Читать книгу Die Krankenschwester ‒ der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark - Kristian Corfixen - Страница 9
Kapitel 5
ОглавлениеBis zur Nachtschicht sprachen Niels und Pernille häufiger darüber, wie sie sich verhalten sollte. Pernille würde versuchen zu verfolgen, was Christina tat und wo sie sich aufhielt, wenn sich der Zustand von Patienten verschlechterte. Sie sollte darauf achten, wo Christina Beweise hinterlassen haben könnte, und im Medikamentenraum prüfen, ob im Verlauf der Schicht etwas verschwunden war. Außerdem würde sie in den kleinen gelben Abfallbehältern nachsehen, die überall auf der Station standen und in denen das Personal benutzte Ampullen und Kanülen entsorgte. Vielleicht läge etwas darin, was auf ein Verbrechen hinweisen würde.
Insgeheim hoffte Pernille, dass sie überhaupt nichts finden würde. Dass die Nachtschicht ihr nach gründlicher Überprüfung bestätigen würde, dass sie sich das Ganze nur einbildete. Sie hatte Niels versprochen, dass sie dann versuchen würde, ihren Verdacht zu vergessen.
Niels fiel auf, dass seine Freundin immer nervöser wurde, je näher die Nachtschicht rückte. Inzwischen reagierte auch er ganz anders. War er vorher noch vorbehaltslos skeptisch gewesen und hatte die Rolle des Oberarztes eingenommen, der zur Besonnenheit mahnte, hatte die Anspannung nun auch ihn ergriffen. Er musste zugeben, dass ihm das Ganze einen Adrenalinschub brachte. Was, wenn es stimmte? Was, wenn die beiden die einzigen waren, die Christina auf die Schliche kommen konnten? Niels hatte bereits eine Vorstellung davon, wie groß die Medien diese Angelegenheit aufziehen würden.
Dann kam es erst mal zu einem Aufschub, denn freitags meldete Christina sich krank. Doch am nächsten Tag ging keine weitere Krankmeldung ein. Damit war klar, dass es nun so weit war. ‚Konzentriere dich‘, dachte Pernille, als sie am Samstag, den 28. Februar, mit zitternden Händen das kalte Lenkrad ihres Autos bewegte und zum Krankenhaus fuhr, um dort um 19:00 Uhr ihre Nachtschicht anzutreten. Die Kollegen durften nicht merken, dass sie etwas vorhatte. Ansonsten wäre die Chance, Christina zu entlarven, höchstwahrscheinlich vertan.
*
Wie üblich war Christina auch an diesem Abend früh da. Sie stand im Personalraum und ließ sich über die verschiedenen Patienten in den Zimmern Bericht erstatten, als Pernille um 18:50 Uhr auftauchte und die anderen begrüßte.
Pfleger Anders aus der Tagschicht konnte berichten, dass es in den vergangenen zwölf Stunden ruhig gewesen war. Alles unter Kontrolle. Akut 3 hatte bis zum Abend keine besonderen Notfälle gehabt.
Wie immer teilte das Personal die Zimmer unter sich auf. Immer in zwei Gruppen – die ‚untere Gruppe‘ und die ‚obere Gruppe‘ –, die jeweils aus der Hälfte der sechzehn Betten der Abteilung stammten. Mit diesem System mussten die Pflegekräfte und Sozial- und Gesundheitsassistenten nicht alle Patienten von Akut 3 auf einmal im Blick behalten. Sie würden sich nur auf diejenigen konzentrieren, die in die Zimmer der ihnen zugeteilten Gruppe kamen. Grundsätzlich hatte man also in einem Zimmer, das nicht zur eigenen Gruppe gehörte, erst einmal nichts zu suchen, es sei denn, es trat eine Notsituation ein oder die Kollegen der anderen Gruppe baten um Hilfe.
Christina und Pernille sollten die beiden Gruppenleiter sein, an die die Ärzte sich wandten, wenn der Zustand eines Patienten zu besprechen war. Die Gruppenleiterinnen hatten den Überblick, kannten die Patientenakten und sorgten unter anderem dafür, dass die Patienten die Medikamente erhielten, die die Ärzte verordnet hatten.
Christina bekam die Zimmer 30 bis 34, die ‚untere Gruppe‘. Es waren zwei Einzel- und drei Doppelzimmer, für die bisher Anders zuständig gewesen war. Von ihm erfuhr sie unter anderem von der zweiundsiebzigjährigen Patientin Maggi Margrethe Rasmussen, die seit dem Vormittag in Zimmer 34 lag, weil sie in den Oberarmen starke Schmerzen gehabt hatte, die sich bis zu den Schulterblättern zogen.
Zunächst hatte es wie ein Blutgerinnsel im Herz ausgesehen, doch dann erwies es sich als Vorhofflimmern. Jetzt war sie stabil. Und sie war an Überwachungsgeräte angeschlossen, sodass die Pflegekräfte die Werte von Maggie vom Büro aus jederzeit überprüfen konnten. Sie atmete normal. Der Blutdruck war in Ordnung.
Pernille und Christina setzten sich an ihre Computer und studierten die Patientenakten. Heute gab es nicht viele, in die sie sich einarbeiten mussten. Es lag kaum mehr als eine Handvoll Patienten auf der Station. Die Schwester, die tagsüber für die Patienten in Zimmer 35 bis 38 zuständig gewesen war, berichtete Pernille von Viggo Holm Petersen. Bei diesem Patienten sollte die neue Gruppenleiterin regelmäßig nachsehen gehen. Der sechsundsechzigjährige Viggo war schwer krank. Er hatte Krebs. Und Pernille musste wissen, dass er im Falle eines Herzstillstand weder wiederbelebt noch auf die Intensivstation gebracht werden sollte. Ein Arzt hatte die Entscheidung getroffen und in die Patientenakten eingetragen. Die Werte waren einfach zu schlecht.
Tina, Viggos Lebensgefährtin, saß zusammen mit einigen anderen Angehörigen in seinem Zimmer. Pernille ging hinein und stellte sich vor. Heute war nicht viel los, daher hatte Pernille reichlich Zeit, ihre Fragen zu beantworten. Viggo wimmerte manchmal im Schlaf. War das normal? Ja, erklärte Pernille. Doch sie versprach, einen Arzt zu bitten, eine Dosis schmerzstillende Medikamente und Beruhigungsmittel in seine Akte einzutragen – Morphin und Stesolid –, falls es erforderlich werden würde. Sie wandte sich an eine der ausländischen Ärztinnen, die zusagte, sich darum zu kümmern. Sie war jedoch neu in der Notaufnahme und daher unsicher, wie viel sie verordnen sollte. Sie vergaß, es zu prüfen. Und dann vergaß sie, es zu erledigen. In Viggos Akte wurde nichts eingetragen.
Die Pflegekräfte erledigten ihre Aufgaben auf der Station. Pernille mischte im Medikamentenraum eine neue Infektionslösung mit Antibiotika an. Etwas später sollte der Tropf am Infusionsständer an Viggos Bett aufgehängt werden.
Christina ging durch die Zimmer und begrüßte die Patienten. Außerdem waren eine dritte Krankenschwester (Schwester Marlene) sowie eine Sozial- und Gesundheitsassistentin auf ihrer Runde. Auf der Station war es ruhig. Und Pernille entspannte sich. Bis Christina von ihrer Runde zurückkam und Neuigkeiten über eine ihrer Patientinnen berichtete. Zu diesem Zeitpunkt waren erst zwanzig Minuten von Pernilles Schicht vergangen.
Sie saß mit Marlene im Büro, als Christina hereinkam und erzählte, Anna Lise Poulsen auf Zimmer 31 habe aufgehört zu atmen. Christina hatte den Puls der Patientin nicht überprüft, doch sie meinte, es von der Tür aus gesehen zu haben. Sie sah Marlene an, die bereits seit 15 Uhr da war. Sie hatte genau in den Zimmern nach den Patienten gesehen, für die jetzt am Abend Christina verantwortlich war, und sie war mehrmals bei Anna Lise Poulsen gewesen. Das, was Christina da sagte, konnte sie kaum glauben.
Die sechsundachtzigjährige Anna Lise Poulsen war am Nachmittag mit dem Krankenwagen eingeliefert worden, weil sie im Pflegeheim plötzlich Atemnot bekommen hatte. Sie war mit dem Status „rot“ eingeliefert worden, mit blauen Lippen und rasendem Puls.
Anna Lise war sehr schwach und kaum ansprechbar gewesen. Sie hatte eine Lungenentzündung, aber es deutete auch Einiges auf eine Blutvergiftung hin. Sie war dement. Und sie lag im Sterben. In ihre Akte hatte der Arzt unter Behandlung nur „liebevolle Begleitung“ eingetragen.
Wenn ein Arzt diese beiden Wörter in eine Patientenakte einträgt, geschieht das nicht, um zu betonen, wie sich das Personal der Person gegenüber zu verhalten hat. Der Hintergrund ist viel ernster. Wird „liebevolle Begleitung“ verordnet, handelt es sich um einen unheilbar kranken Patienten, bei dem das Personal nach Einschätzung des Arztes nichts mehr für dessen Heilung tun kann oder sollte. Ab diesem Zeitpunkt sorgen alle nur noch dafür, dass die Patienten in dieser letzten Zeit keine Schmerzen haben. Darin besteht die liebevolle Begleitung. Und dafür sind die Krankenschwestern zuständig.
Zusätzlich zur „liebevollen Begleitung“ verordnet der Arzt typischerweise auch schmerzstillende Medikamente oder Beruhigungsmittel, die die Pflegekräfte verabreichen können, wenn sie es für notwendig halten. Man nennt dies eine Bedarfsmedikation. Mit einer Bedarfsmedikation erlaubt der Arzt dem Pflegepersonal, selbst zu entscheiden, ob die Medikamente verabreicht werden oder nicht. Falls das geschieht, müssen die Verabreichungen jedes Mal in die Patientenakte eingetragen werden. Ansonsten besteht das Risiko einer ungewollten Doppelmedikation.
In Anna Lises Akte hatte der Arzt festgelegt, dass ihre liebevolle Begleitung in der Einstellung der Antibiotika-Therapie bestand und die Pflegekräfte die Schläuche zur Sauerstoffgabe entfernen sollten. Sollte Anna Lise im Anschluss daran aufhören zu atmen, sollte das Personal weder den Alarm auslösen noch Wiederbelebungsversuche starten. Das entsprach auch dem Wunsch der Familie, unter anderem der Tochter, mit der der Arzt telefoniert hatte.
„Sie und der Sohn der Patientin sind überzeugt, dass die Patientin keine Behandlung wünscht, deren einziges Ziel die Wiederherstellung des Zustands unmittelbar vor der Aufnahme ins Krankenhaus ist“, wurde nach dem Gespräch mit der Familie in der Akte notiert. Der Arzt ergänzte dann eine Bedarfsmedikation über maximal 2,5 Milligramm Morphin und 2,5 Milligramm Stesolid, falls die Pflegekräfte eine „Schmerzbehandlung/Angstbehandlung“ für erforderlich hielten. Die Patientin hatte bereits um 14:15 Uhr 2,5 Milligramm Stesolid erhalten, und zwar intravenös über einen Tropf. Diese Medikamente waren ihr etwa eine Dreiviertelstunde nach der Aufnahme verschrieben worden, weil sie zu diesem Zeitpunkt sehr unruhig gewesen war. Sie hatte nicht gewollt, dass das Personal sie berührte, weil sie so wund war. Doch das Stesolid half ihr, sich zu entspannen. Seitdem hatte sie ruhig in ihrem Bett gelegen.
Obwohl alle davon ausgegangen waren, dass Anna Lise bald sterben würde, überraschte es Marlene, dass Christina die Frau auf Zimmer 31 leblos vorgefunden hatte.
Etwa zwei Stunden, bevor die Nachtschicht eingetroffen war, war Marlene bei Anna Lise gewesen und hatte sie gefragt, ob sie Hunger hätte. Die Patientin war wach und bestätigte ihr das. Als die Krankenschwester Anna Lise fütterte, war sie überrascht, wie viel Kartoffelpüree mit Soße die Patientin aß und wie viel Wasser sie trank. Sie bekam außerdem eine Kaltschale mit Vanilleeis zum Dessert. „Eine große Portion“, notierte die Schwester um 17:30 Uhr in der Akte, nachdem Anna Lise sich wieder im Bett zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte. Kurz darauf wurde der Zustand der Patienten beim Ärztekonsilium besprochen. Ihr Fall kam auf die Tagesordnung, weil der vorherige Gruppenleiter Anders gesehen hatte, wie sich Anna Lise im Bett aufgesetzt hatte. Auf ihn hatte sie munterer gewirkt als bei ihrer Einlieferung, und es schien ihr besser zu gehen. Und jetzt konnte Marlene auch noch berichten, dass sie gut gegessen hatte. Einem der Ärzte waren Zweifel gekommen. Nach der Besprechung ging er daher mit einem Kollegen noch einmal in ihr Zimmer, um die Situation erneut zu bewerten. An der Behandlungsvorgabe „liebevolle Begleitung“ änderte das jedoch nichts. Marlene hatte Anna Lise weiter im Auge behalten und dabei festgestellt, dass sie nicht mehr vollständig wegdämmerte. Die Krankenschwester sah etwa alle zwanzig Minuten nach der Patientin, wenn sie an ihrem Zimmer vorbeikam, und jedes Mal bemerkte sie, wie Anna Lise die Decke oder ihr Nachthemd zwischen den Fingern ihrer rechten Hand bewegte. Sie hatte also immer noch Kraft, dachte Marlene. Zum letzten Mal sah sie die Frau auf Zimmer 31 etwa zu der Zeit, als Pernille und Christina zum Dienstantritt auf der Station eintrafen. Auch da bewegten sich Anna Lises Finger noch.
Marlene und Christina gingen zu dem Zimmer, in dem Anna Lise allein lag. Christina wollte vom Flur aus gesehen haben, dass die Patientin nicht mehr atmete? Das wunderte Marlene, genauso wie die Tatsache, dass sie nicht hineingegangen war, um ihren Verdacht zu überprüfen. Die beiden Kolleginnen standen je an einer Seite des Bettes. Es war schwer, eine Stelle an Anna Lises Körper zu finden, an der man einen Puls fühlen konnte. Sie befestigten einen kleinen Klipp am Finger der Patientin – er gehörte zu einem Gerät, das den Puls und die Sauerstoffsättigung im Blut maß. Das Gerät zeigte, dass Anna Lise nicht tot war. Sie atmete ganz schwach. Doch die Sauerstoffsättigung war sehr niedrig, stellte Marlene fest. ‚Und sie ist so blass!‘, dachte Marlene. Anna Lise war viel blasser als noch wenige Stunden zuvor beim Essen.
Die Patientin war nicht mehr ansprechbar, und Christina schlug vor, ihr ihren eigenen Pullover anzuziehen, damit sie hübsch aussah, wenn die Angehörigen kamen. Sie mussten gleich da sein. Ein Arzt hatte sie bereits angerufen. Sie würden sich jetzt verabschieden müssen.
*
Am Telefon war schwer zu verstehen, was er sagte. Der Arzt aus dem Krankenhaus Nykøbing Falster sprach gebrochen Dänisch, und Mona Jørgensen musste ihn mehrmals bitten zu wiederholen, was er ihr über ihre Mutter zu erzählen versuchte. Schließlich wies sie ihn an, einen Kollegen zu suchen, der das Ganze besser erklären konnte. Auch der nächste Arzt, den sie kurz darauf am Telefon hatte, war ausländischer Herkunft und ebenfalls schwer zu verstehen. Doch Mona konnte zumindest das Wichtigste aufschnappen: Wenn sie sich von ihrer Mutter verabschieden wollte, sollte sie besser sofort nach Nykøbing Falster kommen.
Die Familie hatte sich darauf eingestellt, dass Anna Lise nicht mehr viel Zeit hatte. Am Tag zuvor hatte Mona ihre Mutter im Pflegeheim in Rødby besucht. Anna Lise hatte nur auf dem Rücken gelegen und mühsam geatmet, als sie ihr zum sechsundachtzigsten Geburtstag gratuliert hatten. Sie war während der gesamten Stunde, die Mona und ihre Cousine am Bett gesessen und Kaffee getrunken hatten, nicht ansprechbar gewesen. Daher war Mona am Samstag, als sie im Provinzkrankenhaus angekommen war, überrascht zu hören, dass ihre Mutter tagsüber gut gegessen hatte.
Mona hatte ihre Tochter mitgebracht, und sie waren kurz nach dem Anruf des Arztes in Kopenhagen losgefahren. Gegen 19:20 Uhr trafen sie in der Notaufnahme ein. Zu dieser Zeit lag Anna Lise im Bett und wirkte genauso wie am Tag zuvor im Pflegeheim: völlig abwesend, die Arme schlaff neben dem Körper auf dem Bett, der Mund leicht geöffnet, weil die Kiefermuskeln nicht mehr stark genug waren, um ihn geschlossen zu halten. Anna Lise sah aus wie jemand, der bald sterben würde.
Nach einem Gespräch mit den Ärzten wurde die Zimmertür geschlossen. Mona saß mit ihrer Tochter erst am Bett, dann ging sie den Flur hinunter zu der Nische, wo die Angehörigen sich Kaffee holen konnten. Kurz darauf kehrten sie mit zwei dampfenden Bechern ins Zimmer zurück. Sie unterhielten sich in der Stille zwischen den abgeschalteten Geräten, die bewusst nicht an den Menschen zwischen ihnen angeschlossen waren. Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis sie bemerkten: Anna Lises Atmung veränderte sich. Dann ebbte sie ab. Wurde langsamer. Die Abstände zwischen den Atemzügen wurden immer größer. Dann kamen sie stoßweise. Bis sie schließlich ganz aufhörten.
Sie verabschiedeten sich von ihr. Sie öffneten die Fenster einen Spalt weit und saßen da, ohne etwas zu sagen. Dann ging Monas Tochter hinaus und benachrichtigte eine Krankenschwester, dass ihre Großmutter gestorben war.
Kurz darauf betrat eine Ärztin das Zimmer.
Um 20:37 Uhr wurde Anna Lise Poulsen in Zimmer 31 für tot erklärt.
Es war an diesem Abend bereits das zweite Mal, dass die Ärztin hier in Akut 3 jemanden für tot erklären musste. Wenige Minuten zuvor war sie in einem anderen Zimmer ein Stück den Flur hinunter gewesen, in dem ein älterer Mann gestorben war.
*
Viggos Zustand hatte sich verschlechtert, nachdem seine Familie gegen 20 Uhr gegangen war.
Kurz zuvor war Tina, Viggos Lebensgefährtin, am Büro vorbeigekommen. Christina und Pernille saßen vor ihren Computern, quittierten Medikamentenausgaben und trugen Informationen in Patientenakten ein, als Tina in die Tür trat. Sie fragte Pernille, ob die Familie nicht vielleicht nach Hause fahren, ein wenig schlafen und morgen wiederkommen könne. Für die Krankenschwester klang das vernünftig. Tina und ihre Stieftochter hatten bereits viele Stunden im Krankenhaus verbracht, und Pernille versprach anzurufen, wenn sich Viggos Zustand veränderte. Zu diesem Zeitpunkt deutete nichts darauf hin, dass der Sechsundsechzigjährige kurz darauf sterben könnte.
Viggo war am Nachmittag mit dem Krankenwagen aus seinem Backsteinhaus auf Lolland hergebracht worden. In den letzten Tagen war er kaum vom Sofa aufgestanden. Sonst hatte Tina immer sehen können, dass es ihm besser gegangen war, wenn er nach seiner Blasenkrebsbehandlung aus dem Krankenhaus Næstved zurückkam. Er hatte bereits Mundhöhlenkrebs überstanden, und die Familie hoffte, dass die Ärzte Viggos erneute Krebserkrankung genauso erfolgreich würden behandeln können. Doch in den letzten Tagen war es plötzlich bergab gegangen. Und Tina hatte an seinem rasselnden Atem hören können, dass Viggo jetzt auch Wasser in der Lunge hatte. Vermutlich wurde das durch eine Lungenentzündung verursacht, befanden die Ärzte im Krankenhaus Nykøbing Falster, als er eingeliefert wurde. Der Mann sollte daher Antibiotika bekommen. Außerdem würde man ihm Sauerstoff verabreichen und sämtliche Hilfe geben, die er benötigte. Doch der Arzt hatte in der Akte auch notiert, dass Viggo „kein Kandidat für Wiederbelebung“ sei. Dafür sei der Sechsundsechzigjährige zu schwach.
Tina hatte erfahren, dass Viggos Zustand kritisch war, doch nach etwa vier Stunden im Krankenhaus meinte sie, sehen zu können, dass es ihm besser ging. Die hohen Infektionswerte, über die sie die Sanitäter des Rettungsdienstes am Nachmittag vom Beifahrersitz des Krankenwagens aus hatte sprechen hören, fielen wieder. Daran dachte Tina, als sie mit ihrer Tochter zum Bahnhof in Nykøbing Falster ging, nachdem sie sich von Schwester Pernille verabschiedet hatten. Unterwegs rief Tina ihre Freundin an und erzählte ihr, dass sicher alles gut werden würde. Viggo war auf dem Weg der Besserung. Doch als sie schon fast am Bahnhof waren ‒ sie konnten ihn bereits in der Kurve hinter dem McDonald’s sehen ‒, erhielt Tina einen Anruf. Im Display ihres Telefons stand eine unbekannte Nummer. Der Anruf kam aus dem Krankenhaus. Sie kehrten um und liefen eilig den gleichen Weg zurück.
Christina hatte das Büro verlassen, kurz nachdem Viggos Familie gegangen war. Pernille blieb sitzen und studierte die Monitore, die im Raum an der Wand hingen. Die halbe Wand war mit Displays gefüllt, die Ausschläge von Geräten zeigten, an die einige der Patienten in den Zimmern angeschlossen waren. Geräte zur Überwachung des Herzschlags. Klipps zur Messung der Sauerstoffsättigung. Eine Blutdruckmanschette, die so eingestellt werden konnte, dass sie in regelmäßigen Abständen aufgeblasen wurde und die Werte an das Büro und den Medikamentenraum übermittelte, wo ebenfalls Monitore hingen.
In Viggos Zimmer hatten die Pflegekräfte die Überwachungsgeräte eingeschaltet. Und nun ertönte ein hoher Piepton von dem Monitor, der Viggos Zimmer überwachte. Einer der Werte des Patienten war unter die Alarmgrenze gefallen. Die Sauerstoffsättigung ‒ der Wert, der anzeigte, ob Viggos Atmung ausreichte, um das Blut mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Wegen seiner Lungenentzündung war die Alarmgrenze etwas niedriger eingestellt als normal. Doch jetzt war der Wert unter achtzig gefallen und hatte den Alarm ausgelöst. Pernille wandte sich zum Monitor. Viggos Sauerstoffsättigung fiel weiter.
Manchmal wurde so ein Alarm ausgelöst, weil der Messklipp vom Finger des Patienten gerutscht war. Pernille ging in Zimmer 35 und prüfte das Gerät. Sie korrigierte den Klipp und sah prüfend auf den Bildschirm neben Viggos Bett. Doch das änderte nichts. Es gab keinen Ausschlag. Es gab also nichts, was die Schwester jetzt tun konnte oder sollte. Der Patient atmete mit langen Unterbrechungen. Eine lange Pause. Dann ein spontaner Atemzug. Eine lange Pause. Ein Atemzug. Pernille sah sich um. Konnte sie etwas Verdächtiges im Zimmer entdecken? Nicht auf den ersten Blick.
Sie sah, dass der Infusionsbeutel mit Antibiotika, den die Tagschicht an den Ständer gehängt hatte, leer war. Die Medikamente waren durchgelaufen. Pernille wollte ihn gegen den vorbereiteten Beutel tauschen, der im Medikamentenraum lag. Doch dann fiel ihr Blick auf den Schlauch, der zu Viggos Handrücken führte.
Fast alle Patienten, die in die Notaufnahme kommen, erhalten bei der Aufnahme eine Braunüle ‒ auch Venenkatheter genannt ‒ in den Handrücken oder die Ellbogenbeuge. Die Braunülen ermöglichen dem Personal den direkten Zugang zur Blutbahn. Sie bestehen aus einer dünnen Kanüle, die in das Blutgefäß eingeführt und mit Pflastern auf der Haut befestigt wird. Die Kanüle geht in einen Schlauch über, der zum Infusionsbeutel führt, der am Ständer über dem Bett hängt und in den das Personal Medikamente und Flüssigkeit füllen kann. Im unteren Teil des Schlauchs ist eine kleine Vorrichtung aus Kunststoff angebracht ‒ der sogenannte Zuspritzport ‒, in deren kleine Kammer das Personal Medikamente spritzen kann, ohne dafür jedes Mal eine neue Kanüle in die Haut stechen zu müssen. Der Zuspritzport verfügt über einen Drei-Wege-Hahn. Den müssen die Pflegekräfte durch Drehen öffnen, bevor sie Medikamente einspritzen. Und wenn sie ihn wieder geschlossen haben, verschließen sie den Port mit einem Stopfen, damit sichergestellt ist, dass darüber keine Bakterien in die Blutbahn gelangen.
Pernille sah, dass der Stopfen auf Viggos Zuspritzport nicht aufgeschraubt war. Sie sah genauer hin. In der kleinen Kammer befanden sich Reste einer milchigen Flüssigkeit, die injiziert worden sein könnte. Welche Substanz war milchig? Pernille ging im Kopf durch, welche Medikamente im Medikamentenraum standen. Ihr fiel nur eines ein, das weiß war. Dickflüssig, klebrig und hoch wirksam: Stesolid. Hatte Viggo Stesolid im Blut? Pernille spürte, wie ihr eigenes Blut ihr sprichwörtlich in den Adern gefror. Was sollte sie tun? War das, was sie befürchtet hatte, jetzt eingetreten? Ihr fiel keine vernünftige Erklärung ein, warum Viggo Stesolid erhalten haben könnte. Das starke Medikament wird Patienten verabreicht, die Angst haben, unruhig sind oder plötzlich krampfen, nicht Menschen, die still in ihrem Bett liegen und immer wieder einschlafen. Zum ersten Mal hatte Pernille vielleicht so etwas wie einen Beweis für ihren Verdacht in der Hand. Aber reichte das aus?
Pernille ging das Ganze erneut durch. Es gab zwei Personen in der Abteilung, die sich um Viggo kümmern sollten. Die eine war Pernille. Als Gruppenleiterin trug sie die Verantwortung. Und dann war da noch ihre Kollegin, die Sozial- und Gesundheitsassistentin, die auch wie sie für die Patienten in den Zimmern 35 bis 38 zuständig war. Doch die Assistentin hatte mit einem Patienten in Zimmer 38 zu tun gehabt, der das Bett eingenässt hatte, übergewichtig war, ein Blutgerinnsel im Gehirn hatte und daher kaum bewegt werden durfte.
Blieb nur noch Christina. Sie musste hier gewesen und die weiße Substanz in Viggos Tropf gespritzt haben. Pernille war sich sicher. Sie beugte sich über das Bett und machte mit ihrem iPhone ein Foto vom Zuspritzport. Es war 20:19 Uhr, wie sie feststellte, als sie die Kamera auf Viggo richtete. Das war der Zeitpunkt, an dem Pernille überzeugt war, den ersten Beweis dafür gefunden zu haben, dass Christina Patienten tötete.
Pernille entfernte das Infusionsset aus Viggos Hand und vom Ständer über dem Bett. Sie verließ Zimmer 35, betrat den Flur und versuchte, sich ruhig in Richtung Spülraum zu bewegen, während sie das Infusionsset so vorsichtig trug, als wäre es zerbrechlich.
Sie versuchte, auszusehen wie jemand, der einfach seiner Arbeit nachging. Eine Arbeit, bei der Krankenschwestern jederzeit Infusionsbeutel durch die Gegend trugen, wenn diese ausgetauscht werden müssen.
Im Spülraum wurden Bettpfannen und andere Dinge gelagert. Dort gab es auch Boxen für die Entsorgung von Medikamentenresten. Pernille versteckte Viggos Infusionsbeutel mit Schlauch und dem, was nach einem Rest Stesolid in der Kunststoffkammer aussah, in einer der gelben, hohen Plastikbehälter. Sie war sicher, ihn am nächsten Morgen sofort wiederfinden zu können. Die Schicht dauerte noch mehr als zehn Stunden.
Viggo war noch am Leben. Pernille wusste, dass es ein Gegenmittel gegen das Medikament gab, das sich ihrer Überzeugung nach in seiner Blutbahn befand. Aber sie holte es nicht. Sie konnte nicht beweisen, dass Christina zum Tatzeitpunkt in Zimmer 35 gewesen war. Vielleicht war der Gegenstand im Spülraum ein Beweis. Aber was genau bewies er eigentlich? Konnte er Christina überhaupt mit dem Vorfall in Verbindung bringen? Pernille musste einen kühlen Kopf bewahren. Sie entschied sich, so zu tun, als sei nichts gewesen. Und sie ging in den Medikamentenraum und holte die frische Antibiotika-Infusion. Es schien zwar sinnlos, den Beutel aufzuhängen, obwohl Viggo höchstwahrscheinlich bald sterben würde. Doch sie spürte, dass sie etwas tun musste. Irgendetwas. Dann ging Pernille zurück ins Büro. Dass sie an diesem Abend nicht versucht hat, Viggo zu retten, hat Pernille seitdem nicht mehr losgelassen.
Christina kam kurz darauf über den Flur gelaufen. Sie winkte Pernille in Viggos Zimmer, und die beiden Krankenschwestern schauten nach ihm. Von dem Medikament, das Pernille im Beutel über seinem Bett aufgehängt hatte, war noch fast nichts in den Schlauch gelaufen. Viggo atmete nicht mehr.
Da Viggo Pernilles Patient war, überprüfte sie seinen Puls. Sie konnte keinen feststellen. Sie hob seine Augenlider an und leuchtete mit einer kleinen Lampe in die Pupillen. Keine Reaktion. Währenddessen stand Christina daneben und sah zu. Pernille tat sich schwer damit, aber es war, als hätte ein Überlebensmechanismus von ihrem Körper Besitz ergriffen. Eine Art Autopilot, der dafür sorgte, dass Pernille sich verhielt wie eine ganz normale Krankenschwester, die völlig unauffällig ihre Arbeit tat.
Sie öffneten das Fenster. Das taten sie immer, wenn ein Patient gestorben war ‒ damit die Seele den Raum verlassen konnte. Dann begann in Zimmer 35 ein stilles Ritual. Pernille und Christina machten den Patienten „zurecht“. Sie schalteten die Geräte ab, die vor zwanzig Minuten Alarm geschlagen hatten, entfernten Schläuche und die Braunüle aus seiner Hand. Sie zogen ihm ein anderes Hemd an. Sie falteten ein zusätzliches Laken so, dass man es später leicht über das Gesicht des Patienten legen konnte, wenn er weggebracht wurde. Zum Schluss zündeten sie eine elektrische Kerze an und legten das Gesangbuch, das sonst fast vollständig von der Station verschwunden war, auf den Nachttisch. Pernille und Christina halfen einander, wie sie es bereits viele Male zuvor getan hatten. Pernille merkte ihrer Kollegin nichts an. Sie wirkte wie immer. Unbeeindruckt. ‚Eigentlich sogar gut gelaunt‘, dachte Pernille. Und Christina empfand das Gleiche. Sie sagte später, dass sich Pernille in dieser Situation verhalten habe wie immer.
Der Anruf, den Tina erhalten hatte, war von Pernille gekommen. Als Tina und ihre Tochter wieder im Krankenhaus ankamen, war Viggo Holm Petersen bereits für tot erklärt worden. Sie waren geschockt. Gegen 17, 18 Uhr war er noch wach gewesen. Tina, ihre Tochter und der Schwiegersohn hatten bei ihm gesessen. Der Sohn des Schwiegersohns hatte sich zu Viggo ins Bett gelegt, und Viggo hatte ihm mit dem Finger in den Bauch gepikt und ihn gekitzelt. Sie hatten beide gelacht. Viggo war immer ganz in seinem Element, wenn Kinder da waren. Und Tina hatte wieder diesen Funken in den Augen ihres Vaters bemerkt, der in den letzten Tagen schon erloschen war. Sie hatte Viggo zum Abschied einen Kuss gegeben und gesagt „Bis später“, weil die Pflegekräfte ihr gesagt hatten, dass zu diesem Zeitpunkt nichts darauf hindeutete, dass es dazu nicht mehr kommen würde.
Pernille konnte hören, wie die Tochter weinend zusammenbrach, als sie ihren Stiefvater von der Tür zu Zimmer 35 aus erblickte.
Die Ärztin erklärte Viggo um 20:30 Uhr für tot. Danach ging sie über den Flur in das Zimmer von Anna Lise und wiederholte den Vorgang. Vorhin, als Pernille Christina im Büro hatte sagen hören, dass die ältere Dame nicht mehr atmete, hatte sie Niels eine SMS geschickt.
„Jetzt haben wir den ersten Todesfall …“, hatte darin gestanden.
Um 21:00 Uhr ging auf dem Telefon des Arztes eine weitere Nachricht ein.
„Nummer 2. Und ich habe keinen Zweifel mehr.“
*
Pernille schloss sich im Medikamentenraum ein und rief Niels an. Als die elektrische Tür ins Schloss gefallen war und sie dort zwischen all den Ampullen und bunten Medikamentenschachteln stand, fiel sämtliche Professionalität von ihr ab. Sobald sie hören konnte, dass sie ihren Freund zu Hause erreicht hatte, brach sie zusammen. Und während sie in dem kleinen Lagerraum umherwanderte, wiederholte sie immer wieder:
„Sie war es, verdammt noch mal! Ich bin sicher, dass sie es war. Sie benutzt Stesolid, Niels. Verdammt, sie tut es wirklich.“
Der Freund versuchte, Pernille zu beruhigen. Und beschloss, von zu Hause aus die Kontrolle über die Situation zu übernehmen ‒ denn Pernille hatte sie vollständig verloren.
Niels’ Plan sah so aus: Sie sollte versuchen, die Schicht durchzustehen, ohne dass Christina bemerkte, dass sie durchschaut worden war. Und Pernille sollte versuchen, weitere Beweise zu finden. So, wie sie es bereits mit dem Infusionsbeutel und dem Foto gemacht hatte, das sie auf dem Telefon hatte. Niels würde am nächsten Morgen früh ins Krankenhaus kommen, und dort würde er Pernille in seinem Büro treffen und sich auf den neuesten Stand bringen lassen. Egal, was noch passierte, Pernille musste die Schicht durchhalten ‒ es war wichtig, dass sie das gemeinsam durchstanden und sich völlig sicher waren, bevor sie die Behörden einschalteten, betonte Niels.
Pernille spürte, dass ihr seine Worte halfen. Sie fühlte sich nicht mehr so allein in dem kleinen Raum. Und, was am wichtigsten war: Sie hörte Niels an, dass sich etwas verändert hatte. Zum ersten Mal konnte Pernille spüren, dass er ihr tatsächlich glaubte.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als die Schiebetür aufging, weil eine Krankenschwester auf der anderen Seite der Tür ihren RFID-Schlüsselanhänger gescannt hatte. Es war Christina. Pernille hätte nicht vor ihr verbergen können, dass sie aufgewühlt war. Daher tat sie so, als würde sie über ihren Hund sprechen, dem es plötzlich schlecht ging. Mit den Worten: „Aber jetzt muss ich mal wieder an die Arbeit gehen“, beendete sie das Telefonat mit Niels.
Offenbar hatte Christina ihr die Ausrede abgekauft, dachte Pernille, als sie den Flur hinunterging. Sie konnten ihren Plan weiter verfolgen. Es dauerte nicht lange, bis der Herzalarm wieder ertönte. Er kam aus Zimmer 30 ‒ einem von Christinas Zimmern.