Читать книгу Die Krankenschwester ‒ der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark - Kristian Corfixen - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеDas Bezirkskrankenhaus ragt am nördlichen Rand der Stadt Nykøbing Falster empor. Gut eine Viertelstunde zu Fuß vom Ende der Fußgängerzone entfernt liegt es mit seinen Parkplätzen und seiner roten Backsteinfassade zwischen Ligusterhecken, Einfamilien- und Reihenhäusern sowie niedrigen Wohnblöcken.
Hier draußen verursacht der Verkehr keinen Stau an den Kreuzungen, es sei denn, es ist gerade Schichtwechsel im Krankenhaus. Hier draußen gab es damals in den Fünfzigerjahren genug Platz, um das Krankenhaus bis ganz ans Wasser zu bauen. Jetzt steht es dort in der ersten Reihe und blickt mit seinen weiß gerahmten Fenstern auf sechs Etagen über den Guldborg Sund. Das Krankenhaus Nykøbing Falster ist vielleicht nicht das größte. Dafür hat es jedoch – wie sich alle gegenseitig immer wieder bestätigen, die dort liegen oder zu Besuch sind oder in der Mitarbeiterkantine in der dritten Etage ihr Frühstück einnehmen – eine großartige Aussicht.
Hat man als Patient das Glück, in dem hohen Hauptgebäude auf der richtigen Seite des Stationsganges untergebracht zu sein, kann man den Sund vom Bett aus sehen, wenn das Kopfteil hochgefahren ist. Durch das offene Fenster kann man den Wind über dem Meer gleich auf der anderen Seite der Asphaltstraße spüren. Von hier aus sieht man auch die drittgrößte dänische Insel Lolland, die auf der anderen Seite der Fahrrinne liegt – ganz grün und so nah, dass es wirklich dichten Nebel braucht, um die Insel verschwinden zu lassen. Die Patienten werden von dort, aber auch über die Brücken von Møn und der Südspitze Südseelands, hierhergebracht. Es passiert etwa sechsundzwanzigtausend Mal pro Jahr, dass ein Mensch aus Falster oder einer der umliegenden Inseln ins Krankenhaus eingeliefert wird. Bei Arne Herskov geschah es am 17. Februar 2012.
Sein jüngerer Bruder Kenny hatte dafür gesorgt, dass Arne ins Krankenhaus kam. Vielleicht hat Arne an diesem Tag das Geräusch von Kennys beigem Peugeot gehört, als dieser in seine Auffahrt fuhr. Der Bruder hatte eigentlich vorgehabt, noch ein wenig im Auto sitzen zu bleiben und Radio zu hören, denn gerade wurde das nachmittägliche Freitagsspiel übertragen. Er wollte den Rest des Spiels vom Fahrersitz aus hören, bevor er in die Februarkälte ausstieg und langsam über den Rasen zur Haustür ging, um Arne zu besuchen. Doch als Kenny den Motor abstellte, konnte er Arnes Rufen hören. Er rief im Haus um Hilfe.
Kenny fand ihn auf dem Boden des Badezimmers. Sein Bruder war gestürzt, er lag benommen und verwirrt da und konnte nicht sagen, wie lange er auf den Fliesen gelegen hatte, ohne aufstehen zu können. Er war unterkühlt. Kenny rief sofort die 112 an. Der Rettungsdienst kam schnell. Und der Peugeot war immer noch warm, als er den Schlüssel in die Zündung steckte und dem Krankenwagen folgte, der sich in westlicher Richtung über die Insel Falster bewegte. An dem Tag, als der Krankenwagen mit Arne davonfuhr, hatte sich niemand vorstellen können, dass er nie mehr in das kleine Haus im Falkevej zurückkehren würde.
Er kam nachmittags im Krankenhaus an. Unter den gerade einmal 61 kg des Patienten sank die Matratze kaum ein, als dieser in ein Bett auf der Intensivstation gelegt wurde. Arne war untergewichtig. „Mager“, notierte der Arzt in der Patientenakte. Außerdem vermerkte das Personal, dass Arne unter Flüssigkeitsmangel und niedrigem Blutdruck litt. Seine Werte deuteten auf eine Lungenentzündung hin. Der Arzt entschied, Arne solle dreimal täglich Antibiotika bekommen, um die erhöhten Infektionswerte in den Griff zu bekommen. Wie das Personal später Kenny und seinen drei Geschwistern erklärte, würde sich die Behandlung vor allem darauf konzentrieren, dass Arne ein paar Kilos auf die Rippen bekam. „Ernährungstherapie“, lautete die Verordnung in Arnes Patientenakte. Gleichzeitig würden die Krankenschwestern dafür sorgen, dass er viel Flüssigkeit bekam.
Arne war es gewohnt, Flüssigkeit zu sich zu nehmen, jedoch nicht Flüssigkeit der Art, die an einem Infusionsständer neben seinem Bett im Krankenhaus aufgehängt wurde: Er liebte Bier. Arne transportierte es im Korb seines dreirädrigen Scooters nach Hause, wenn er beim Schlachter Schous in Marielyst gewesen war, um Fertiggerichte zu kaufen, die er zu Hause im Ofen aufwärmen konnte. Und auch wenn Arne im Sommer vor dem Imbiss am Sildestrup Strand saß, standen die grünen Flaschen geöffnet neben ihm. Immer Carlsberg aus der Flasche, erinnert sich der Besitzer des Kiosks neben der Bank, auf der Arne Stunden zubringen konnte, während die Sonne sein rotblondes Haar zum Leuchten brachte. Er vermisst den Kunden, dem man immer gut zuhören konnte, egal, wie viel Bier er getrunken hatte. Viele erinnern sich an Arne wegen des Biers. Dass er viel trank. Doch wenn man seine Schwester Birthe fragt, ob er Alkoholiker war, antwortet sie mit Nein.
„Niemals“, sagt sie. „Er hat einfach das Leben genossen.“
Das war auch für die Ärzte zu sehen, als im Krankenhaus Nykøbing Falster die ersten Testergebnisse kamen. Der Körper des Patienten war gezeichnet. Vor allem vom Alkohol, der seine Spuren in Arnes Leber hinterlassen und sie massiv geschwächt hatte. Aber auch von den Zigaretten. Einmal erzählte Arne einem Arzt, dass er etwa dreißig bis vierzig Stück pro Tag rauchte, seit er fünfzehn war. Auch das wurde in der Patientenakte notiert. Ebenso wie der Husten. Der Husten, der im Falkevej die Nachbarn auf der anderen Straßenseite beim Kaffee ausrufen ließ: „Aha, Arne ist zu Hause.“
Zwischen Sommerhäusern und frisch gestrichenen Ganzjahresunterkünften aus Holz wohnte Arne an der Ecke der baumbestandenen Straße. Ursprünglich war sein Heim ein Bauwagen gewesen, dem jedoch vor einigen Jahren ein Anbau aus Gasbetonsteinen gewachsen war. Darin gab es Platz für einen Ofen, der durch den kleinen Schornstein auf dem Dach abends schwarzen Rauch über die Baumkronen auspustete, sobald es kälter wurde. Von der Haustür aus waren es nur ein paar hundert Meter bis zum Strand. Aber Arne hielt sich meist drinnen auf – wenn er nicht gerade mit dem Scooter unterwegs war. Die Nachbarn bekamen nur etwas von ihm mit, wenn er aus seiner Einfahrt fuhr oder gerade nach Hause kam. Hatte man das Glück, richtig begrüßt zu werden – bei den Zugezogenen konnten gut und gerne ein paar Jahre vergehen, bevor es dazu kam –, konnte man feststellen, dass der Einsiedler tatsächlich recht redselig war.
Er hatte streitbare Ansichten. Besonders ernst wurde Arne, wenn er über Pflegeheime und die Art und Weise sprach, wie die Gesellschaft die Alten behandelte. Und nicht wenige in seiner Familie hatten sich seine Ansichten zu Drogen – Narkotika ‒ anhören müssen, denn deren Konsum hatte Arne sein ganzes Leben lang verurteilt. Er hatte nie verstanden, warum Menschen diesen Weg einschlugen. Milder wurde er, wenn er von seiner Jugend erzählte, davon, wie er bereits als Teenager auf Schiffen mit dem Maersk-Logo auf der Seite um die ganze Welt gefahren war. Davon, wie seine Geschwister und er zwischen den Kneipen von Nørrebro aufwuchsen. Davon, wie Arne – bevor er bei der Müllabfuhr anfing – Blumen und Gemüse auf dem Grøntorvet in Kopenhagen verkauft hatte, dem Ort, wo er in der Raucherkneipe direkt nebenan seine zukünftige Frau getroffen hatte.
Seine Laune ähnelte der Atmosphäre in einer Kneipe ein paar Stunden vor der Sperrstunde. Er liebte Feste, und er war bekannt dafür, in Gesang und Seemannslieder zu verfallen, wenn er sich wohlfühlte. Auch wenn er allein zu Hause saß und einer seiner Brüder unangemeldet vorbeikam und ihn mit einer Portion Biksemad vom Schlachter vorfand – seinem Leibgericht. Aber in letzter Zeit hatte sich das verändert. Arne war unglücklich gewesen.
Es heißt, nichts träfe einen Menschen tiefer als der Verlust eines Kindes. Ein paar Monate, bevor er im Badezimmer stürzte, erhielt Arne die Nachricht, dass sein einziger Sohn Jimmy gestorben war.
Der Verlust von Jimmy wurde zu seiner größten Tragödie. Er hinterließ ein tiefes Loch und einen Kloß im Hals, den der Rentner einfach nicht herunterspülen konnte – egal, wie viel Bier er auch trank.
In der letzten Zeit hatte er seinen Geschwistern gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, dass er aufgegeben hatte. Arne war sehr traurig. Er hatte es satt, allein zu sein, sagte er. Und wie viel Brennholz die beiden Brüder in diesem Winter auch für ihn beschafft hatten, gelang es Arne dennoch kaum, Dinge zu finden, die sein Herz erwärmten. Selbst für die Fertiggerichte konnte er sich nicht mehr begeistern. Im Grunde brachte er nur noch Bier herunter. Die gute Laune ertrank. Für Arnes Geschwister war es sehr belastend, das mit anzusehen. Daher war es für die ganze Familie eine Beruhigung, als er ins Krankenhaus kam und dort von Fachleuten umgeben war, die sich nun um ihn kümmern konnten.
Bei seiner Aufnahme zitterte Arne und war blass. Er friere so sehr, sagte er wieder und wieder zu den Krankenschwestern. Doch es war schnell klar, dass keine Lebensgefahr bestand.
„Das größte Problem ist wahrscheinlich, dass der Patient einen Monat lang nicht gegessen hat‟, notierte ein Oberarzt nach drei Tagen auf der Intensivstation in Arnes Krankenakte. Und an Tag vier war sein Zustand nicht mehr kritisch, sodass er auf Station M130 verlegt werden konnte. Hier sollte sich das Personal nun darum kümmern, dass er zunahm.
Station M130 ist voller Patienten, deren Zustand ziemlich schlecht ist. In den Zimmern liegen vor allem Menschen mit Magen- und Darmerkrankungen, darunter auch einige Krebspatienten. M130 ist außerdem die Station, auf die Alkoholiker oder andere Süchtige kommen. Die mit einer geschwächten Leber. Auf Entzug. Diejenigen, die sonst auch noch mit anderen Dingen im Leben zu kämpfen haben als bloß mit der Diagnose, die sie ins Krankenhaus gebracht hat. Auf dieser Station liegen die „harten Fälle“, wie die Pflegekräfte es ausdrücken. Für die harten Fälle ist es nicht ungewöhnlich, auch zweimal oder öfter eingewiesen zu werden. Einige von ihnen sind bereits bekannte Gesichter, wenn das Personal sie auf ihr Zimmer bringt. Und meist bleiben sie auch länger als die Patienten im anderen Krankenhausflügel, manchmal sogar mehrere Wochen.
Die Station besteht aus zwei Gängen – dem 30er-Gang und dem 50er-Gang –, die rechtwinklig angeordnet sind, jeweils mit Zimmern auf beiden Seiten. Arne erhielt ein Zimmer auf dem 30er-Gang direkt gegenüber der Toilette. Anfangs machte der Patient auf das Personal einen recht stillen Eindruck. Er war jemand, der am liebsten einfach nur daliegen und schlafen wollte. Jemand, der weder Lust auf noch Kraft für etwas anderes hatte. Doch im Laufe der Zeit bemerkten viele, dass Arne allmählich auflebte.
„Der Patient zeigt heute mehr Mimik und spricht spontaner“, stand vier Tage nach seiner Aufnahme in seiner Akte. Am selben Tag ergänzte eine Krankenschwester auf M130:
„Setzt sich selbstständig im Bett auf und isst, was ihm gebracht wird.“
Arne hustete immer noch, ihm wurde häufig schwindelig und er würde noch eine Weile Sauerstoff über einen Schlauch und Essen über eine Sonde erhalten. Doch es fiel ihm immer leichter, zusätzlich etwas zu sich zu nehmen.
„Zeigt allmählich wieder Appetit und isst mehr“ und „Hat heute von sich aus nach Essen gefragt“, notierte das Personal in seinen Unterlagen in den darauffolgenden Tagen.
Die Sozial- und Gesundheitsassistentin Louise stellte außerdem fest, dass sich nach und nach auch Arnes Stimmung besserte, während er gleichzeitig ein wenig zunahm. Als sie den Patienten auf Zimmer 134 zum ersten Mal getroffen hatte, hatte er ihr von Jimmys Tod erzählt und gesagt, er wisse nicht, ob er noch länger leben wolle. Wenn Ärzte und Schwestern hereinkamen, um nach Arne zu sehen, erzählte er häufig von seiner Tragödie. Es finden sich mehrere Einträge in seiner Patientenakte, dass er depressiv wirkte. Doch eines Tages erwähnte Arne Louise gegenüber, dass er sich auf Zuhause freue. Er befand sich seit fast zwei Wochen im Krankenhaus, und in den letzten Tagen hatten mehrere Personen auf der Station Arnes Veränderung bemerkt. Er schien insgesamt besser gelaunt zu sein. Er redete mehr. War häufiger wach. Schließlich hatte sich sein physischer Zustand so gut entwickelt, dass das Personal vor dem Wochenende begonnen hatte, über den Plan für seine Entlassung zu sprechen.
In seiner Akte notierte eine Krankenschwester am Donnerstag, den 1. März 2012, dreizehn Tage nach Arnes Aufnahme im Krankenhaus:
„Patient wird voraussichtlich Anfang nächster Woche entlassen.“
Als Kenny freitags auf dem 30er-Gang zu Besuch war, konnte er sehen, dass die Behandlung zu wirken schien: Sein Bruder machte zwar immer noch einen leicht verwirrten Eindruck, aber er hatte zugenommen. Seine Nichte Marie-Louise bemerkte, dass ihr Onkel fröhlicher war. Er schien munter zu sein, lächelte, alberte sogar herum und gab eine Räuberpistole zum Besten, als sie zu Besuch war.
Seine beiden anderen Geschwister, Birthe und Vagn, besuchten ihn am Samstag, Arnes sechzehntem Tag im Krankenhaus. An seinem Bett berichteten sie ihm, dass das Haus im Falkevej für seine Entlassung vorbereitet war: Die Schwägerin hatte Bettzeug und Gardinen gewaschen und alles hübsch hergerichtet.
Doch Arne war immer noch zu dünn. Auf dem Gang erfuhr Birthe von einer Krankenschwester, am besten würde man ihren Bruder zunächst an einen Ort bringen, an dem jemand dafür sorgen konnte, dass er immer genug aß. Vielleicht ein Pflegeheim oder eine andere Form der Unterstützung. Vielleicht würden ein paar Tage reichen, dann könne er wieder nach Hause kommen. Arnes Bruder Vagn saß auf der anderen Seite des Bettes und lächelte, als Birthe Arne diesen Plan präsentierte. Sie wussten genau, wie er reagieren würde, denn sie erinnerten sich sehr deutlich daran, wie er immer über die Altenpflege in Dänemark gesprochen hatte: Es sei ein Ort, an den man keinen Menschen schicken sollte.
„Wäre ich im fünften Stock, würde ich jetzt aus dem Fenster springen“, erinnert sich Birthe an Arnes Antwort. Sie lächelt, als sie an den Tag zurückdenkt. So etwas zu sagen, war typisch für ihn.
Am Tag nach Birthes und Vagns Besuch fing das Personal auf Station M130 um kurz nach 9 Uhr an, sich auf den sonntäglichen Vormittagskaffee vorzubereiten. Zwei Stunden vorher war Schichtwechsel gewesen. Die Kolleginnen Ida und Nina waren nach Hause gegangen, die Sozial- und Gesundheitsassistentin Louise war zusammen mit den Pflegekräften Peter und Christina eingetroffen. Als eine der ersten Amtshandlungen in ihrer Schicht hatte Louise Arne Brotsuppe mit Sahne gebracht, und sie hatten vereinbart, dass sie ihm später am Tag beim Baden helfen würde. Dann hatte sie ihn im Zimmer allein gelassen, damit er in Ruhe essen konnte. Und als sie eine Viertelstunde danach zurückkehrte, hatte Arne über seinen leeren Teller hinweg gefragt: „Und, zufrieden?“ Er hatte aufgegessen. Er hatte gelächelt. Er schien tatsächlich seine gute Laune zurückzubekommen.
Die anderen Pflegekräfte, die wie Louise um 7:00 Uhr eingetroffen waren, hatten längst die Patientenakten studiert und die Morgenrunde absolviert. Schwester Christina war für die Verteilung der Tabletten an die Patienten zuständig und ging daher gerade durch die Zimmer, um Patienten mit den Medikamenten zu versorgen. Währenddessen war Peter ebenfalls bei Arne gewesen, hatte das Bett bezogen und frische Handtücher gebracht. Außerdem hatte er Arnes Werte gemessen – Temperatur, Blutdruck, Atmung, Puls und Sauerstoffgehalt des Blutes. Nichts Auffälliges. Genau, wie die Nachtschicht bei der morgendlichen Übergabe berichtet hatte.
Peter hatte seine Runde als erster beendet und begann daher gegen 9:00 Uhr, im Personalraum für die anderen Pflegekräfte Kaffee zu machen. Sie frühstückten immer mit dem Personal vom 50er-Gang zusammen, nachdem die ersten Routineaufgaben erledigt waren. Allmählich trafen die anderen ein. Es schien eine ruhige Schicht zu werden. Keine Patienten, denen es akut schlecht ging.
Doch dann ertönte der Alarm. Jemand hatte in einem der Zimmer zweimal an der Schnur gezogen, sodass der Herzalarm ausgelöst wurde. Peter, Louise und die anderen liefen den 30er-Gang herunter und bogen links durch den roten Türrahmen in Zimmer 134 ab. Ihre Kollegin Christina saß mit dem Rücken zum Eingang auf der Kante des ersten Bettes. Sie hatte Arnes Hemd hochgeschoben und führte eine Herzmassage aus.
Christina drückte Arnes Brust rhythmisch herunter, während Louise das Bett von der Wand abrückte, damit sie besser an den Patienten herankamen. Peter bereitete Medikamente und Spritzen vor. Eine Sozial- und Gesundheitsassistentin aus dem 50er-Gang holte eine Beatmungsmaske, damit der Patient zusätzlichen Sauerstoff bekam. Und eine dritte Krankenschwester sah zu. Es war das erste Mal, dass sie eine richtige Wiederbelebung bei einem Patienten sah. Sie hatte gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen und war neu auf der Station, doch Christina hatte sie aufgefordert, zu bleiben und dem, was passieren würde, beizuwohnen. Es sei gut zu lernen, wie so etwas ablief, hatte die erfahrenere Krankenschwester gesagt.
Schnell kamen die Krankenträger und Ärzte. Christina trat zurück, behielt aber den Überblick. Sie nannte die Eckdaten des Patienten, seine Werte, den Grund seiner Aufnahme, wie sie ihn leblos aufgefunden hatte und wie die Reanimation eingeleitet worden war.
Wenn so viele Profis mit ihrer gesammelten Erfahrung damit beschäftigt sind, den Kreislauf der Person zwischen ihnen wieder in Gang zu bringen, können selbst erfahrene Schwestern und Ärzte den Überblick verlieren. Peter beispielsweise wirkte nervös, als Christina ihn herumkommandierte. Seine Hände zitterten und er ließ versehentlich das Blutdruckgerät auf den Boden fallen. Aber hier konnte Christina glänzen, sie scheute sich nicht davor, das Ruder zu übernehmen, wenn die anderen zögerten. Und es war ja auch sinnvoll, dass sie es übernahm. Wenn es darauf ankam, konnte man auf sie zählen. Das hatten viele auf der Station bereits bemerkt.
Es gelang, das Herz des Patienten wieder in Gang zu setzen.
Arne wurde sofort auf die Intensivstation zurückgebracht, von der er zwölf Tage zuvor hierher verlegt worden war. Sein malträtierter Brustkorb mit elf gebrochenen Rippen bewegte sich ein wenig. Er atmete, benötigte aber Unterstützung durch ein Beatmungsgerät. Für das Personal war diese Verschlechterung seines Zustands unerklärlich. Warum hatte Arnes Körper plötzlich aufgegeben? War er nicht eigentlich auf dem Weg der Besserung gewesen?
Auf der Suche nach einer Erklärung hob eine Oberärztin die Lider des Patienten an. Die Pupillen waren winzig. Das wunderte sie. Konnte er zu viel Morphin bekommen haben?
Auf der Intensivstation des Krankenhauses Nykøbing Falster hatte man bereits häufiger Opioide und Benzodiazepine in der Blutbahn von Patienten gefunden, die leblos von Station M130 hergebracht wurden. Morphin enthält Opioide. Benzodiazepine finden sich unter anderem im Medikament Stesolid. Bei mehreren Fällen war keines dieser Medikamente verschrieben und in die Patientenakten eingetragen worden. Fälle, bei denen auch das elektronische Medikamentensystem, in dem die Pflegekräfte die Medikamentenausgabe quittierten, keine Erklärung lieferte. Auf der Intensivstation war man daher besonders aufmerksam bei den Fällen, die von Station M130 kamen.
Alle wussten, dass es auf dieser Station häufig stressig zuging, und das erhöhte unweigerlich das Risiko für Fehler. Außerdem lagen auf der Station viele Süchtige, und auch wenn es äußerst selten vorkam, konnte es passieren, dass Patienten Drogen ins Krankenhaus schmuggelten, was für das Personal schwer zu kontrollieren war. Doch häufiger schien der Fehler eher beim Pflegepersonal zu liegen. Es gab Beispiele dafür, wie die Entwöhnung süchtiger Patienten schiefgegangen war. Zum Beispiel bei dem Patienten, der bei einer solchen Entwöhnung ein Chlordiazepoxid-Medikament in zu hohen Dosen erhalten hatte. Das Medikament soll Alkoholikern auf Entzug helfen, ruhiger zu werden. Normalerweise verabreichen die Pflegekräfte zwischen 50 und 200 Milligramm verteilt über mehrere Stunden. Der Patient hatte zwei Gramm erhalten. Und angesichts einer so hohen Dosis war es auch nicht überraschend, dass es zu einem Herzstillstand gekommen war, um den sich anschließend die Intensivstation kümmern musste. Auch mit Morphin hatte es einige Male Probleme gegeben. In einem Krankenhaus sind immer die Pflegekräfte für die Medikamentenausgabe verantwortlich – doch die Medikationsentscheidungen treffen die Ärzte. Sie legen Mengen und Zeitpunkte der Verabreichung fest, indem sie eine Verordnung in die Patientenakte schreiben. Bei Morphin wird zum Beispiel in diesem Zusammenhang außerdem ein ‚i.v.‘ notiert, wenn das starke Medikament intravenös verabreicht werden soll – d.h. direkt in die Blutgefäße – und nicht in Form von Tabletten.
Die Medikamente holen die Pflegekräfte aus den Medikamentenräumen auf den jeweiligen Stationen. In den abgeschlossenen Lagern haben die Ärzte nichts zu suchen, das ist das Reich der Pflegekräfte. Im Krankenhaus Nykøbing Falster ist das nicht anders. In den Medikamentenräumen nimmt eine Pflegekraft die Medikamente aus den Regalen, bricht die Ampullen auf und zieht die verordnete Menge in Millilitern in eine Spritze auf. Wenn die Dosis abgemessen ist, gießt sie den Rest ins Waschbecken. Die aufgebrochene Ampulle wird weggeworfen. Und schließlich quittiert die Pflegekraft im Medikamentensystem des Krankenhauses, wann sie im Zimmer gewesen ist und die Dosis injiziert hat. Das ist essenziell und eines der ersten Dinge, die man während der Ausbildung lernt.
Weder in Arnes Akte noch im Medikamentensystem stand vermerkt, dass er Morphin bekommen sollte. Dennoch versuchte die Oberärztin, eine Anästhesistin, ihm ein Gegenmittel zu verabreichen, nachdem sie seine Pupillen gesehen hatte. Sofort trat das ein, was passiert, wenn im Körper bestimmte Chemikalien miteinander reagieren: Der Blutdruck stieg. Der Puls ging schneller. Arne schien leichter atmen zu können. Und die Pupillen vergrößerten sich und begannen, auf Licht zu reagieren. Eine daraufhin entnommene Urinprobe ergab, dass sich in Arnes Körper nicht nur die Opioide aus dem Morphin fanden, sondern auch Spuren von Benzodiazepinen, was darauf hindeutete, dass Arne auch Stesolid erhalten hatte.
Die Ärzte auf der Intensivstation wunderte das sehr. Sie mussten mehrmals in seiner Akte und im elektronischen Medikamentenformular nachschauen, um ganz sicher zu sein, dass sie nichts übersehen hatten. Doch das war nicht der Fall. Weder Morphin, Stesolid noch ein anderes Medikament, das Opioide oder Benzodiazepine enthielt, waren verschrieben oder anderweitig vermerkt worden.
Was konnte passiert sein? Konnte das Personal auf Station M130 möglicherweise Arne die Medikamente verabreicht haben, die ein anderer Patient auf seinem Zimmer hätte bekommen sollen? Das hätte erklärt, warum Arne „keine fünfzehn Minuten, bevor der Patient mit Herzstillstand aufgefunden worden ist, noch bei Bewusstsein angetroffen wurde“, wie es in seiner Akte stand. Doch um 13:30 Uhr vermerkte ein Arzt darunter:
„Die Befragung der Pflegekräfte auf der Station hat ergeben, dass der Patient im Nachbarbett keine Medikamente erhält.“
Zweieinhalb Stunden später war das Rätsel immer noch nicht gelöst:
„Man kann nicht ausschließen, dass der Patient die falschen Medikamente erhalten/genommen hat. Es gibt jedenfalls keine Erklärung dafür, dass der Drogentest im Urin des Patienten Opioide und Benzodiazepine ergeben hat“, schrieb ein weiterer Arzt, der jetzt für die Aufklärung des Falles zuständig war.
Nach seinem Herzstillstand war Arne ins Koma gefallen. Sein Gehirn hatte Schaden genommen, weil es zu lange ohne Sauerstoff gewesen war, und nach einer CT und mehreren Tests gab es keinen Zweifel: Arne würde nicht wieder aufwachen. Das Krankenhaus nahm Kontakt mit Kenny auf, der versprach, die anderen Familienmitglieder darüber zu informieren, dass die Ärzte nichts mehr tun konnten. Und gegen Abend versammelten sich Arnes Angehörige auf der Intensivstation.
„Sie wurden darüber informiert, dass die Gehirnschädigung so massiv ist, dass nahezu alle Organsysteme versagen und eine weitere Behandlung aussichtslos ist. Die Familie erklärt, dass der Patient schon länger nicht mehr leben wollte und dass sie nun möchten, dass er seinen Frieden findet. Sie sind damit einverstanden, dass wir die aktive Therapie einstellen und den Patienten nur noch palliativ behandeln“, fasste eine Oberärztin ihr Gespräch mit Kenny und der Familie um 21:00 Uhr in Arnes Akte zusammen.
Am Abend saß die Familie an Arnes Bett, als die Ärzte ihn von den Maschinen trennten, die ihn am Leben hielten. Kenny war da. Vagn war da. Zwei von Arnes Nichten waren ebenfalls da. Und sie alle mussten mit ansehen, wie der Mann zu atmen aufhörte, als die Apparate abgeschaltet wurden.
Am Sonntag, den 4. März 2012, um 21:30 Uhr wurde Arne Herskov im Krankenhaus Nykøbing Falster für tot erklärt.
*
Die Polizei fand keine Erklärung für die Frage, wie Morphin und Stesolid in Arnes Blutgefäße gelangt waren.
Insgesamt sieben Krankenhausmitarbeiter wurden zu der Sache befragt, die meisten am Tag nach seinem Herzstillstand. Zwei Polizeiobermeister statteten Station M130 erneut einen Besuch ab und wurden in einen Besprechungsraum geführt. Hier verbrachten sie ein paar Stunden mit Zeugenvernehmungen. Zu den Zeugen gehörten zwei Ärzte sowie Krankenpfleger Peter, der im Personalraum von Station M130 gestanden hatte, als der Herzalarm losging. Und Christina, die Person, die den Alarm ausgelöst hatte.
Die Beamten notierten in Christinas Vernehmungsprotokoll:
„Die Befragte erklärte, am Sonntagvormittag durch die Zimmer gegangen zu sein und dabei festgestellt zu haben, dass die Tür zum Zimmer des Verstorbenen geschlossen war. Sie habe die Tür zu dem Zweibettzimmer geöffnet, wo der Zimmernachbar des Verstorbenen gesagt habe: ‚Er schläft heute viel.‘ Die Befragte erklärte, sie sei zu dem Patienten gegangen und habe ihn auf dem Rücken liegend im Bett ohne Atmung vorgefunden.“
In den Notizen der Beamten wurde außerdem festgehalten, dass Christina am Wochenende „Gruppenleiterin“ gewesen sei, was bedeutete, dass sie sämtliche Medikamente, die auf den Zimmern verabreicht wurden, genehmigen musste. Arne hatte Lebermedikamente und Vitamine erhalten, während er auf Station M130 lag. Das sei alles gewesen, erklärte Christina.
„Die Befragte erklärte, der Verstorbene habe auf der Station keines der Medikamente erhalten, die die Urinproben ergeben hätten. Andernfalls hätten sie das gewusst“, berichtete der Polizeibeamte von der zwanzigminütigen Vernehmung der Krankenschwester.
Keiner der Kollegen deutete gegenüber der Polizei einen Verdacht gegen Christina an. Auch nicht Ida oder Nina, die sich entschieden hatten, den Beamten nichts von ihrem Fund im Todesfallheft und ihrem Verdacht gegen die Kollegin zu erzählen.
Das Krankenhaus leitete eine interne Untersuchung zur Aufklärung ein. Diese endete mit der Feststellung, dass Arne auf der Station Zugang zu Drogen gehabt haben müsse und eigenhändig eine Überdosis genommen habe. Die Schlussfolgerung wurde auch Arnes Hinterbliebenen mitgeteilt, für die das Ganze jedoch überhaupt keinen Sinn ergab. Das konnte nicht sein, Arne war doch immer ein Gegner von Drogen gewesen.