Читать книгу Die Krankenschwester ‒ der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark - Kristian Corfixen - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеDas Krankenhaus Nykøbing Falster liegt als kleinstes Krankenhaus der Region Seeland in einer Ecke der dänischen Landkarte, in der die Menschen statistisch gesehen überdurchschnittlich häufig krank sind.
Wenn man Ärzte, die auch an anderen Orten gearbeitet haben, nach dem ersten fragt, das ihnen in dem Provinzkrankenhaus aufgefallen ist, antworten sie meist: In Nykøbing Falster sieht man viele Patienten mit mehr als einer Diagnose. Patienten, die sozial gefährdet sind und mit erheblich mehr Problemen zu kämpfen haben als nur denen, die in einem Krankenhausbett behandelt werden können. Patienten, die als krasses Beispiel dafür dienen können, was passiert, wenn man seine Beschwerden zu lange ignoriert. Es sind in der Regel „schwerere Fälle“, wie man sie im südlichsten Krankenhaus des Landes nennt. Solche Patienten sind auf Lolland besonders überrepräsentiert.
In der flachen Landschaft von Dänemarks viertgrößter Insel stehen die günstigsten Quadratmeter zum Verkauf. Dies hat in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass Lolland zu einer Art Endstation für viele geworden ist, die es sich nicht leisten können, woanders zu wohnen. Medienberichten zufolge wurde diese Entwicklung von den Gemeinden rund um Kopenhagen gefördert. Man fand heraus, dass die Sachbearbeiter der dortigen Behörden häufig auf Lolland als Umzugsziel verweisen, wenn ein Kunde behauptet, er könne sich die Miete nicht mehr leisten. So ist die Insel zu einem Ort geworden, an den die reicheren Gemeinden benachteiligte Familien „abschieben“. So jedenfalls drückte es ein frustrierter linker Stadtrat aus, als er und seine Kollegen im Rathaus von Nakskov vor ein paar Jahren aufdeckten, was die Gemeinden der Hauptstadtregion trieben.
Seit den 1990er-Jahren sind außerordentlich viele Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose über die Brücken nach Lolland gekommen, während junge Menschen und wohlhabende Familien in die Gegenrichtung strömten. Und in der Folge hält Lolland jetzt den dänischen Rekord bei Zwangsräumungen und Jugendarbeitslosigkeit und hat den höchsten Anteil an Sozialhilfeempfängern. Wenn es um ungesunde Lebensweise geht, steht die Inselgemeinde ebenfalls an der Spitze der Statistik, in der niemand Spitzenreiter sein möchte. Die neuesten Zahlen kamen 2017 heraus, als die dänische Gesundheitsbehörde ihren großen Bericht über Gesundheit, Krankheit und Wohlbefinden der Dänen veröffentlichte. Wieder wurde Lolland mit einer Reihe neuer trauriger Zahlen konfrontiert. Dem Bericht zufolge hat Lolland den höchsten Anteil an Menschen, die die Mindestempfehlungen für körperliche Aktivität nicht erfüllen. Hier leben die meisten Menschen, die selten oder vielleicht nie Kontakt zu Freunden haben. Lolland hat den höchsten Anteil an stark übergewichtigen Menschen. Die meisten Raucher. Nicht zu vergessen diejenigen, die Diabetes, Rücken- oder Lendenwirbelschmerzen haben oder an einer chronischen Erkrankung leiden. Hier ist Lolland in allen Kategorien unter den Top 3.
Im Rathaus ist man es leid, dass die Inselgemeinde nur mit Problemen in Verbindung gebracht wird, genauso wie in der Gemeinde Guldborgsund, wo fast die Hälfte der Patienten des Krankenhauses Nykøbing Falster leben. Und auch im Krankenhaus sieht man das so.
Fragt man beim Krankenhausmanagement nach Dingen, auf die man stolz ist, antwortet die Büroleitung mit des Managements folgenden sechs Punkten: ein „schönes neues Gebäude“, das kürzlich eingeweiht wurde, eine „gut funktionierende Notaufnahme“ und die Tatsache, dass das Krankenhaus in den sogenannten „klinischen Qualitätsdatenbanken“ in mehreren Bereichen „gut abschneidet“. Die Kinderstation wird von den Patienten gelobt. Und dann die letzten beiden Punkte auf ihrer Liste: Seit Kurzem gibt es Doktoranden im Krankenhaus, und junge Ärzte und Studierende der Universität Kopenhagen bewerten die Ausbildung als grundsätzlich „sehr gut“.
Die tausendvierhundert Beschäftigten können sich zudem rühmen, dass ihr Arbeitsplatz am Stadtrand von Nykøbing Falster immer wieder als Eckpfeiler der Gesellschaft hervorgehoben wird. Für insgesamt hundertfünfzigtausend Menschen ist das Krankenhaus auf Falster die Anlaufstelle, wenn sie krank werden. Und wenn es das Krankenhaus mit seinen zweihundertsiebzig Betten nicht gäbe, wäre die nächste Alternative weit weg. In der Tat hat kein anderes Krankenhaus in der Region Seeland Patienten aus einem so großen geografischen Gebiet zu versorgen wie das kleinste Krankenhaus der Region. Aber egal, wie viel Gutes die Ärzte und Pflegekräfte und all die anderen Mitarbeiter jeden Tag tun, es ist, als ob sich die Leute immer nur an die schlechten Geschichten über das Krankenhaus Nykøbing Falster erinnern. Mehrmals wurde es zu einem der Orte im Land gewählt, an denen mehr Patienten sterben als erwartet. Im Jahr 2010 setzte die Zeitung B.T. das Krankenhaus Nykøbing Falster auf den zweiten Platz auf der Liste der „tödlichsten Krankenhäuser Dänemarks“. Zwei Jahre später vergab Ekstra Bladet den Titel „Dänemarks schlechtestes Krankenhaus“. Und dann gibt es noch die Berichte aus dem Jahr 2016, in denen es hieß, die Region habe die Operationen in der Abdominalchirurgie des Krankenhauses einstellen müssen, weil es zu viele schwerwiegende Fehler gab. So etwas war schlecht fürs Renommee. Wieder eine dieser Geschichten, die den Direktor des Krankenhauses dazu veranlassten, sich an die Medien zu wenden und zu versichern, die Patienten könnten sich gefahrlos zur Behandlung ins Krankenhaus Nykøbing Falster begeben. Nicht zum ersten Mal, und seither hatte er sich noch mehrere Male zu so einem Schritt gezwungen gesehen. Jedes Mal zulasten des Selbstbewusstseins des kleinen Krankenhauses.
Ein weiteres Problem im Krankenhaus Nykøbing Falster ist die Personalbeschaffung. Sicher, da ist die Schule für Gesundheits- und Krankenpflege am anderen Ende der Stadt, die wie ein Magnet wirkt und jedes Jahr einen neuen Jahrgang Pflegepersonal hervorbringt, das in erster Linie aus der näheren Umgebung kommt. Aber bei ärztlichem Personal ist die Sache komplizierter.
Wenn unter den angehenden Ärzten ausgelost wird, wo im Land sie ihr praktisches Jahr ableisten, bevor sie auf den Arbeitsmarkt losgelassen werden, gehört das Krankenhaus Nykøbing Falster meist zu den unbeliebtesten Häusern in der Region Seeland. Und wenn sie dann bereit für eine Festanstellung sind, richten zu wenige von ihnen ihr Augenmerk auf den Süden. Das Krankenhaus Nykøbing Falster muss daher oft auf Aushilfskräfte zurückgreifen oder ausländische Ärzte anwerben, um einen funktionierenden Dienstplan zu gewährleisten. Dieses Problem wurde oft als Erklärungsansatz dafür herangezogen, warum es in der Chirurgie des Krankenhauses so viele Fehler gegeben hatte.
Es trägt nicht gerade zur Attraktivität des Krankenhauses Nykøbing Falster bei, da es in der Region das Haus mit den wenigsten Spezialisierungen ist. Das Personal wird jedes Mal aufs Neue daran erinnert, wenn es Patienten an andere Krankenhäuser überweist, sobald sie ein komplexeres Krankheitsbild aufweisen. Eine Ausnahme sind allerdings Herzerkrankungen – denn derzeit arbeitet der anerkannte Herzspezialist Peer Grande am Krankenhaus Nykøbing Falster. Vor ein paar Jahren ist es der Krankenhausleitung gelungen, ihn und einige andere prominente Namen vom Kopenhagener Rigshospitalet anzulocken. Auf den ersten Blick ein großer Erfolg für die Region Seeland, würde man die Tatsache ausblenden, dass die Herzspezialisten den Weg in den Süden erst ins Auge fassten, nachdem sie vom Rigshospitalet wegen Unterschlagung und des Missbrauchs von Forschungsmitteln gefeuert und angezeigt worden waren. Peer Grande wurde berühmt als der Arzt, der über zwei Millionen Kronen, die für die Forschung bestimmt waren, unter anderem für private Reisen, Rolex-Uhren und Restaurantbesuche ausgegeben hat.
Das Krankenhaus Nykøbing Falster hat in den letzten Jahren mit verschiedenen Maßnahmen versucht, es zu einem attraktiven Arbeitsplatz für Ärzte zu machen. So wurden zum Beispiel mehrere feste Busse eingerichtet, die die Ärzte zu einem günstigen Festpreis aus Kopenhagen zum Bezirkskrankenhaus bringen, das Ganze unter dem Slogan ‚Zur Arbeit fahren – wie im Schlaf‘. Es wurde ein Personalhotel für diejenigen eingerichtet, die ein paar Nächte bleiben wollten, und die Krankenhausleitung hatte sogar genug Geld aufgetrieben, um die Kantine abends öffnen zu können. Doch obwohl die Stellenausschreibungen konsequent die „Aussicht über den naturschönen Guldborg Sund“ betonten, und obwohl die Website zur Kampagne „Auf, in den Süden“ damit lockt, dass die Patienten aufgrund der „besonderen demografischen Ausgangslage Mehrfachdiagnosen und komplexe Problemstellungen aufweisen, die Sie an anderen Orten des Landes nicht so häufig sehen“, und obwohl das Krankenhaus erklärt, dass es für die Bürger in dieser besonderen Ecke des Landes „eine besonders wichtige Rolle“ spielt, weil „die Entfernung zu anderen Behandlungsmöglichkeiten eine große Herausforderung darstellt“, ist es immer noch nicht gelungen, die Rekrutierungsprobleme zu lösen.
Diese Probleme bestanden bereits, als die junge Krankenschwester Christina Aistrup Hansen 2009 eingestellt wurde. Schon bevor Christina ihre Bachelor-Arbeit geschrieben hatte, wurde sie auf Station M130 eingesetzt. Und kurz darauf versprach ihr Chef, es gebe eine Stelle für sie, sobald sie ihr Abschlusszeugnis vorlegen konnten. Und so bekam sie ihren ersten Job als Krankenschwester am Krankenhaus Nykøbing Falster in dem Sommer, in dem sie als Vierundzwanzigjährige ihre Ausbildung abschloss.
Dieser Ort war ganz anders als die Häuser, in denen sie Praktika absolviert hatte. Der Personalmangel zeigte sich überall. Auch auf Station M130, wo er dazu führte, dass man schneller mehr Verantwortung bekam und als frisch ausgebildete Krankenschwester mehr Dinge selbstständig tun durfte. Christina war nicht von hier. Sie hatte an der Pflegeschule in Herlev studiert und als Studentin am Krankenhaus Herlev gearbeitet. Im Vergleich dazu wirkte das Krankenhaus-Nykøbing-Falster unheimlich klein. Nicht nur, weil es nur etwa zwölf Minuten dauerte, den gesamten Komplex zu umrunden. Christina musste sich auch daran gewöhnen, dass hier alles so klein war, dass sich offensichtlich alle kannten. Wenn man im Krankenhaus Herlev mit dem höchsten Hochhaus des Landes den Aufzug nahm, verbrachte man die Fahrt in der Regel mit Menschen, die man nie zuvor gesehen hatte. In den Aufzügen im Krankenhaus Nykøbing Falster war das nie so.
Christina hatte bald Freundschaften auf Station M130 geschlossen. Und die Arbeit machte ihr Spaß. Sie erfuhr Wertschätzung von ihrem Chef und wurde für ihre Sachkenntnis gelobt. Auch von den Ärzten, denen die Krankenschwester mit dem dunklen Haar auffiel, die im Krankenhaus dafür bekannt war, ehrgeizig und sehr engagiert zu sein. Doch Christina war nicht bei allen gleichermaßen beliebt. Als sie etwa zwei Jahre auf Station M130 gearbeitet hatte, fing sie an, Aufsehen zu erregen. Mehrere jüngere Pflegekräfte auf der Station äußerten, sie nicht leiden zu können. Plötzlich wollten einige von ihnen nicht mehr mit Christina arbeiten. Sie fühlten sich in ihrer Gegenwart unbehaglich, erklärten sie ihrem Chef. Sie hatte „irgendetwas“ an sich, sagten sie.
Als Christina etwas über drei Jahre auf Station M130 angestellt war, entschied sie sich für einen Neuanfang. Sie bewarb sich um eine Stelle in der Notaufnahme im Erdgeschoss. Dort bekam sie den Job, von dem sie seit Langem annahm, dass sie darin richtig gut sein würde. Und das war sie. Wieder bekam sie Lob. Wieder von den Ärzten, die gerne mit der Krankenschwester arbeiteten. Bis es schiefging.
*
Im Krankenhaus-Nykøbing Falster besteht die Notaufnahme im Erdgeschoss aus einer lang gezogenen Abteilung, die an den großen Schiebetüren endet, durch die der Rettungsdienst die neuen Patienten auf Fahrtragen hereinbringt.
Man nennt sie die längste Notaufnahme Dänemarks. Das Rückgrat bildet ein langer, gerader, mit Linoleum ausgelegter Gang mit breiten Türen auf beiden Seiten, der in drei Teilabschnitte untergliedert ist. Sie heißen Akut 1, Akut 2 und Akut 3. Drei Abteilungen, die nicht durch Türen getrennt sind und wo die Räume sich dicht an dicht entlang des breiten, von Leuchtstoffröhren erhellten Ganges drängen. Täglich bewegen sich hier rund hundert Angestellte. Der Gang scheint beinahe ins Unendliche zu führen, wenn es hier vor weißen Kitteln, Betten und Geräten nur so wimmelt und man nicht sehen kann, wo der Gang eigentlich endet.
Der erste Abschnitt ist Akut 1. Hier werden die Patienten in Empfang genommen, und hier werden in den Räumen gleich neben dem Wartezimmer Finger genäht, Beine eingegipst und Wunden versorgt. In Akut 1 befindet sich nämlich die Notfallstation. Durch die mattierten Glasschiebetüren werden aus den Krankenwagen die ernsteren Fälle hereingebracht: Unfallopfer, Herzpatienten, Menschen mit Thrombosen, Raucherlungen und anderen lebensbedrohlichen Zuständen.
In Akut 1 werden den neuen bettlägerigen Patienten zunächst gemäß dem Krankenhaussystem Farben zugewiesen, abhängig davon, wie ernst ihr Zustand ist. Das übernimmt eine Krankenschwester, die speziell darin ausgebildet ist, eine schnelle Beurteilung des Zustands der Person vorzunehmen. Die Patienten erhalten die Farbe Rot, wenn ihre Situation lebensbedrohlich zu sein scheint und sofort ein Arzt hinzugerufen werden muss. Orange bedeutet weniger eilig, Gelb noch weniger. Grün bedeutet kaum akut. Nachdem die Farbe in die Patientenakte eingetragen wurde, werden die Patienten zu den Räumen in den Aufnahmestationen Akut 2 oder Akut 3 gebracht – es sei denn, es handelt sich um einen kritischen Fall, der direkt in einem Schockraum behandelt werden muss.
Die beiden Abteilungen verfügen jeweils über sechzehn Betten. Pro Tag rollen die Krankenträger nicht selten fünfzig bis achtzig neue Patienten herein, die in ein Zimmer aufgenommen werden müssen. Das lässt sich nur bewerkstelligen, weil die Patienten in der Notaufnahme nur sehr wenig Zeit verbringen, bis sie an eine andere Station im Krankenhaus weitergeleitet werden. Hier liegen sie allerhöchstens achtundvierzig Stunden, dann müssen sie entweder verlegt oder entlassen werden. In der Notaufnahme sollte man daher nur arbeiten, wenn man kein Problem damit hat, ständig neue Gesichter zu sehen. Doch genau das zieht einige Pflegekräfte und ärztliches Personal am geschäftigsten aller Krankenhausgänge so an. Man nennt die Notaufnahme auch „Einbahnstraße“, weil die Patienten nie hierher verlegt werden, sondern mit Krankenwagen gebracht werden und sich dann in einem stetigen Fluss durch die Teilabschnitte zu den anderen Abteilungen des Krankenhauses bewegen. Hier ist Tempo angesagt. Hier geht es darum, die Patienten schnell zu stabilisieren und unter Kontrolle zu bringen. Ärzte und Pflegekräfte in den Abteilungen Akut 2 und Akut 3 leisten vor allem Detektivarbeit, denn hier geht es darum herauszufinden, was dem Patienten fehlt, der gerade angekommen ist.
Oberarzt Niels Lundén liebte es, hier in der Notaufnahme „diagnostische Nüsse“ zu knacken. Er war einer der Ärzte, die sich damit abgefunden hatten, dass die Stellenbezeichnung ‚Arzt in der Notaufnahme‘ nicht gerade die prestigeträchtigste war. Doch Niels hatte nie die Flure der besseren Stationen als Ziel gehabt. Im Gegenteil: Schon immer hatte er sich von den Geschehnissen im Erdgeschoss angezogen gefühlt, wo die Krankenwagen direkt vor der Tür hielten. Eben diese Detektivarbeit. Und das Adrenalin. Situationen, die ganz plötzlich außer Kontrolle geraten konnten, in denen man schnell denken und beweisen musste, dass man tatsächlich in der Lage war, das Instrument namens Fachkenntnis zu spielen. Natürlich wusste er, dass es in den Ohren anderer möglicherweise morbide klang, doch Niels war froh darüber, dass er einen Job hatte, bei dem er die meiste Zeit mit den Patienten verbringen konnte, denen es am schlechtesten ging. Den sogenannten „roten“ und „orangenen“ Patienten. Die Tage, an denen besonderes viele davon hereinkamen, waren die besten. Oder wenn es einen Herzalarm gab. Dann spürte Niels, dass er tatsächlich etwas bewirken konnte. Wenn es nach ihm ging, konnte das gerne passieren, während er Dienst hatte.
Als er 2009 als Einundvierzigjähriger seine Stelle in der Notaufnahme am Krankenhaus Nykøbing Falster antrat, war er in den ersten Jahren häufig der einzige fest für die Station eingeteilte Arzt. Niels fand sich auf dem langen Gang schnell zurecht. Er war noch nie einer dieser Ärzte gewesen, die großen Gefallen daran fanden, sich in Fachbücher zu vertiefen oder über tropische Infektionskrankheiten zu diskutieren. Das war schon im Medizinstudium so gewesen, für das er sich erst richtig begeistern konnte, als alles etwas praktischer wurde. Niels verbrachte einige Jahre als Allgemeinmediziner, bis er im Provinzkrankenhaus eine Vertretungsstelle übernehmen konnte. Schließlich wurde er in der Notaufnahme angestellt und fand in der Tätigkeit dort seine Berufung. Denn hier unten ging es nur um die Praxis und nicht um das ganze Gerede. Und hier unten war er erfolgreich, was auch damit zu tun hatte, dass erst später festgelegt wurde, dass Ärzte eine spezielle Ausbildung haben mussten, um in der Notaufnahme zu arbeiten – in Niels’ erstem Jahr in der Abteilung war dies also noch kein Fachgebiet. So kam es, dass er mit seiner Vollzeitstelle schnell einer der Fähigsten auf seinem Gebiet wurde, einem Gebiet, in das andere Ärzte nur kurz hineinschnupperten, wenn sie aus einem der vielen anderen Gänge des Krankenhauses ins Erdgeschoss gerufen wurden.
Dass der heutige Oberarzt nach Nykøbing Falster zog, hatte er einem Zufall zu verdanken. Das Los hatte entschieden. Damals lebte er gerne in Kopenhagen, wo er an der Universität Medizin studierte. Aber das Rotationssystem, über das Medizinabsolventen ihren Pflichtdienst in einem Krankenhaus ableisten müssen, schickte Niels in das kleine Krankenhaus im Süden.
Ein paar Jahre später traf er eine Frau, die die Mutter seiner Kinder wurde und ihn dazu brachte zu bleiben. Die Beziehung scheiterte, doch kurz nachdem er in der Notaufnahme fest angestellt worden war, traf er Pernille. Anfangs hatte es ein wenig Chaos gegeben, weil Niels davon ausgegangen war, sie sei eine neue Krankenschwester. Doch dann stellte sich heraus, dass sie noch studierte und wegen eines Praktikums da war. Auch der Altersunterschied zwischen ihnen von mehr als zwanzig Jahren war problematisch. Zunächst hielten sie ihre Beziehung im Krankenhaus geheim, gaben sie aber nicht auf. Pernille mochte den Oberarzt, der zwar schon grauhaarig war, aber manchmal so kindisch sein konnte, wie sie lächelnd erzählte, wenn sie ihre Wahl gegenüber ihren Freundinnen verteidigte. Und schließlich entschieden Pernille und Niels, sich nicht mehr darum zu kümmern, was die Leute dachten. Sie machten ihre Beziehung offiziell. Und kauften ein großes Haus auf Lolland, inmitten der Felder etwas außerhalb der Stadt Maribo. Es war ein Ort mit reichlich Platz für Übernachtungsgäste, die Kinder aus erster Ehe – Pernille hatte ein Kind mit dem Mann, für den sie seinerzeit von Odense nach Lolland gezogen war – und für den Sohn, den sie bald darauf zusammen bekamen.
Mit ihrer gerade gegründeten Familie blickten Niels und Pernille einer glücklichen, sorglosen Zukunft entgegen. Das galt auch für das Krankenhaus, wo Pernille eine Festanstellung antrat, sobald sie ihre Zulassung als Krankenschwester in der Tasche hatte.
Als die Krankenschwester Christina Aistrup Hansen in der Notaufnahme anfing, stellte Niels Lundén als Erstes fest, dass sie ziemlich hübsch war. Langes Haar, tiefschwarz gefärbt. Immer reichlich Mascara aufgelegt. Ein bisschen fülliger, Kurven, die man nicht übersehen konnte. Sie war fleißig und schien auch kompetent zu sein. Und sie fügte sich offenbar leicht in die Gruppe der anderen Krankenschwestern in der Abteilung ein.
Christina war sehr engagiert. Sie erschien konsequent eine Viertel- oder halbe Stunde vor Schichtbeginn im Krankenhaus. Und wenn sie freihatte, war es nicht unüblich, dass sie die Kollegen anrief, um zu fragen, wie es diesem oder jenem Patienten ging.
Es war deutlich zu merken, dass vor allem die „roten“ Patienten Christinas ganze Aufmerksamkeit bekamen. Also diejenigen, die gemäß der bei der Aufnahme durchgeführten Beurteilung in einem besonders schlechten Zustand waren. Christina wollte gerne in der Nähe dieser Patienten sein. Sie wollte nah dran sein, wenn etwas mit ihnen passierte. Und es gelang ihr kaum, das zu verbergen. Einige Kollegen fanden ihr Verhalten unpassend, zum Beispiel wenn die Krankenschwester den Gang hinauf zu Akut 2 ging, um zu fragen, ob sie dort Patienten in einem schlechten Zustand hätten. Andererseits war Christina eine gute Krankenschwester, und man hatte sie gerne dabei, wenn akute Situationen eintraten und das Personal schnell agieren musste. In diesem Punkt schienen sich alle einig zu sein: Sie war eine gute Krankenschwester. Auch wenn es geteilte Ansichten zu Christinas etwas spezieller Art gab, es zu zeigen.
Die Pflegedienstleistung auf Station M130 war so von Christinas Fähigkeiten angetan gewesen, dass sie sie für die Arbeit in der Notaufnahme nur beurlaubt hatte. So sollte die junge Krankenschwester zurückkehren können, falls sich herausstellen sollte, dass diese Station doch nichts für sie war. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Arbeit dort war etwas völlig anderes als auf Station M130, wo die Patienten gut und gerne vier oder sechs Wochen am Stück liegen konnten, ohne dass etwas passierte. In der Notaufnahme erlebte Christina wieder das Tempo, das sie aus Herlev kannte. Der Gedanke an eine Rückkehr auf M130 rückte in immer weitere Ferne, je mehr Patienten Tag für Tag durch den langen Gang geschoben und in die verschiedenen Räume der Notaufnahme gebracht wurden.
Pernille fing in der Notaufnahme an, als Christina dort schon etwas mehr als anderthalb Jahre gearbeitet hatte. Vom ersten Tag an erlebte Pernille das, was bereits viele vor ihr an Christina bemerkt hatten: Die Krankenschwester hatte ein Talent dafür, sich der Neuen in der Abteilung anzunehmen und zu unterstützen, wenn man etwas brauchte oder nach etwas suchte. Christina, die nun schon seit fast fünf Jahren im Krankenhaus arbeitete, war sehr zuvorkommend und hilfsbereit, auch Pernille gegenüber.
Die siebenundzwanzigjährige Pernille hatte vier Monate zuvor ihr Abschlusszeugnis erhalten und bisher auf Station M130 gearbeitet. Dort oben hatte sie gehört, wie die Kollegen über Christina sprachen. Doch sie hatten selbst nie richtig miteinander geredet, bis sie beide zum ersten Mal zusammen im Dienstplan der Notaufnahme standen. Anfangs fand Pernille Christina sehr nett. Aber sie war auch sehr speziell. Sie war keine der Krankenschwestern, die sprichwörtlich mit den weißen Wänden verschmolzen. Im Gegenteil. Mit ihrem schwarzen Haar, dem starken Augen-Make-up und den häufig recht eng sitzenden Pullovern unter dem Kittel stach sie hervor, sodass die Krankenträger ihr nachschauten, wenn sie ein weiteres Bett durch die Abteilung schoben.
Unter den Krankenschwestern war Christina vor allem für ihre Geschichten bekannt. Sie konnte eigentlich immer über einen spektakulären Fall bei ihren Patienten berichten. Krankheitsverläufe, die sich plötzlich dramatisch entwickelt hatten, bei denen sie aber trotzdem in der Lage gewesen war, die Situation unter Kontrolle zu bringen, oder bei denen sie mit ihrer Fachkompetenz hatte brillieren können. Wenn Christina im Personalraum von ihrer Schicht erzählte, geschah das in der Regel ausmalend und mit einer besonderen Erzählerstimme. Und fast immer gab es jemanden, der kommentierte, wie viel „Pech Christina doch hatte“. Denn das hatte sie. Ganz häufig kam es ausgerechnet in ihren Schichten zu diesen besonders hektischen, lebensbedrohlichen Situationen. Pernille erlebte das regelmäßig aus nächster Nähe.
Die beiden Krankenschwestern hatten häufig Nachtschichten zusammen. Sie wurden schnell zu einem eingespielten Team, das abends ins Krankenhaus kam und gemeinsam mit einer Sozial- und Gesundheitsassistentin die Verantwortung für Akut 3 übernahm, wenn die Abteilung am sparsamsten besetzt war. Normalerweise ging der Dienst von 19:00 bis 7:00 Uhr. Morgens bei der Übergabe an die Tagschicht war Pernille häufig im Personalraum. Und mit der Zeit fiel ihr auf, dass Christinas Geschichten, gleich welchen Inhalts, eigentlich immer nur von einem handelten: von ihr selbst. Nicht die Patienten, denen es schlecht ging, standen im Mittelpunkt, sondern vielmehr Christina und wie sie herausgefunden hatte, was nicht stimmte, und was sie in der Situation getan hatte.
Pernille hatte den Eindruck, dass auch einige der Kolleginnen Christina verdächtigten, ihre Geschichten so sehr zu dramatisieren, dass sie am Ende nicht mehr viel mit dem zu tun hatten, was die Patienten tatsächlich erlebt hatten. Doch wenn Pernille ein Lächeln im Mundwinkel einer Kollegin als Anzeichen dafür deutete, dass diese vielleicht das Gleiche dachte, kam es häufig vor, dass diejenige plötzlich sagte: „Christina ist einfach unheimlich gut.“ Dann fühlte Pernille sich wieder allein mit ihrem Verdacht. Sie konfrontierte Christina nie damit. Da die anderen Christinas Geschichten nur so in sich aufsogen, war eine solche Konfrontation offenbar nicht üblich.
In der Notaufnahme und generell im Krankenhaus ist Galgenhumor beim Personal nichts Ungewöhnliches. Ein Jargon, den man als Außenstehender wohl als unpassend empfunden hätte, wenn man am Personalraum vorbeigegangen wäre und gehört hätte, wie das Pflegepersonal manchmal über Tod, Krankheiten und die Menschen sprach, die in den Zimmern lagen. Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, führen meist als Erklärung an, diese Sprache sei Ausdruck einer Art Überlebensmechanismus für das Personal, das jeden Tag mit Krankheiten und Tod zu tun hat und nur aus diesem Anlass mit den Kollegen zusammen ist. Ein Schutzwall gegen die unerträglichen Situationen, die die Angehörigen der Patienten in geringen Dosen erleben, wenn sie im Krankenhaus zu Besuch sind, denen die Angestellten jedoch jeden Tag ausgesetzt sind ‒ jedenfalls an einem Ort wie der Notaufnahme.
In Bezug auf den Galgenhumor sprachen die beiden Krankenschwestern Pernille und Christina in derselben Tonart. Mit demselben Jargon. Ping-Pong. Wenn Pernille heute an die Art und Weise zurückdenkt, in der sie damals mit Christina kommunizierte, fallen ihr vor allem zwei Wörter ein. Und sie denkt: „Badum tisch!“ Es ist das Geräusch eines Schlagzeugs, das die Pointe eines Witzes betont. Darin waren die beiden sehr gut, denn sobald sie ihre weißen Kittel anzogen, waren sie sich nicht zu schade dafür, platte Witze zu reißen, bis man vergessen hatte, dass die Nachtschicht zwölf Stunden gedauert hatte.
Auch wenn die beiden Krankenschwestern gute Kolleginnen wurden, waren sie nie wirklich eng befreundet. Sie schrieben einander SMS, doch darin ging es normalerweise um Patienten in der Abteilung, über die die eine Kollegin die andere nach Feierabend auf den neuesten Stand bringen wollte, weil sie etwas Neues erfahren hatte. Hatten beide zusammen Dienst in Akut 3, nahm Pernille Christina manchmal in ihrem kleinen schwarzen Peugeot 107 mit. Aber das war es auch schon. In der Freizeit trafen sie sich nicht.
Christina hatte etwas an sich. Etwas, das Pernille nur schwer erklären konnte, das aber zu einem zunehmenden Vorbehalt gegenüber ihrer Kollegin führte. Anfangs lag das nur daran, dass Pernille das Gefühl hatte, die kleinen Notlügen von Christina immer besser zu durchschauen, je mehr Erfahrung sie selbst als Krankenschwester hatte. Es machte Pernille wütend, dass ihre Kollegin offenbar alles tat, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Trotzdem war es immer noch in Ordnung für sie, mit Christina zusammen zur Arbeit zu fahren.
Bis Pernille plötzlich diesen Verdacht hatte.
Das erste Mal kam er ihr, als sie etwas mehr als neun Monate in der Abteilung gearbeitet hatte. Als er ihr zum ersten Mal durch den Kopf schoss, war der Verdacht allein so schrecklich, dass Pernille keine Ahnung hatte, wie sie damit umgehen sollte.
*
Zum ersten Mal kam ihr der Verdacht an einem Wochenende Mitte Februar 2015. Pernille musste Freitag, Samstag und Sonntag arbeiten. Dieses Mal in der Abteilung Akut 2. Auch Christina stand im Dienstplan, doch ausnahmsweise würden die beiden Krankenschwestern nacheinander arbeiten: Pernille von 7:00 bis 19:00 Uhr, Christina zusammen mit einer anderen Krankenschwester in der Nachtschicht ab 19:00 Uhr.
An diesem Wochenende gab es mehrere Patienten in Akut 2 mit einem plötzlichen Atemstillstand.
Eine davon war eine ältere Dame, die völlig abwesend und benommen in die Abteilung gebracht und in Zimmer 21 aufgenommen worden war. Pernille konnte anhand ihrer Blutwerte sehen, wie schlecht es um sie stand. Sie waren völlig durcheinander. Doch im Laufe der Schicht gelang es dem Personal, die Patientin zu stabilisieren. Und die Blutproben, die die Krankenschwestern danach in halbstündigen Intervallen nehmen mussten, zeigten, dass es ihr immer besser ging. Eine halbe Stunde, bevor Pernille nach Hause ging, nahm sie die letzte Probe. Sie ergab, dass die Patientin nun offiziell „stabil“ war, und das berichtete Pernille Christina, als die Kolleginnen sich zur Übergabe trafen.
Zwölf Stunden später, als Pernille wieder zur Schicht kam, war die Patientin auf die Intensivstation gebracht worden. Christina berichte, dass sie plötzlich aufgehört hatte zu atmen. Pernille konnte das kaum glauben, doch sie erlebte so etwas an diesem Wochenende noch mehrere Male: Pernille übergab einen Patienten oder eine Patientin in dem Glauben, dass er oder sie auf dem Weg der Besserung war, doch nach dem Schichtwechsel ging es ihm oder ihr plötzlich schlechter.
Da gab es diesen Patienten, der regelrecht panisch eingeliefert wurde, weil er glaubte, die Schmerzen in seiner Brust seien ein Anzeichen dafür, dass sein Herz wieder einmal nicht richtig schlug. Nachdem er an die Überwachungsgeräte in der Abteilung angeschlossen worden war, konnte ihn das Personal glücklicherweise beruhigen, dass alles in Ordnung war. Bis zum Schichtwechsel. Dann begann sein Herz zu rasen, und er wurde auf die Herzstation gebracht.
Da gab es diesen Patienten, der eingeliefert wurde, weil eine bestehende Infektion in seinem einem Bein jetzt so fortgeschritten war, dass sie ihn lethargisch machte. Das Bein war praktisch weggefault. Doch der Mann in den Siebzigern weigerte sich, das Bein amputieren zu lassen, obwohl es seine einzige Option war, um gesund zu werden. Höchstwahrscheinlich würde ihn seine Sturheit irgendwann umbringen. Irgendwann. Das war Pernilles Einschätzung, als sie den Patienten aufnahm und ihm und seinen Angehörigen erklärte, sie würden Flüssigkeit gegen die Dehydrierung geben und Antibiotika gegen die Infektion. Doch diese Behandlung würde die Infektion nicht heilen. Am Ende würde sie tödlich sein. Irgendwann, glaubte Pernille. Bis sie hörte, dass der Mann in einem Einzelzimmer gestorben war, nur ein paar Stunden, nachdem die Nachtschicht übernommen hatte.
Und dann gab es da noch den Patienten, der mit einer sogenannten Harnretention eingeliefert wurde, also nicht mehr Wasser lassen konnte. Und der dann während der Nacht einen Herzstillstand hatte. Eine knappe Stunde nach dem Mann mit der Infektion im Bein. Für Pernille passte das alles nicht zusammen. Sicher, in einem Krankenhaus starben Menschen. Doch in der Regel können Blutproben und teure Geräte dem Personal einen Hinweis darauf geben, wie akut der Zustand ist, sodass eine Verschlechterung zumindest Pflegekräfte und Ärzte nicht überraschen sollte. An diesem Wochenende gab es nicht nur einen überraschenden Fall. Es waren vier. An einem Wochenende.
Auch Schwester Carina war sehr betroffen, als sie nach Hause ging.
Sie hatte nachts mit Christina zusammengearbeitet. Und als Pernille am nächsten Morgen eintraf, erzählte Carina ihr, wie sie mit der älteren Dame in Zimmer 21 gesprochen hatte, kurz bevor diese leblos aufgefunden worden war. Die Krankenschwester war in das Zimmer gegangen, weil die Patientin an der Schnur gezogen hatte, die neben dem Bett hing. Die Frau berichtete Carina von starkem Harndrang, woraufhin diese ihr erklärte, dass sie einen Katheter hatte, und ihr den kleinen Schlauch zeigte, der unter der Decke der Patientin hervorkam und dafür sorgte, dass sie liegen bleiben konnte. Die Dame war mit der Antwort zufrieden gewesen und hatte sich im Bett zurücklegt. Kaum zehn Minuten später ging der Herzalarm los. Carina und Pernille standen am nächsten Morgen im Personalraum neben der Maschine, in der gerade der Kaffee für die nächste Schicht zubereitet wurde, und sahen einander an, ohne etwas zu sagen. Dann fragte Pernille: „Was macht sie mit ihnen?“
Carina antwortete nicht. Sie fragte Pernille auch nicht, wen sie meinte. Wenn Pernille den beunruhigten Blick von Carina richtig deutete, dachte diese offenbar das Gleiche.
*
Pernille spürte, dass es Christina wie etwas darstellen wollte, das sie beide gemeinsam hatten. Eine Art lustiger Zufall, dass es den Patienten immer dann besonders schlecht ging, wenn sie beide gerade arbeiteten.
Und so schien es ja auch zu sein. Es kam oft vor, dass die Patienten in den Schichten der beiden Krankenschwestern plötzlich zu Notfällen wurden. Aus den SMS, die die beiden Kolleginnen einander schrieben, geht hervor, dass sie diese Tatsache mehrmals betonten. Sie nannten es „den Fluch“.
„Dann hatten wir eine leere Gruppe, und die 200 und die ITS waren plötzlich voll … denke, es liegt ein Fluch auf uns“, schrieb Christina Pernille beispielsweise am 15. Februar 2015.
Die Nachricht war eine Stunde, nachdem Christina ihren Dienst in der Abteilung angetreten hatte und Pernille nach dem Gespräch mit Carina an der Kaffeemaschine nach Hause gegangen war, verschickt worden. ‚Leere Gruppe‘ bedeutet, dass es nun keine weiteren Patienten in den Zimmern an diesem Ende der Notaufnahme mehr gab, an dem sie zuständig waren. Und ‚200‘ und ‚ITS‘ bezeichnen die Herzstation bzw. die Intensivstation, die laut Christina jetzt „voll“ waren. Christina hatte in ihrer Nachricht noch einen blinzelnden Smiley hinzugefügt.
Pernille antwortete: „Oh, um Himmels willen! Ja, das muss wirklich ein Fluch sein.“
Kurz darauf schrieb sie eine weitere SMS an Christina: „Drücke die Daumen, dass du/ihr eine ruhige Nacht habt. Trotz des Fluchs und so. Ich falle jetzt hundemüde ins Bett.“
„Schlaf gut“, antwortete Christina und fügte hinzu:
„Wir sind ja da. Warte nur ab, morgen ist die Abteilung leer.“ Gefolgt von einem kleinen Teufel-Emoticon.
Pernille antwortete nicht. Doch am nächsten Morgen hatte sie eine neue Nachricht auf ihrem Telefon. Diese war um 5:28 Uhr eingegangen, während Christina immer noch in der Notaufnahme Dienst hatte, und enthielt ein Foto von kleinen blauen Zetteln, die mit Magneten an einer weißen Tafel befestigt waren. Die Pflegekräfte nennen sie Zehenzettel. Ein zweites Exemplar wird mit einer kleinen Schnur am rechten großen Zeh verstorbener Patienten befestigt, bevor diese in die Kühlräume gebracht werden. Für jeden Patienten, der in der Notaufnahme stirbt, wird ein weiterer kleiner Zettel an der Tafel angebracht, von der Christina mit ihrem Smartphone ein Foto gemacht hatte.
Auf dem Bild waren insgesamt vier Zettel zu sehen.
„Die Tafel nach unserem Wochenende“, schrieb Christina, als sie ihrer Kollegin das Bild schickte. Die Nachricht enthielt auch ein Symbol, das einen Engel darstellte.
Pernille wusste nicht, was sie antworten sollte.
Allmählich war ihr das alles nicht mehr geheuer.