Читать книгу Die Krankenschwester ‒ der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark - Kristian Corfixen - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеDie Leitstelle nahm den Anruf um vier Minuten vor Mitternacht entgegen. Am Telefon war eine Ärztin aus dem Krankenhaus Nykøbing Falster, die einen ungeklärten Todesfall melden wollte. Ein Routineverfahren. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Arzt die Behörden verständigt, wenn ein Patient plötzlich verstirbt und sich dafür in der Patientenakte keine plausible Erklärung finden lässt.
Bei Arne Herskov war das der Fall. Die Ärztin hatte ihn vor etwas mehr als zwei Stunden für tot erklärt, wie sie am Telefon erläuterte.
Der Diensthabende notierte das Datum – 4. März 2012 – und die Zusammenfassung der Ereignisse durch die Ärztin:
„Arne Herskov, zweiundsiebzig Jahre alt. Wohnhaft: Falkevej 78 in Idestrup. Geschieden. Zuletzt bei Bewusstsein angetroffen heute zwischen 7:00 Uhr und 9:39 Uhr. Dann nach einem Herzstillstand an die Beatmung angeschlossen. Heute Abend verstorben. Nächster Angehörige: sein Bruder Kenny.“
Kurz darauf fuhr ein Streifenwagen mit zwei Polizeibeamten zum nördlichen Stadtrand von Nykøbing Falster. Um 1:20 Uhr meldeten sie sich auf der Intensivstation. Die Polizei traf dort auf eine Krankenschwester und eine Ärztin, die berichteten, wer im Laufe des Tages und Abends mit dem Patienten zu tun gehabt hatte, und die Beamten notierten einige Namen und Telefonnummern, bevor man sie zu dem Zimmer führte, in dem Arne Herskov immer noch lag. Es könnte sich um einen Tatort handeln. Doch als sie die Tür öffneten, stellten sie fest, dass dieser alles andere als unberührt war. Arne lag auf dem Rücken in Jeans und einer karierten Strickjacke mit schwarzen Ärmeln. Man hatte ihn angezogen, damit er nicht in einem Krankenhausnachthemd dalag, wenn die Familie kam, um sich von ihm zu verabschieden. Die Plastikschläuche, von denen er umgeben gewesen war, waren entfernt worden.
„Der Leichnam war zurecht gemacht worden, da man sich, nachdem der Verstorbene für tot erklärt worden war, nicht darüber bewusst gewesen war, dass die Polizei benachrichtigt werden würde“, notierten die Beamten in ihrem Bericht. Und dann gingen sie auf Station M130.
Man informierte die Polizei darüber, dass Arne in den letzten Tagen auf Station M130 gelegen hatte und dass er dort am Vormittag leblos in seinem Bett aufgefunden worden war. Das Personal hatte daraufhin versucht, ihn mit einer Herzmassage wiederzubeleben, und ihn anschließend auf die Intensivstation verlegt. Die diensthabenden Pflegekräfte hatten längst Feierabend. Jetzt betreuten die Krankenschwester Ida und die Sozial- und Gesundheitsassistentin Nina den Gang auf Station M130, wo in den angrenzenden Zimmern die Patienten schliefen.
Es war ihre zweite Nachtschicht in Folge. Beim Dienstbeginn um 23 Uhr hatte es die beiden Kolleginnen überrascht zu erfahren, dass der ältere Mann auf Zimmer 134 plötzlich einen Atemstillstand erlitten hatte. Noch am Morgen hatten die beiden nach Arne gesehen, bevor sie ihn und die anderen Patienten den Kolleginnen der neuen Schicht übergeben hatten und nach Hause gefahren waren, um zu schlafen. Ida hatte da noch mit ihm gesprochen. Seit er stationär aufgenommen worden war, war es schwierig gewesen, ihn zum Essen zu bewegen. Doch dann war Arne eines morgens aufgewacht und hatte selbst um ein Protein-Eis gebeten. Das hatte er noch nie getan. „Er ist richtig aufgeblüht“, hatte Ida gedacht, als sie das Zimmer verlassen hatte. Der schmächtige Mann war ihr gegenüber sogar etwas vorlaut aufgetreten. Sie sah das als Zeichen dafür, dass es ihm allmählich besser ging.
Nina hatte ihm zugewunken, als er sein Zimmer auf dem Weg zur Toilette auf der anderen Seite des Ganges verlassen hatte. Jetzt sei Arne tot, hatten die Kolleginnen der Nachtschicht erklärt, als sie am Abend angekommen waren und zu den Patienten in den Zimmern gebrieft wurden. Das war schwer zu begreifen.
Ida und Nina hatten keine Ahnung, dass der Todesfall der Polizei gemeldet worden war, und es entstand eine unangenehme Situation, als die beiden Beamten durch die Tür zu Station M130 traten. Sie traten zwar freundlich auf, überrumpelten die Krankenschwestern jedoch mit ihren Fragen über den Patienten aus Zimmer 134. Nina berichtete der Polizei von der Begegnung auf dem Flur und dass sie angenommen hatte, dass Arne auf dem Weg der Besserung gewesen sei. Ida erzählte von der Sache mit dem Protein-Eis. Dass es so gewirkt hatte, als hätte Arne mehr Appetit.
„Der Verstorbene, bis dahin eher depressiv, schien ‚aufgeblüht‘ zu sein“, notierte der eine Polizist auf seinem Block. Mehr war in dieser Nacht nicht passiert. Die Polizei hatte sich weniger als eine Stunde im Krankenhaus aufgehalten, dann saßen die beiden Beamten auch schon wieder im Streifenwagen. Der Fall schien nicht eilig zu sein, die weiteren Ermittlungen hätten auch Zeit bis zum Morgen danach.
Als die Beamten abgefahren waren, brach Ida weinend zusammen. Und in dieser Nacht äußerte sie Nina gegenüber einen Verdacht, den sie schon seit einer ganzen Weile mit sich herumtrug. Da waren so viele Patienten auf Station M130, deren Zustand sich unerwartet verschlechterte. Sicher, sie waren krank, deshalb waren sie ja im Krankenhaus. Aber es war doch merkwürdig, dass es immer wieder zu Rückfällen kam, fand Ida. Wie bei Arne kam es häufig nach einem Schichtwechsel vor. Und seltsamerweise war meist eine bestimmte Kollegin in der Nähe gewesen, und sie war auch diejenige, die die Patienten leblos in den Zimmern aufgefunden und Alarm geschlagen hatte.
Ida und Nina gingen ins Büro und sahen sich das sogenannte Todesfallheft an. In diesem Heft notierte das Personal die Namen der Patienten, die in der Abteilung verstarben. Am Rand der linierten Seiten stand bei jedem Patienten eine Unterschrift von einer der typischerweise zwei Krankenschwestern oder Sozial- und Gesundheitsassistentinnen, die den Verstorbenen zurecht machten, bevor die Angehörigen kamen, um sich zu verabschieden.
Ida und Nina zählten die Todesfälle.
Eins, zwei, drei, vier, fünf.
Im Todesfallheft standen bei Weitem nicht alle Patienten, die auf Station M130 einen Herzstillstand erlitten. Viele wurden auf andere Stationen verlegt, wenn sich ihr Zustand verschlechterte. Wie Arne, der auf die Intensivstation gebracht worden war. Doch alle, die auf Station M130 gestorben waren, standen in diesem Heft.
Sechs, sieben, acht, neun, zehn.
Ida und Nina zählten, wie oft derselbe Name auftauchte.
Elf, zwölf, dreizehn.
Eine Unterschrift kam eindeutig am häufigsten vor.
Vierzehn, fünfzehn.
Das war ungewöhnlich, weil es sich um den Namen einer Krankenschwester handelte. Denn meist machten die Sozial- und Gesundheitsassistentinnen die Verstorbenen zurecht. jedenfalls bei den Tagschichten, denn da hatten die Krankenschwestern in der Regel noch viele andere Dinge zu tun.
Sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn.
‚Das ist doch verrückt‘, dachte Ida.
Zwanzig, einundzwanzig. Zweiundzwanzig.
Zweiundzwanzig.
Zweiundzwanzig.
Ihre Kollegin Christina hatte ihre Unterschrift neben die Namen von zweiundzwanzig Patienten gesetzt, die in den letzten anderthalb Jahren auf Station M130 für tot erklärt worden waren. Niemand sonst auf der Station hatte so viele Todesfälle abgezeichnet. Niemand sonst kam auch nur annähernd auf zweiundzwanzig. Dabei arbeitete Christina nicht einmal Vollzeit.
In dieser Nacht sprach Ida ihren Verdacht zum ersten Mal einer anderen Person gegenüber aus: den Verdacht, dass Christina die Patienten absichtlich tötete.