin hatte etwas von Ware gesagt. Zweifellos hatte er damit die Entführten gemeint. Warum sonst sollte er große Mengen Sedativum benötigen? Seine Männer sammelten die Opfer ein, betäubten sie, und Franklin ... verkaufte sie?
War Franklin der Kopf einer Bande von Menschenhändlern?
Wenn dem so war, wollte Norman ganz sicher nicht der Mann sein, der noch mehr Drogen heranschaffte, die die Opfer willenlos machten. Aber wenn er nicht auffliegen wollte, hatte er keine andere Wahl. Und scheitern kam nicht in Frage. Nicht jetzt, wo er langsam begriff, was hier gespielt wurde.