Читать книгу Die Krankenschwester ‒ der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark - Kristian Corfixen - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеDer Patient Svend Aage Petersen war vor wenigen Minuten in Zimmer 30 gebracht worden.
Er litt an COPD und war in der Abteilung bereits bekannt. Doch heute war er wirklich ängstlich gewesen, als der Rettungsdienst ihn um kurz vor 23:00 Uhr auf der Bahre über den Flur schob. Der sechsundachtzigjährige Svend Aage hatte versucht, den Sanitätern zu erklären, dass er nicht ins Krankenhaus wollte. Doch es war gut, dass sie nicht auf ihn gehört hatten. Kurz nachdem Svend Aage umgebettet worden war, hatte er Probleme mit der Atmung bekommen.
Auf dem Zimmer nahm ihn Marlene in Empfang. Sie erkannte den Patienten wieder, obwohl sein Gesicht unter der Sauerstoffmaske, die man ihm im Krankenwagen aufgesetzt hatte, ganz grau geworden war. Marlene fand, Svend Aage müsse sofort von einem Arzt untersucht werden, auch wenn die Kollegen weiter oben im Gang ihn als einen ‚gelben Patienten‘ kategorisiert hatten. Also suchte Marlene einen Arzt, und dieser verschrieb Svend Aage Medikamente, die seinen Zustand hoffentlich verbessern würden.
Christina kam ins Zimmer und fragte, ob sie etwas tun könne. Sie half dabei, Svend Aage einige der vielen Kleiderschichten auszuziehen, die er angehabt hatte, als er mit seinem Rollator gestürzt war. Anschließend steuerte Marlene den Medikamentenraum an, um die vom Arzt verordneten Medikamente zu holen, während Christina im Zimmer blieb. Bevor Marlene hinausging, sagte Christina, es würde wahrscheinlich nicht lange dauern, bis man den Herzalarm auslösen müsse. ‚Sie hat recht‘, dachte Marlene, denn das war auch ihre Einschätzung. Kurz danach ging er los.
Wenn Ärzte und Pflegekräfte in der Notaufnahme im Krankenhaus eintreffen, schließen sie sich sofort an eine Art Batterie betriebene ‚Rettungsleine‘ an. Dafür befestigen sie eine kleine, graue, elektrische Plastikvorrichtung mit Display an ihrer Uniform, meist am Rand ihrer Hosentasche. Man nennt sie ‚Alarm‘ oder ‚Heuler‘.
Denn diese kleinen Geräte signalisieren den Pflegekräften mit zwei kurzen Pieptönen, wenn in einem Zimmer ein Patient Hilfe benötigt und an der Notfallschnur gezogen hat. Doch am wichtigsten ist der Heuler, wenn es zu einem Herzstillstand kommt.
Wird irgendwo in der Notaufnahme eine Person entdeckt, die in ihrem Bett liegt und nicht atmet, muss das Pflegepersonal einen roten Schalter an der Wand betätigen. Dann wird es nur noch Sekunden dauern, bis die Kollegen ins Zimmer stürmen. Durch Betätigung des Schalters werden überall im Krankenhaus die zuständigen Pflegekräfte und Ärzte über das Gerät mit einem hysterischen Piepen alarmiert, und diese laufen dann sofort zu dem Zimmer, dessen Nummer im Display steht. Denn es handelt sich um einen Herzalarm.
Ein Herzalarm löst keine laute Sirene auf der gesamten Station aus. Andere Patienten und Besucher nehmen die Notsituation daher erst wahr, wenn der Linoleumboden plötzlich von den vielen Paar Schuhen der Mitarbeiter widerhallt, die herbeieilen. Als Erstes treffen die Kollegen aus der benachbarten Abteilung ein. Und dann kommt ein spezielles Reanimationsteam, das im ganzen Krankenhaus unterwegs ist und sich bereithält. Es besteht aus Ärzten und manchmal Anästhesiepflegekräften, außerdem zwei Krankenträgern, die Betten verschieben und bei Bedarf auch die Herzdruckmassage übernehmen können. Das Team hat einen Defibrillator dabei – ein Gerät, das über Elektroden Stromstöße auf den Brustkorb gibt, die das Herz wieder in Gang setzen sollen. Sie haben Medikamente dabei, eine Maske, mit der sie Sauerstoff in die Lungen pressen können, sowie eine mechanische Reanimationshilfe, die bei der Herzdruckmassage unterstützt oder diese übernimmt, wenn die Arme der Helfer ermüden.
Jeder Handgriff sitzt, man möchte nichts dem Zufall überlassen. Trotzdem berichten einige aus diesen Teams, die schon „viele Heuler erlebt haben“, dass man sich wohl nie daran gewöhnt. Selbst wenn man schon Hunderte Herzalarme erlebt hat, kann die Situation schwierig und chaotisch sein, denn für die Person, die dort im Bett liegt, zählt jede Sekunde. Selbst erfahrene Teammitglieder können in so einer Situation eine akute Belastungsreaktion bekommen, heißt es. Doch es gibt auch diejenigen, die sich dabei anscheinend wohlfühlen.
Die Heuler gingen an. Und das Reanimationsteam kam angelaufen. Zwei Krankenschwestern kamen aus der Anästhesie dazu. Und als sie im Zimmer ankamen, standen bereits ein Team aus Ärzten und Krankenträgern sowie mehrere Personen aus der Notaufnahme um Svend Aage herum, dem Christina vom Kopfende des Bettes aus Sauerstoff über eine Maske verabreichte. Christina klärte alle auf, wer der Patient war. Sie sprach laut und deutlich, ihre Körperhaltung strahlte Selbstbewusstsein aus. Die Herzmassage wurde eingeleitet. Drücken, drücken, drücken, drücken, drücken, beatmen. Sie machten weiter. Aber Svend Aage kam nicht wieder zu Bewusstsein.
Sie versuchten, die mechanische Reanimationshilfe an seinem Oberkörper zu befestigen, doch auch das änderte nichts. Schließlich stellte eine Krankenschwester fest, dass alle weiteren Versuche „sinnlos“ seien. Und ein Arzt entschied, die Reanimationsversuche einzustellen. Der Patient war tot.
Zwei Anästhesiepflegerinnen blieben auf dem Gang und sprachen mit Christina, während die Kollegen einer nach dem anderen Zimmer 30 verließen. Sie erzählte ihnen, dass in den letzten paar Stunden bereits mehrere Patienten in der Abteilung gestorben waren, mit denen sie zu tun gehabt hatte. Und dabei war es erst 23:30 Uhr. Es sei eine harte Schicht gewesen, sagte Christina. Sie nickten. Und dann fragte Christina sie, ob sie der Meinung seien, dass sie genug getan habe, dort drinnen in Svend Aages Zimmer? Aber, ja, das hatte sie. „Mach dir keine Sorgen, du bist tüchtig“, sagten sie. Und meinten es so. Sie hatten keinen Grund, etwas Gegenteiliges zu behaupten: Christina hatte die Situation unter Kontrolle gehabt, schnell reagiert und geholfen, während zwei ihrer Kolleginnen aus der Abteilung die meiste Zeit nur danebengestanden und zugesehen hatten. Außerdem hatte Christina kurz und übersichtlich zusammenfassen können, wie das Herz des Patienten in verschiedenen Rhythmen geschlagen hatte, bevor es schließlich aufgegeben hatte. Das war beeindruckend.
Die beiden Krankenschwestern aus der Anästhesie – beide Ende fünfzig und erfahren – hatten Christina immer als kompetent erlebt. Darüber sprachen sie auf dem Weg zurück in ihre Abteilung. Eine von ihnen arbeitete bereits seit über zwanzig Jahren in der Anästhesieabteilung des Krankenhauses Nykøbing Falster. Sie berichtete ihrer Kollegin, dass sie Christina schon in vielen Notfallsituationen erlebt hatte, sowohl in der Notaufnahme als auch auf Station M130, dem früheren Einsatzort der jungen Krankenschwestern. Christina schien immer alles unter Kontrolle zu haben.
Keiner der beiden war an diesem Abend etwas Besonderes oder Seltsames am Verhalten der Kollegin aufgefallen, doch eine andere Notaufnahmeschwester hatte in Svend Aages Zimmer ihre Aufmerksamkeit geweckt. Sie stand am Ende des Bettes und sollte notieren, welche Medikamente beim Reanimationsversuch verabreicht wurden. Außerdem sollte sie Medikamente in eine Spritze aufziehen und bereithalten, falls sie benötigt wurden. In dem Wirrwarr hatte sie eine Kanüle fallen gelassen, die den Fuß getroffen hatte und mit der Nadel ein Stück in den Zeh eingedrungen war. Die ganze Situation schien sie zu verängstigen. Sie konnte „die Angst in ihren Augen“ nicht verbergen, dachte die Kollegin. Diese Krankenschwester hieß Pernille.
*
Pernille hatte sehr wohl bemerkt, dass Christina mit den beiden Anästhesiepflegerinnen sprach. Sie konnte nicht hören, was sie sagten, aber sie konnte sehen, wie Christina gestikulierte, während sie erzählte. Es schien eine gute Geschichte zu sein. Sicher beschrieb sie die Situation, deren Ausgang sie alle gerade erlebt hatten, dachte Pernille, als sie mit dem Notfallmedikamentenset in Richtung Büro ging.
Ein Notfallmedikamentenset – oder auch Reanimationsset, wie einige es nennen – ist ein kleiner Pappkarton mit verschiedenen Medikamenten, die das Personal möglicherweise für die Reanimation eines Patienten benötigt. Im Medikamentenraum standen immer zwei dieser lebensrettenden Werkzeugkästen. Fertig gepackt, so vorbereitet, dass man sie nur noch aufreißen und die in Schaumgummi eingefassten Ampullen freilegen musste. Jeder kannte das Verfahren: Ging der Herzalarm los, musste eine Krankenschwester sofort eines der Notfallmedikamentensets holen und ins Zimmer bringen, damit Medikamente wie zum Beispiel Adrenalin, Calciumchlorid und Cordarone schnell verfügbar waren. Adrenalin kann eingesetzt werden, um den Blutdruck zu erhöhen, die Blutzirkulation zu verbessern und ein Herz zu stimulieren, das aufgehört hat zu schlagen. Cordarone wird verwendet, um einen Herzmuskel bei unregelmäßigen Kontraktionen und Rhythmusstörungen unter Kontrolle zu bringen. Alle Substanzen sind potent und können leblose Menschen wiederbeleben. Doch sie können auch töten, wenn man sie jemandem injiziert, der diese Beschwerden nicht hat.
Ein Notfallmedikamentenset war immer verplombt, und wenn es einmal aufgebrochen war, musste es gegen einen neues, ungeöffnetes aus dem Lager in Akut 1 ausgetauscht werden. Pernille wollte sich um den Austausch des Tabletts kümmern, das bei Svend Aage geöffnet worden war. Doch zunächst musste sein Zimmer aufgeräumt werden, bevor die Angehörigen kamen. Daher ging sie ins Büro und stellte das Tablett neben der Tastatur auf ihrem Schreibtisch ab. Den Zettel, auf dem sie die Medikamente notiert hatte, die verwendet worden waren, legte sie auf den Tisch der anderen Gruppenleiterin. Denn Christina war dafür verantwortlich, in Svend Aages Akte einzutragen, mit welchen Medikamenten das Personal versucht hatte, ihn wiederzubeleben.
Christina und Pernille halfen einander gegenseitig, den Verstorbenen zurecht zu machen. Sie richteten sein Haar, glätteten die Laken, verschlossen seinen Mund, öffneten das Fenster, legten seine Hände über der Brust zusammen, entfernten Schläuche und Geräte. Währenddessen sprachen die beiden Kolleginnen über Belanglosigkeiten. So als wäre alles ganz normal. Christina fragte, wo Pernille das Notfallmedikamentenset hingebracht hatte. Sie würde gleich damit hinuntergehen, antwortete Pernille. Und fügte hinzu, im Moment läge es auf ihrem Schreibtisch.
Als Pernille ins Büro zurückkam, war die Schachtel weg. Christina sei an Akut 1 vorbeigekommen und habe sie bei dieser Gelegenheit ausgetauscht, erfuhr Pernille. Die Krankenschwester war erstaunt und fragte sich, ob dieser Akt der Hilfsbereitschaft vielleicht kein reiner Freundschaftsdienst gewesen war. Möglich, dass Christina die Gelegenheit nutzen wollte, den Flur hinunter durch Akut 2 zu gehen, wo sie vom dramatischen Herzstillstand erzählen und viel Aufmerksamkeit bekommen konnte. Oder hatte sie vielleicht ihre Chance gesehen, Medikamente aus dem Notfallmedikamentenset zu entnehmen? Das wäre clever. Niemand würde merken, wenn man ein paar Ampullen in die eigenen Kitteltaschen fallen ließ. Denn niemand zählte die Medikamente, wenn die Sets ausgetauscht wurden.
Pernille hatte keine Zeit, ihre Theorie zu überprüfen, denn inzwischen war die anfangs so ruhige Schicht sehr turbulent geworden. Eine neue Patientin wurde in die Abteilung gebracht. Sie wand sich auf dem weißen Laken, schwitzte und jammerte laut, als sie den Flur hinuntergeschoben wurde. Es war deutlich zu sehen, dass die starken Schmerzen vom Bauch ausgingen.
Die junge Frau wurde in eines von Pernilles Zimmern gebracht. Pernille rief den Arzt an und erhielt die Erlaubnis, der Patientin schmerzstillende Medikamente zu geben. Vielleicht war es zu einem Loch im Gallengang gekommen, nachdem der Frau kürzlich ein Gallenstein entfernt worden war. Sie bekam Morphin. Hohe Dosen. Doch das half nicht, deshalb wollten sie es stattdessen mit Pethidin versuchen – einem starken schmerzstillenden Medikament, das an Morphin erinnerte, aber in der Notaufnahme nur selten verwendet wurde und daher im Medikamentenraum von Akut 3 nicht auf Lager war. Pernille bat Christina, das Medikament von der Intensivstation zu holen. Das tat sie ganz bewusst. Pernille wollte das Zimmer nicht verlassen. Sie war überzeugt, dass Christina heute Abend den Patienten etwas angetan hatte. Und in diesem Bett lag jetzt ein junger Mensch, den sie nicht anrühren sollte.
Die Krankenschwester kann mit einer Spritze zurück. Pernille nahm sie entgegen.
„Danke.“ Doch dann kam ihr ein Gedanke: Wie konnte sie sicher sein, dass das Medikament, das sich jetzt als durchsichtige anonyme Flüssigkeit in der Spritze befand, auch das richtige war? Pernille betrachtete die Spritze. Traute sie sich, den Kolben herunterzudrücken? In einer normalen Situation mit irgendeiner anderen Kollegen hätte sie nie darüber nachgedacht. Pernilles Hände zitterten. Bisher war es ihr gelungen, so zu tun, als wäre nichts, wenn sie mit Christina in einem Zimmer gestanden und gesprochen hatte. Doch jetzt verspürte Pernille den Drang, diese fremde Frau im Bett vor ihr zu schützen. Sie hatte Angst, dass der Patientin nach der Aufnahme im Krankenhaus etwas passieren würde.
Einerseits wollte Pernille dem sofort Einhalt gebieten. Sie wollte sagen: „Diese Frau darfst du nicht anfassen.“ Andererseits hatte Pernille immer noch keinen konkreten Beweis gegen Christina. Sie war von ihrer Schuld überzeugt. Doch bisher hatte sie sie noch nichts tun sehen, was nicht zu vertreten gewesen wäre. Alles, was sie an Beweisen gegen ihre Kollegin hatte, ließ sich auf einen kleinen, kaum sichtbaren Rest weiße Flüssigkeit in einem Infusionsschlauch reduzieren, der im Spülraum lag. Reichte das aus? Reichte es aus, um sie aufzuhalten? Entschied sich Pernille, der Patientin nicht die Spritze mit dem benötigten Medikament zu geben, würde sie damit wahrscheinlich Aufmerksamkeit erregen. Was sollte Pernille dem Arzt sagen, wenn er sie fragte, warum sie das Medikament nicht verabreichen wollte, das verordnet und geholt worden war? Drohte der Plan, Christina nicht misstrauisch zu machen, zu scheitern? Pernille verspürte das starke Bedürfnis, Niels zu sehen. Sich wieder als Team zu fühlen. Ihn zu fragen: Bin ich verrückt geworden?
Wortlos und ruhig drückte sie den Kolben herunter.
Es dauerte nicht lange, bis die Patientin ruhiger wurde. Es ging ihr besser. Und bald war es auch in der Abteilung ruhiger.