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ОглавлениеAlessandro fuhr in seinem schwarzen Sportwagen, der einige Zeit unbewegt bei seinem großen Bruder untergestanden hatte, gemächlich durch die Straßen der Stadt. Er hatte natürlich ein bestimmtes Ziel, aber das bedeutete nicht, dass er auch jedem zeigen musste, dass er etwas vorhatte. Vielleicht war er paranoid, aber in dieser Stadt konnte man nie genau wissen, von wem man gerade verfolgt wurde.
Seine Rückkehr war kein Zufall gewesen und er hatte diese Entscheidung nicht aus freien Stücken getroffen, auch wenn er seine Heimat stets vermisst hatte, wusste er, dass es hier für jemand wie ihn einfach zu gefährlich war.
Nun, aber da er sowieso schon in der Stadt war, wollte er dann auch nach einem alten »Freund« sehen.
Gedankenverloren rieb er sich über seine Lippen, während seine andere Hand locker das Lenkrad umfasst hielt und das Auto steuerte. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass der Wagen hinter ihm viel zu dicht auffuhr. Der Mann hinter dem Lenkrad zog ein grimmiges Gesicht und schien ausgiebig zu fluchen.
Alessandro wusste nicht, was der Kerl für ein Problem hatte, immerhin hielt er sich lediglich an die vorgegebene Geschwindigkeitsbeschränkung. Und nur weil so ein Lackaffe im Anzug der Meinung war, ihn bedrängen zu müssen, musste er noch lange nicht darauf eingehen. Im Gegenteil, Alessandro fuhr noch mal extra langsamer, als er an eine Ampel heran fuhr. Sie stand auf Grün, bis er bei ihr ankam, war sie rot.
Der Anzugträger im hinteren Wagen hupte und schimpfte, so laut, das Alessandro ihn teilweise hören konnte. Mit einem provokanten Grinsen sah er in den Rückspiegel und empfand höchste Zufriedenheit über den Ärger des Mannes.
Alessandro brachte gern andere Menschen auf die Palme, das hatte er schon als kleiner Junge immer gern getan, mit seinen mittlerweile vierunddreißig Jahren hatte sich das nicht geändert.
Vierunddreißig ... Alessandro hob den Kopf und betrachtete sich selbst im Rückspiegel. Eingehend betrachtete er sein jung gebliebenes Gesicht. Oft schätzte man ihn höchstens auf achtundzwanzig Jahre, worüber er sehr froh ist. Was sein Aussehen betraf war Alessandro unglaublich eitel, er hatte Angst davor, alt und unattraktiv zu werden. Deshalb pflegte er sich gut. Auch bei seiner Ernähung war er vorsichtig, sein einziges Laster waren die heimtückischen Zigaretten. Dafür ließ er aber die Finger von Alkohol und Drogen; meistens jedenfalls.
Aber er hatte andere Dinge, die für ihn wie Drogen waren. Von denen er süchtig war, wenn nicht sogar geradezu besessen. Ja, besessen traf die Sache ganz gut, dachte er insgeheim als er den Rückspiegel wieder zurechtrückte, weil die Ampel wieder auf Grün umsprang.
Alessandro fuhr wieder an und behielt sein gemächliches Tempo bei. Er hielt kurz bei einem Zebrastreifen und ließ eine Klasse Schulkinder darüber, während der Mann hinter ihm im Wagen wieder kräftig die Hupe betätigte.
Bei der nächsten Gelegenheit überholte der Wagen hinter Alessandro schließlich und zeigte ihm beim Vorüberfahren demonstrativ den Mittelfinger. Alessandro grüßte lediglich freundlich und lächelte nur frech.
Nachdem er genug davon hatte, die anderen Verkehrsteilnehmer in den Wahnsinn zu treiben, indem sie zwang, sich an die Verkehrsregeln zu halten, bog er schließlich in das Viertel, zudem er von Anfang an hatte gelangen wollen.
Es handelte sich um einen Wohnblock aus Hochhäusern mit Mietwohnungen. Hier gab diese eine Person auf Erden, die Alessandro benötigte, wie ein Alkoholiker seinen Alkohol.
Er parkte sein Auto unauffällig auf der gegenüberliegenden Straßenseite unter den kahlen Ästen einer Trauerweide, die am Rande eines kleinen Spielplatzes emporragte.
Alessandro blieb im Wagen sitzen, als er die graue Fassade des Gebäudes hinaufblickte, zu den Balkonfenstern der einen Wohnung, die ihn interessierte.
Oft hatte er sich schon gefragt, wie es wohl darinnen aussehen würde. Vermutlich würde er es nie erfahren, geschweige denn, mit eigenen Augen sehen.
Hier zu sitzen und Stunde um Stunde im Wagen auszuharren war seine ganz persönliche Droge. Na ja, nicht das Rumsitzen, korrigierte er sich, eher das heimliche beobachten der anderen Person, wie ein kleiner, perverser Spanner.
Um genau zu sein, war er aber kein gewöhnlicher Spanner, da er nicht darauf aus, war etwas Intimes aus dem Privatleben der Person zu erfahren. Er wollte den Menschen nur ... sehen. Da er nicht einfach hingehen und die Person treffen konnte, musste er es eben heimlich tun. Seltsamerweise gab ihm das stets ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, dabei schwebe er umso mehr in Gefahr, je näher er sich an die Person heranwagte.
Doch heute stimmte etwas nicht. Während Alessandro hinauf starrte, erkannte er, dass hinter den Fenstern kein Licht brannte. In der Wohnung gab es kein Leben.
Grübelnd hob er seinen Arm um dessen Handgelenk eine Armbanduhr hing und las die Zeit davon ab. Es war spät und der andere müsste eigentlich schon zu Hause sein.
Nun, aber er schien mal wieder länger zu arbeiten. Seltsam war aber, dass dessen Wagen auf dem Parkplatz stand, der für ihn bestimmt war.
Vielleicht war er mit dem Dienstwagen unterwegs, überlegte Alessandro und startete seinen Wagen.
Auf direktem Weg fuhr er zur Arbeitsstelle seines »Stalking-Opfers« und parkte auch davor auf der gegenüberliegenden Seite. Von dort aus hatte er einen guten Blick in das Büro, indem der andere für gewöhnlich arbeitete. Dort brannte wie üblich Licht, aber er war nicht zu finden.
Enttäuscht lehnte Alessandro sich zurück, er hatte gehofft, einen kurzen Blick auf ihn erhaschen zu können. Er war neugierig darauf gewesen, wie er sich verändert hatte.
Seufzend startete er wieder den Motor und lenkte den Wagen auf die Straße. Da er sonst nichts weiter zutun hatte, fuhr er enttäuscht und niedergeschlagen wieder nach Hause. Oder besser gesagt, in Enios Zuhause; er selbst hatte nichts Eigenes.
Noch nicht!
Nach zwanzig Minuten betrat er wieder die prunkvolle Eingangshalle der Villa. Es war warm und es roch nach frischgebackenem Kuchen, allerdings war Alessandro die Lust auf Süßspeisen für heute vergangen. Er wollte lieber in sein Zimmer und schmollen.
Aber seltsam war es schon, überlegte er, während er die Treppe hinauf schlurfte. Es gab in dieser Stadt eigentlich nur zwei Orte an dem er ihn antreffen konnte. Alessandro hatte ihn Jahrelang beobachtet und wusste genau, wo er, wann hinging. Morgens ging er joggen, meistens außerhalb der Stadt, er lief einige Kilometer, kam zurück und duschte, dann machte er sich auf zur Arbeit, dann war er im Büro oder mit seinem Wagen unterwegs, nach der Arbeit fuhr er in seine Wohnung und blieb dort, einkaufen ging er stets Samstags nach seiner Schicht. Er hätte also in seiner Wohnung sein müssen!
Gut, es war natürlich möglich, dass er beruflich unterwegs war, er saß ja nicht ständig im Büro, allerdings war es dennoch seltsam, das sein Wagen vor der Wohnung geparkt hatte.
Alessandro ließ die Treppe hinter sich zufallen und durchquerte den Flur. Er kam an Florenze Zimmer vorbei, dessen Tür offen stand.
Sich am Kopf kratzend trat Alessandro in den Rahmen und spähte vorsichtig in das dunkel eingerichtete Schlafzimmer. Wie alles im Haus seines Bruders, waren auch die Möbel in diesem Raum Antik. Alles war altmodischelegant eingerichtet. Altmodisch im Sinne von dunklen, massiven Möbeln und kein Blümchenmusteraltmodisch.
Florenze saß im Schneidersitz auf der Matratze seines Doppelbetts und beugte sich über eine Vielzahl von Unterlagen. Alessandro konnte davon ausgehen, dass es sich dabei um diverse Polizeiakten hielt, die Florenze sich ungefragt angeeignet hatte. Der Kleine war ein Genie wenn es darum ging, an verschlossene Akten heran zu kommen. Was vermutlich daran lag, das er sich als ehemaliger Kommissar verdammt gut mit den Daten der Polizeicomputer auskannte. Er war wohl deshalb das nützlichste Mitglied hier.
Florenzes frührer Beruf war auch der Grund, weshalb Alessandro nun leise an den Türrahmen klopfte.
Überrascht blickte Florenze auf.
Alessandro grinste. »Störe ich?«
»Ein wenig«, gestand Florenz lächelnd. »Aber nicht schlimm.«
»Ich habe nur eine kurze Frage.«
Florenze lehnte sich zwar wieder über seine Unterlagen, forderte aber Alessandro auf: »Dann raus damit!«
»Sag mal ... du weißt nicht zufällig was Kommissar Koch im Moment so treibt, oder?«
»Norman Koch?« Florenze sah zu Alessandro auf. »Nein. Wieso? Macht er dir wieder Probleme?«
Alessandro schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Nein ich ... ich will ihn einfach nur im Auge behalten. Sicher ist sicher.«
Florenze nickte verständlich, sagte jedoch: »Versuch am besten einfach, ihm aus dem Weg zu gehen. Der Kerl scheint geradezu besessen von dir zu sein, irgendwann sind auch unsere Mittel erschöpft. Wir können dich nicht jeden zweiten Monaten vor einer Verurteilung bewahren, irgendwann fällt es auf.«
»Deshalb will ich ihn ja im Auge behalten«, warf Alessandro ein, »damit ich ihm aus dem Weg gehen kann.«
Einen momentlang betrachtete Florenze Alessandro noch mit kühlen Augen, aber schließlich nickte er knapp und widmete sich wieder den illegal beschafften Akten.
Alessandro war wegen des Gesprächs noch enttäuschter als zuvor, weil nichts dabei heraus gekommen war. Er drehte sich mit hängenden Schultern um und wollte gehen.
»Wir haben ihn beobachtet und selbst im Auge behalten«, erklärte Florenze plötzlich.
Alessandro versuchte, nicht allzu interessiert zu sein, als er sich noch einmal halb zu Florenze umwandte und ihn ansah.
Ohne aufzublicken erzählte Florenze: »Dein Bruder war besorgt, weil Koch so hartnäckig war, aber das hörte auf, nachdem du verschwunden warst. Offenbar hat der Bulle weniger ein Interesse an uns als an dir. Das ist für uns zwar beruhigend, für dich jedoch nicht.«
Alessandro rutschte das Herz in die Hose. »Habt ihr ihn ...«
»Wir haben seine beruflichen Aktivitäten durch Maulwürfe überwachen lassen«, wich Florenze der Frage aus, »vor einigen Monaten bekamen wir die Information, dass er vorübergehend als Sonderermittler eingesetzt wird.«
»Und das heißt?«, fragte Alessandro und versteckte seine tiefe Erleichterung darüber, das Enio den Kommissar nicht umgebracht hatte.
Florenze antwortete gelassen: »Das er vorübergehend weg ist. Wir wissen leider nicht wo und wir wissen auch nicht, was er gerade tut. Unsere Informanten konnten nicht mehr herausbekommen, was bedeutet, dass wirklich nur wenige wissen, was Koch gerade macht.«
Ob er noch in der Stadt ist?, fragte sich Alessandro insgeheim.
Er nickte Florenze zu und sagte: »Danke.« Dann wandte er sich ab und ließ den anderen alleine.
Jetzt war Alessandro jedoch noch geknickter als zuvor. Er hatte wirklich gehofft, wenigstens sein altes »Tänzchen« mit dem Kommissar wieder aufnehmen zu können.
Aber irgendetwas sagte Alessandro, das Koch nicht fort war. Es war eine Art Intuition, die ihm sagte, dass der Bulle noch in der Stadt war. Die Frage war nur wo.
Alessandro war fest entschlossen, ihn zu finden, sollte er irgendwo dort draußen sein. Wie schwer konnte es schon werden, einen Mann in einer Stadt wie dieser ausfindig zu machen?
Außerdem war Alessandro ein Meister darin, Menschen aufzufinden, es gehörte schließlich zu seinem Beruf, Personen zu finden, die nicht gefunden werden wollte.
Und er würde Koch schon aufspüren, das schwor er sich.
***
Sie wusste nicht, ob sie trotz der Schmerzen vor Erschöpfung eingeschlafen war oder ob sie wegen der Schmerzen einfach nur zeitweise das Bewusstsein verlor.
Mona hatte jegliches Zeitgefühl verloren, für sie vergingen Sekunden wie Minuten und Minuten wie Stunden. Sie wünschte, sie könnte erneut das Bewusstsein verlieren, aber ihr Wunsch wurde ihr verwehrt. Nun hielt der Durst sie unermüdlich wach. Und nicht nur das. Denn obwohl ihr übel war und sie nicht einmal an etwas Essbares denken konnte, spürte sie ihren leeren Magen. Kein Magenknurren. Nein, Mona hatte unerträgliche Schmerzen im Magen. Nie hätte sie gedacht, dass ein leerer Bauch eine solche Folter sein konnte.
Wie lange war sie schon hier? Wie lange war ihre Entführung her? Es fühlte sich wie Monate an, es waren vermutlich aber nur ein paar Tage.
Ein paar Tage ... und sie stand schon jetzt kurz vor dem kapitulieren.
Suchte denn keiner nach ihr?, fragte sie sich verzweifelt. Wo blieb die Rettung?
Die Tür schwang auf und Licht fiel kurz herein, während ihr Peiniger in den Raum trat. Sie hörte seine großen, lauten Schritte auf dem Boden. Seine eleganten Schuhe klackerten bei jedem Schritt. Er ging zur Neonlampe hinüber und machte das Licht an.
Mona zuckte zusammen. Das grellweiße Licht tat ihr in den Augen weh, die inzwischen nur völlige Dunkelheit gewöhnt waren.
»Wie geht es uns heute?«, hörte sie die verhasste Stimme höhnisch fragen. Er wusste ganz genau, wie schlecht es ihr ging.
Ihr war kalt, sie war dreckig und nass, sie stank, ihr war übel von ihrem eigenem Geruch, ihr Magen schmerzte, ihre Kehle fühlte sich wie Sandpapier an und ihr Mund war staubtrocken. Ihre Arme, an denen sie hing, spürte sie gar nicht mehr, aber nun, da sie durch das grelle Licht mehr sehen konnte, erkannte sie, das Blut an ihnen hinab rann. Frisches und getrocknetes Blut.
Sie ließ den Kopf kurz in den Nacken fallen und sah hinauf. Wie vermutet, hatten die Handschellen in ihre Gelenke geschnitten. Immer wieder sickerte neues Blut aus den Wunden und rann ihre Arme hinab. Es sammelte sich in ihren Achselhöhlen und tropfte dann zu Boden.
Mit einem Klirren löste sich plötzlich die Kette um ein Stück und Mona wurde soweit hinunter gelassen, das sie knien konnte. Ihr Gewicht wurde von ihren Armen genommen. Erleichtert stieß sie den Atem aus.
»Das tut gut, nicht wahr?«, fragte ihr Entführer und kam zu ihr hinüber.
Vor ihr blieb er stehen, sie konnte seine Schuhe sehen und sie glaubte, Zigarettenqualm zu riechen.
»Oh Süße«, sagte er bedauernd, »du siehst ja furchtbar aus!«
Er ging vor ihr in die Hocke und befahl: »Sieh mich an!«
Mona hob den Blick, sie war bereits zu schwach, um sich zu weigern.
Sein frisches, elegantes Aussehen ließ sie wütend werden. Er roch gut, sein Haar war feucht, seine Kleidung frisch, vermutlich hatte er eine angenehme Dusche genommen, bevor er zu ihr in die Folterkammer gekommen war. Dieses Drecksschwein! Vermutlich hat er davor noch ordentlich gespeist und reichlich getrunken, all das, was Mona verwehrt war. Sie hätte ihn am liebsten umgebracht!
Diese Wut zeigte deutlich, wie sehr die kurze Zeit in diesem Raum bereits ihren Charakter verändert hatte, denn sie war noch nie auf die Idee gekommen, einen anderen Menschen auf irgendeine Weise Gewalt anzutun. Aber bei diesem hatte sie keine anderen Gefühle.
Er hatte sie aufgehängt. Nackt! Sie Stunde um Stunde hängen lassen, dafür wollte sie ihm wehtun.
»Also ...«, begann er fragend und zog an einer Zigarette, »... wirst du heute trinken?«
Mona presste ihre trockenen, aufgerissenen Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
Sie brach eine seiner Regeln, als sie mit tonloser Stimme hauchte: »Da würde ich lieber Säure trinken.«
Er blies den Zigarettenqualm knapp an ihrem Gesicht vorbei, dann betrachtete er sie eine Weile grübelnd.
»Du bist zäh«, sagte er irgendwann unglücklich und erhob sich. »Wirklich zäh!«
Er ging um sie herum.
Mona versuchte, den Kopf zu drehen, aber es funktionierte nicht. Was hatte er jetzt wieder vor?
»Weißt du, woran das liegt?«, fragte er. Seine Stimme war plötzlich direkt hinter hier. Und im nächsten Moment spürte sie den brennenden Schmerz, ausgelöst durch eine Gerte, mit der er ihr brutal den Rücken auspeitschte. Es war nur ein Schlag gewesen. Ein Schlag, der ohne jeglichen Zweifel so fest gewesen war, dass ihre Haut aufgeplatzte.
Mona wollte schreien, aber mehr als scharf den Atem einzuziehen gelang ihr nicht. Sie war zu schwach. Zu ausgelaugt. Zu hilflos.
»Du klingst überrascht«, stellte er fest. »Dabei müsste dir bewusst sein, dass ich dich bestrafe. Du hast gesprochen, ohne dass ich es gestattet habe, und du willst immer noch nicht trinken.«
Mona versuchte, flach zu atmen und konzentrierte sich ganz darauf, den Schmerz auszuhalten.
Wie viel konnte ihre Körper noch ertragen, bevor er aufgab und sie das Bewusstsein verlor?
»Wir beide ...«, seufzte er, »...wir haben ein Problem.«
Er kam um sie herum, die schwarze Reitgerte noch immer in der Hand, und ging erneut vor ihr in die Hocke. Ernst sah er ihr ins Gesicht und erklärte: »Du bist sehr unterwürfig, das finde ich gut, damit kann ich arbeiten. Das ist der Grund, warum ich dir das Leben angeboten habe. Aber das Problem ist, das du Familie hast. Du denkst, irgendwo da draußen wird nach dir gesucht. Du hoffst darauf, gefunden zu werden, richtig?«
Mona starrte ihn nur hasserfüllt an.
»Nicke.«
Sie tat, was er befahl.
Zufrieden hob er das Kinn, wollte aber wissen: »Muss ich dir immer erst wehtun, damit du die Regeln befolgst?«
Mona schwieg.
»Antworte«, gab er den Befehl.
»Nein, Herr«, gab sie zurück.
Er hob eine Hand und zog an seiner Zigarette, die Spitze glühte auf, als er tief inhalierte.
Einen Moment überlegte er, dann sagte er zu ihr: »Weißt du, selbst wenn sie nach dir suchen sollten, werden sie dich nicht finden, Schätzchen. Sicher hast du von all den anderen Vermissten gehört, bevor du entführt wurdest. Nicke!«
Sie nickte.
»Keiner wurde gefunden«, erinnerte er sie. »Nur ein paar Leichen wurden aus dem Fluss gewischt. Willst du auch eine davon sein? Antworte!«
»Nein, Herr.«
»Nein«, stimmte er zu und lächelte. »Also hör zu, die Sache ist die: Es sucht keiner nach dir!«
Er log, da war sie sich sicher!
»Du bist jetzt schon eine ganze Weile verschwunden und bisher wurdest du noch nicht einmal als vermisst gemeldet!«
Ihre Mutter hätte schon nach wenigen Stunden die ganze Stadt nach ihr abgesucht, das wusste Mona. Das wusste sie ganz genau ... Oder?
»Und selbst wenn sie anfangen würden, dich heute oder morgen zu suchen, werden sie lange keine brauchbaren Hinweise finden«, sprach er weiter auf sie ein. Bedauerlich sah er sie an und redete nach einem Seufzer weiter: »Du solltest dir lieber wünschen, das man nicht nach dir sucht. Denn wenn die Bullen vor meiner Tür stehen, werde ich dich einfach los. Ich schlitz dir die Kehle auf und werfe dich in den Fluss. Keine Sorge, du erstickst zuerst an deinem eigenem Blut, bevor du ertrinkst.«
Er grinste höhnisch als Mona einen ängstlichen Laut von sich gab.
»Und für den unwahrscheinlichen Fall, das sie dich hier herausbekommen. Lebendig! Werden sie viel zu lange gebraucht haben um dich zu finden. Du hast ja keine Vorstellung, was dir noch alles bevorsteht, wenn du nicht endlich gehorchst. Und wenn sie deinen geschundenen Körper hier hinauszerren, wirst du lediglich nur noch in der Lage sein, in einer Irrenanstalt zu verweilen.« Er sah ihr eindringlich in die Augen und fügte hinzu: »Du wirst ohne mich, nicht mehr in der Lage sein, zu überleben. Also schlag dir die romantische Vorstellung aus dem Kopf, dass dich hier irgendwer finden könnte. Hoffe lieber, dass keiner nach dir sucht. Denn wenn deine Familie zu hartnäckig ist, mache ich sie ausfindig und schaffe das Problem aus der Welt, verstanden? Antworte!«
»Ja, Herr«, stieß sie aus; den Tränen nahe, weil er ihre Familie bedroht hatte.
Er betrachtete sie noch kurz prüfend, dann nickte er zufrieden. »Gut!«
Mona blickte wieder zu Boden und versuchte, nicht zu schlurzen, was sie ihre letzte Kraft kostete.
»Du solltest vielleicht noch wissen«, sagte er, als er sich mit der Gerte erhob, »dass dort draußen eine Menge schwer bewaffneter Männer patrouillieren. Selbst wenn hier ein Einsatzkommando eintreffen sollte, werden sie zulange brauchen um bis zu diesem Raum hier vorzudringen.« Plötzlich war er wieder hinter ihr und hauchte ihr ins Ohr: »Bis sie zu dir gelangen, habe ich dich längst geschnappt und an einen anderen Ort verschleppt.«
Mona schloss leise weinend die Augen, während seine Worte die gewünschte Wirkung erzielten: Hoffnungslosigkeit!
Er hob eine Hand, sein Finger fuhr ein Stück ihren Arm hinauf, streifte etwas von dem frischen Blut ab, als schöpfte er Erdbeersoße von einem Eisstiel. Er führte den Finger zum Mund und lutschte das Blut genüsslich ab.
Langsam begriff Mona, das sie es mit einem echten Psychopathen zutun hatte.
»So und jetzt zu deiner Strafe«, sagte er seufzend und leckte sich über die Lippen. »Wenn ich dich jetzt auspeitsche, will ich, dass du keinen Ton von dir gibst. Verstanden? Antworte!«
»Ja, Herr.«
»Zwanzig Schläge mit der Gerte auf den blanken Rücken. Ich bin gnädig und zähle den ersten mit, also sind es nur noch neunzehn«, erklärte er. »Aber bei jedem Mucks aus deiner Kehle, sei es auch nur ein Aufkeuchen, lege ich zehn Schläge drauf. Verstanden? Nicke!«
Sie nickte stumm.
Mona bewegte ihre tauben Finger und langte nach der Kette, die sie oben hielt, um sich daran festzuhalten.
Als er anfing, sie brutal auszupeitschen, petzte sie Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Sie hielt drei aus, beim vierten Schlag, der ihre Haut aufplatzen ließ, kam ihr ein leises Wimmern über die Lippen.
Er seufzte verhalten: »Fünfundzwanzig Schläge ...«
Mona hielt die Luft an. Das half sogar. Nach weiteren sieben Peitschenhieben, zuckte sie nicht einmal mehr zusammen. Ihr Rücken brannte so stark, das sie die neuen Schläge kaum noch spürte.
Gerade als sie nur noch zehn hätte aushalten müssen, schlug er auf eine bereits offne Wunde, was Mona unwillkürliche aufschreien ließ.
»Und wieder zwanzig ...«
So ging das immer wieder hin und her. Bis sie irgendwann einfach zu erschöpft war um einen Ton von sich zu geben.
Kraftlos hing sie an der Kette, als er fertig war. Sie spürte, wie ihr Blut den Rücken hinunterlief, aber es war ihr egal. Sie war nur froh, dass es vorüber war.
»Das war für die Frechheit, ungefragt den Mund aufzumachen«, sagte er, nachdem er die Gerte aus der Hand gelegt hatte.
»Sieh mich an! Heb den Kopf!«, befahl er, als er wieder bei ihr war und vor ihr in die Hocke ging.
Sie hob den Blick.
»Also, du wolltest nicht trinken, richtig? Wolltest lieber Säure, als das, was ich anzubieten habe, richtig? Antworte!«
»Ja, Herr«, brachte sie hervor.
Er lachte leise und hob eine Hand, in der statt der Gerte nun ein Wasserglas lag. Eiswürfel schwammen darin.
Monas Augen wurden groß. Noch nie hatte ein Glas Wasser so verführerisch ausgesehen!
»Zu schade, dass ich dir Wasser reichen wollte«, sagte er amüsiert grinsend.
Mona starrte ihn flehend an.
»Oh was?« Er lachte. »Willst du jetzt etwa doch trinken?«
Sie nickte weinend.
Er warf ihr einen nachvollziehenden Blick zu. »Natürlich, jetzt, wo du weißt, dass es Wasser ist. Köstliches, sprudelndes Mineralwasser. Eiskalt. Ich habe extra eine frische Flasche für dich aufgemacht, die im Kühlschrank gelegen hat.« Er seufzte. »Ich habe dich zweimal gefragt, du wolltest nicht!«
Er zuckte mit den Schultern, hob das Glas an und trank selbst einen Schluck davon.
»Hm«, machte er dann. »Auspeitschen macht mich immer so durstig. Wie sieht es bei dir aus? Ich wurde nie ausgepeitscht. Hat man danach großen Durst? Oder eher weniger?«
Monas Schultern zuckten, weil sie einen Weinkrampf unterdrückte.
Die größte Folter, die er ihr antat, war nicht das auspeitschen gewesen, sondern die Psychospielchen.
»Na ja, vielleicht willst du ja morgen«, sagte er und erhob sich.
Mona sah, wie er das Wasserglas auf dem Boden abstellte. Nicht weit von ihr entfernt, aber sie konnte sich ja nicht bewegen. Sie schluckte, während sie die Eiswürfel beobachtete, die im sprudelnden Wasser schwammen.
Er stand hinter ihr, als sie hörte, wie er seine Hose öffnete.
»Du weißt ja, was ich mache, wenn du nicht trinken willst«, sagte er noch amüsiert. »Heute könnte das allerdings etwas ... brennen. Aber diesmal, darfst du schreien.«
Mona biss die Zähne zusammen, als der warme Strahl ihren Rücken traf. Sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben. Aber die offenen Wunden brannten zu stark, sie fing doch zu schreien an.
Als er fertig war, ging er zu Tür. Er ließ sie auf dem Boden kauern und er ließ ihr das Licht an. Und Mona wusste auch ganz genau warum: damit sie das Glas Wasser immer vor Augen hatte.
»Ich hoffe, dass du bald kooperierst«, sagte er noch zu ihr. »Wenn sich die Wunden auf deinem Rücken entzünden, könnte das recht ... unschön werden. Mal ganz davon abgesehen, das du nicht mehr lange ohne Flüssigkeitszufuhr durchhältst. Ich gebe dir noch eine Nacht, bevor es wirklich kritisch wird ... vielleicht auch etwas früher.«
Mona glaubte, das er Recht haben könnte. Was das Schlimmste an der Sache war. Nun musste sie sich entscheiden, ob sie nachgeben oder verdursten wollte.
»Wir sehen uns dann morgen Abend wieder.« Er öffnete die Tür und fügte hinzu: »Das sind etwa ... zwanzig Stunden. Mehr oder weniger. Aber ich gestatte dir, nach mir zu schreien, wenn du das Gefühl hast, elendig zu verrecken.«
Lieber sterbe ich, dachte Mona noch. Aber würde sie wirklich so stark bleiben können?
***
» ... vor vier Tagen verschwand die neunzehnjährige Mona Lorenz«, berichtete die schöne, blonde Nachrichtensprecherin. »Die junge Frau wurde nach einem Vorstellungsgespräch bei der Rechtsanwaltsfirma Schönmayer nicht mehr gesehen. Laut Polizeisprecher hat sie sich danach bei keinem Bekannten mehr gemeldet. Niemand will die Vermisste danach gesehen haben. Wohlmöglich besteht ein Zusammenhang mit dem mysteriösen Verschwinden des Personalchefs, der das Vorstellungsgespräch geführt haben soll. Der Mann soll eine falsche Identität angegeben haben und sei verschwunden, nachdem die Polizei ihn Fragen über die Vermisste gestellt habe. Rechtsanwalt Schönmayer bestreitet, etwas davon gewusst zu haben und verweigert jegliche weitere Aussage. - Die Ermittler bitten um Mithilfe. Sollte jemand das Mädchen oder den Personalchef seither gesehen haben, möge dieser sich bitte bei der städtischen Polizeiwache melden. Oberhauptkommissar Schreiber ist zuversichtlich, dass die junge Frau noch lebend gefunden werden kann, wenn schnell gehandelt wird ...«
Alessandro beugte sich zur Fernbedienung hinab und schaltete den Falschbildfernseher aus.
Er war gerade aus der Dusche gekommen und hatte sich ein weißes Handtuch um die schlanke Hüfte geschlungen, als die Eilmeldung eingeblendet worden war.
Kopfschüttelnd dachte er daran, was für naive Idioten da am Werk waren. Nicht die Täter, er meinte die Ermittler, die glaubten, schneller voran zu kommen, indem sie sich an die Öffentlichkeit wandten.
Egal was sie taten, das Mädchen würden sie vermutlich nie wieder sehen. So wie den Großteil aller andern Vermissten. Jedenfalls nicht, wenn der dahinter steckte, den Alessandro hinter all dem vermutete.
Erstaunlich wie schnell sich der kleine Wurm wieder auf die Beine gebracht hat, überlegte er und schüttelte erneut den Kopf. Wenn er aber nicht aufpasste, würde er bald mächtig auf die Schnauze fliegen. Lange würden Enio und Alarich sich das nicht tatenlos mit ansehen.
Alessandro hielt von all dem nicht viel. Diese ganzen Machtspielchen. Wer war der böserer, der grausamere, der skrupellosere Mann? ... Blablabla .... Er war nicht unbedingt so, wie all die anderen klischeehaften Verbrecher. Er tat, was getan werden musste, wenn die Höhe der Summe stimmte. Das beutete nicht, dass er unbedingt Spaß daran hatte oder das er mehr wollte. Eine Machtposition hatte er nie angestrebt. Zuviel Verantwortung und viel zu viele Feinde. Jeder Arschkriecher konnte einen verraten. Und Alessandro hatte noch nie jemand anderen als sich selbst vertraut.
Dennoch nahm er sich die Freiheit, sich als etwas Besseres anzusehen. Denn er hatte moralische Grenzen, die er nie überschritt. Die, denen er schadete, hatten sich das selbst zuzuschreiben. Aber unschuldige Mädchen verschleppen, das ging selbst ihm zu weit.
Nicht, das er eingreifen oder sich viel darum kümmern würde. Es ging ihm ums Prinzip. Die andern konnte gerne machen, was immer sie wollten. Drogenhandel, Waffenhandel ... Menschenhandel. Ihm egal. Aber er würde sich da nicht mit reinziehen lassen, soviel war klar.
Er ging von seiner Sofaecke hinüber zu seiner zimmereigenen Bar, wo er sich erst einmal einen Drink eingoss.
Gerade nahm er einen großen Schluck Bourbon, als es an seiner Tür klopfte.
»Komm rein.«
Kaum gesagt, schlüpfte Brian herein.
»Dein Bruder tobt«, berichtete dieser.
»Immer noch?«
Alessandro nahm ein zweites Glas und goss auch in dieses einen Schluck sündhaftteuren Bourbon. Er drehte sich um und ging auf Brian zu.
Dankend nahm der Mann mit dem Ziegenbärtchen den Drink an.
Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, berichtete er: »Enio hat gehofft, du würdest diesmal bleiben.«
»Ich bleibe«, warf Alessandro gelassen ein. »Wenn er mir gestattet, hier zu wohnen aber für andere zu arbeiten, bleibe ich gerne.«
»Kannst du es ihm verübeln, dass er dich nicht unmittelbar in seiner Nähe haben will, während du Aufträge seiner Konkurrenten erledigst? Er könnte eines deiner Ziele sein.«
Alessandro schnaubte: »Als würde ich meinen eigenen Bruder töten ...«
»Du bist dafür bekannt, deine engsten und ältesten Freunde zu verraten«, erinnerte Brian ihn. »Jeder von uns muss sich vor dir in Acht nehmen, wenn die Summe stimmt.«
»Das ist nicht wahr.« Alessandro meinte das ganz ehrlich. »Die einzigen, die nichts vor mir zu befürchten haben, wohnen in diesem Haus. Vier Männer! Mein Bruder, Alarich, Florenze und du. Eine beschauliche Liste.«
Brian sah ihn skeptisch an. Dann sagte er: »Ich erinnere mich an einen alten Freund, den du vor einigen Jahren ebenso auf dieser Liste stehen hattest ...«
»Und er lebt noch, oder nicht?« Alessandro wandte sich wütend ab, er wollte nicht daran denken. Dieser jemand hatte sich die damaligen Ereignisse selbst zuzuschreiben.
»Ja, er lebt noch. Dennoch hast du ihn verraten.«
»Ich hatte keine Wahl, er war unberechenbar geworden. Außerdem war es Enio, der mir den Befehl dazu gegeben hat«, verteidigte sich Alessandro und goss sich einen zweiten Drink ein. Bevor er trank, murmelte er noch: »Ich hätte ihn töten sollen.«
»Ja«, stimmte Brian ihm zu. »Wie man sieht, wäre es besser gewesen.«
»Aber Enio sagte, nein! Also habe ich es nicht getan.«
Brian holte tief Luft und wagte doch tatsächlich zu sagen: »Ich bezweifle, das du es wirklich hättest tun können.«
Alessandro stellte geräuschvoll das Glas ab und drehte sich zu Brian um. »Was hast du gesagt?«
»Du hast mich schon verstanden!«
Bedrohlich ging Alessandro auf den anderen Mann zu. Sie waren gleich groß, weshalb sie sich direkt in die Augen sehen konnten, als Alessandro sich vor ihm aufbaute. Beinahe berührten sich ihre Nasenspitzen, aber Brian wisch nicht zurück. Er hielt Alessandros wütendem Blick stand.
»Nennst du mich etwa schwach? Denkst du, ich wäre so sentimental?« Das durfte nicht passieren. Nicht in ihrer Branche. Keiner von ihnen konnte es sich leisten, emotional zu werden. »Wenn ich einen Auftrag annehme, mache ich ihn auch.«
»Er war dein bester Freund«, sagte Brian leise. »Ihr wart zusammen auf derselben Schule. Seit zusammen aufgewachsen. Immer unzertrennlich. Ihr wart wie Brüder! Wenn du in der Lage wärest, ihn umzubringen, ohne mit der Wimper zu zucken ... dann würde ich den Respekt vor dir verlieren. Also nein, ich halte dich nicht für schwach, sondern für jemanden, der irgendwo unter dieser stahlharten Fassade so etwas besitzt, das man fast als Herz bezeichnen könnte.«
Er nahm den Blick von Alessandro und stellte auch sein Glas geräuschvoll auf einem nahe stehenden Beistelltisch ab. Dann wandte er sich ab und verließ das Zimmer wieder.
Alessandro stand da und mahlte mit den Kiefern.
Das Schlimme war, das Brian Recht hatte.
Damals hatte er Enios Befehl genau befolgt, um seinen Bruder zu schützen, aber insgeheim war er froh gewesen, das er seinen besten Freund nicht umbringen sollte. Er wusste nicht, ob er dazu im Stande war. Auch heute noch, nach all der Zeit. Nach allem was war.
***
»Das sind eine Menge Kisten«, sagte Franklin zufrieden grinsend.
Ja, aber nur die Hälfte davon war wirklich brauchbar, dachte Norman sich insgeheim. Wenn, beziehungsweise sobald, das heraus kam, würde er mächtig in der Scheiße sitzen. Aber darüber würde er sich Gedanken machen, wenn es soweit war.
»Ich habe mich beeilt«, erwiderte er. »Ich hatte noch einiges Zeug eingebunkert.«
»Was schulde ich Ihnen, mein Freund?«
»Nichts«, beschloss Norman. »Das geht aufs Haus. Es ist mein eigener Vorrat. Ich bin leider nicht sicher, ob alle Spritzen die gewünschte Wirkung erzielen.«
Franklin winkte ab. »Ach, wenn eine nicht schnell genug wirkt machen es Ties Männer auf die altmodische Weise und ... schlagen die Ware k.o.«
Grinsend blieb er vor Norman stehen, der sich einen verachtenden Blick verkneifen musste.
Sie standen in einem versteckten Keller unter einer großen Halle die sich hinter Franklins Villa befand. Hier hatte er mit einigen anderen Kerlen die Kisten hinschaffen sollen, eher Franklin sich die Zeit nahm, alles zu begutachten.
Norman hatte schon einiges zusammen mixen können, aber etwas mehr als die Hälfte der Kisten würde nicht richtig funktionieren. Die Betroffenen würden betäubt werden, ruhig gestellt werden, aber nicht das Bewusstsein verlieren. Starke Personen, wie Männer etwa, würden sich sicher noch wehren können.
Und sobald das geschah, und sich ein Opfer befreien konnte, würde er dafür die Schuld bekommen, da war er sich absolut sicher.
Franklins Smartphone klingelte. Er fischte es aus seiner schwarzen Anzugshose und wandte Norman den Rücken zu, als er ranging.
»Tie!«, spuckte er förmlich aus. »Wo bist du, du miese Ratte ... « Franklin lauschte.
»Was soll das heißen?«, fragte er nervös. »Seit wann zeigen sie es schon?«
Wieder hörte er diesem Tie zu, den man anscheinend nur sehr selten zu Gesicht bekam.
»Solange schon, hm? Na ja, aber das bedeutet ja, das du ausnahmsweise gute Arbeit geleistet hast und niemand auch nur ahnt, was mit dem Mädchen passiert ist.«
Wohl noch eine Vermisste, vermutete Norman, der leider im Moment keinen Kontakt zu Kollegen hatte.
»Okay, gute Arbeit. - Ausnahmsweise. - Hoffen wir einfach, dass wirklich niemand etwas gesehen hat. Wann kommt die nächste Lieferung? Ich habe ungeduldige Kunden!«
Franklin nickte, dann sagte in sein Telefon: »Gut, dann sehen wir uns morgen Abend. Bring sie her. Aber diesmal keine Fehler!«
Er legte auf und wandte sich grinsend zu Norman um.
Dieser zeigte sich interessiert und sagte: »Sie haben sich da ein schönes Geschäft aufgebaut.«
»In der Tat. Ich dachte, ich mache mein Hobby zum Beruf«, lachte Franklin.
»Und ihr Hobby war es, Menschen verschwinden zu lassen?«
Franklin kam vor ihm zum stehen. »Nein«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Mein Hobby war es schon immer, zu unterwerfen. Egal ob Mensch oder Tier, ich habe schon immer gerne ... gezüchtigt.«
Norman runzelte fragend die Stirn. »Und wie kann man damit sein Geld verdienen?«
»Gute Frage, Alex!« Grinsend ging Franklin an ihm vorbei, bedeutete ihm aber mit einem Handwinken, ihm zufolgen. »Mal angenommen, Sie hätten gerne einen willigen Sklaven oder eine Sklavin, nicht mehr als ein menschliches Haustier.«
»Zum Sex?«
»Wenn Sie das gerne möchten, klar, auch«, antwortete Franklin auf dem Weg nach oben. »Ob nun zum Sex oder aus anderen Gründen. Haushaltsführung. Lebendes Vorzeigepüppchen. Oder, wie bereits erwähnt, als menschliches Haustier. Völlig egal, was immer Sie sich wünschen, ich kann es Ihnen geben.«
»Sie verkaufen die Entführten also«, erkannte Norman und müsste vorgeben, beeindruckt zu sein.
»So einfach ist es leider nicht«, warf Franklin ein. »Bedenken Sie, dass es sich um Menschen handelt. Menschen streben stets nach Freiheit und eigenem Willen. Bevor ich also die Ware verkaufen kann, muss ich sie ... trainieren. Sie brechen. Ihnen zeigen, dass sie zu gehorchen haben. Ich bin der Ausbilder, der die Ware formt, bevor sie verkauft wird.«
Norman knirschte mit den Zähnen, in dem Wissen, das Franklin es nicht sehen konnte.
Das ging hier also vor.
Wie gern er diesen Typ von hinten angesprungen und auf ihn eingeprügelt hätte, aber er durfte jetzt nicht alles mit seinem Temperament vermasseln.
»Das ist schwierig«, erklärte Franklin weiter, als er Norman die Tür zur Villa aufhielt. »Denn bilde ich einen Sklaven aus, den ich verkaufe, muss ich ihn zwar brechen, darf ihn aber nicht auf mich fixieren. Verstehen Sie? Sie werden erst danach auf ihren Meister geprägt und dürfen mich nicht als ihren Herrn ansehen.«
»Verstehe«, gab Norman mürrischer zurück als beabsichtig.
Franklin fuhr zu ihm herum und sah ihn überrascht an. »Sie verachten das?«
Norman holte Luft und wollte sofort verneinen.
Da lachte Franklin und sagte: »Nur keine Sorge, Alex. Ich habe ... - ja, nenne wir sie mal Freunde... - die das ebenso verabscheuen. Und ehrlich gesagt, finde ich einige meiner eigenen Kunden äußerst widerlich.«
Er ging wieder voran und Norman folgte ihn durch das Erdgeschoss der Villa. Unter seinen Füßen, in jedem Zimmer das er durchquerte, befand sich kalter Marmorboden. Norman hatte keine Vorstellung davon, wie teuer das gewesen sein musste.
»Ob Sie es glauben oder nicht, Alex«, sprach Franklin weiter, »aber auch ich habe meine Grenzen. Ich will nicht sagen, dass meine Opfer es verdient hätte, aber alle samt waren Junkies ohne den Willen, ihr Leben zu ändern. Zum einen, weil ich es nicht gebrauchen kann, wenn Familien nach ihnen suchen, zum anderen, weil der Entzug, den sie hier durchleiden müssen, mir bei meiner Arbeit hilft.«
»Und wenn jemand andere Ware verlangt«, wagte Norman zu fragen. »Sagen wir ... jüngere Ware.«
»Meine Ware ist sehr jung.«
»Ich spreche von noch jüngerer Ware ...«
»Ach so.« Franklin betrat sein Arbeitszimmer und drehte sich grinsend zu Norman um. »Sie sprechen von Kindern.«
Norman nickte. Ihm war speiübel.
»Halten Sie mich für ein Untier?« Franklin lachte auf. »Wie gesagt, auch ich habe meine moralischen Grenzen, Alex. Alle Kunden, die so junge Waren verlangen, sind bei mir an der falschen Adresse. So was mache ich nicht. Für kein Geld der Welt. Zumal ich nicht einfach mal so ein Kind verschwinden lassen kann. Verstehen Sie?«
Norman schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«
»Nun ...«, Franklin setzte sich in seinen Stuhl, » ... sehen Sie es mal so: Verschwindet ein Junkie, ein arbeitsloser Nichtsnutz, interessiert das die Welt wenig. Man vergisst ihn im Laufe der Zeit, auch wenn die Ermittlungen noch laufen sollten. Die Gesellschaft, das Volk, wird nicht lange die Augen nach Spuren aufhalten. Verschwindet ein Kind, ist der gesamte Planet in Aufruhr. Die Familie, insbesondere die Eltern, werden niemals die Suche nach ihrem Kind aufgeben. Wenn Sie also nicht glauben wollen, dass ich ein Funken moralischen Anstand habe, dann glauben Sie wenigstens, dass es schlecht fürs Geschäft wäre, dieses Risiko einzugehen.«
Der Polizist in Norman wollte widersprechen. Er wollte sagen, das kein Mensch, egal ob jung alt, reich, mittellos, Junkie oder nicht, je vergessen wurde. Denn er würde nie einen Fall vergessen. Aber Franklin hatte Recht damit, dass es die Gesellschaft nicht sonderlich lange interessierte, wenn ein Junkie ohne wirkliche Zukunft verschwand und nicht mehr auftauchte. Sofern sein Verschwinden überhaupt bemerkt wurde.
»Sie sehen erschöpft aus, Alex«, bemerkte Franklin.
Das lag vermutlich daran, dass Norman nicht geschlafen hatte, um unzählige Kisten mit Spritzen zu füllen.
»Nun, ich leide zeitweise unter Schlafstörungen«, erklärte Norman. »Liegt vermutlich an unserer Branche. Sie als ... dicker Fisch ... haben vermutlich weniger zu befürchten, aber ich schlafe jede Nacht mit der Sorge ein, das am nächsten Morgen meine Bude gestürmt wird.«
Franklin lachte und nickte. »Oh, ich weiß, wie das ist. Ich habe lange Zeit untertauchen müssen, weil mein Boss sich mit den falschen Leuten angelegt hatte. Aber wie Sie sehen, kam ich wieder auf die Füße. Jetzt habe ich das nötige Ansehen, um mich mit der Konkurrenz gut zustellen.«
»Da bin ich sicher«, gab Norman schmunzelnd zurück.
»Nun ... ich bin ein großzügiger Mann«, begann Franklin. - Er betonte ständig, dass er großzügig und gnädig sei, bemerkte Norman. - »Ruhen Sie sich doch eine Weile aus, hier haben Sie nichts zu befürchten«, schlug Franklin vor und beugte sich mit einem Kugelschreiber geschäftig über einige Unterlagen. »Den Flur runter, zweite Tür links, befindet sich ein Aufenthaltsraum. Ein Fernseher, eine Bar, ein gemütliches Sofa. Nehmen sie einen Drink, schauen Sie Sport, halten Sie ein Nickerchen.«
»Gerne«, nahm Norman das Angebot an.
»Ach und Alex?«
»Ja?«
Franklin schielte zu ihm auf und deutete mit dem Kugelschreiber auf Normans Gesicht. »Sieht gut aus!«
Norman hob die Hand und strich sich grinsend über das glatt rasierte Kinn. »Fühlt sich auch gut an.«
Damit wandte er sich ab und ging den Flur entlang. Vorsichtig schielte er dabei zur Decke, in der Hoffnung, mögliche Kameras zu entdecken, aber er fand keine.
Entweder sie waren gut versteckt oder es gab keine. Er hoffte auf letzteres.