Читать книгу Im Staub sollst du kriechen - Kristin Adler - Страница 10

5.

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Simon beobachtete Clara durch das Fenster. Er bemitleidete sie, als er sie mit Kommissar Hartmann sah und umso mehr, als er erkannte, wer vor dem Auto auf sie wartete. Sichtlich unwohl ging sie auf ihn zu, und nicht zum ersten Mal nahm Simon diesen leicht gequälten Blick an ihr wahr.

Leidensmiene nannte Dora das, obwohl Dora Clara mochte und im übrigen gut damit leben konnte, wenn Menschen in ihrer Gegenwart litten, Hauptsache sie taten es nicht zu laut und zu auffällig. Clara war diesbezüglich anspruchslos. Sie würde einen netten Smalltalk nie mit eine Bemerkung über eine drohende Depression stören oder mitten in der Nacht anrufen.

Clara ist genauso pflegeleicht wie ich, ging es Simon durch den Kopf. Deswegen darf sie mit Dora befreundet sein und ich mit ihr verheiratet.

Manchmal trafen sich ihre Blick, wenn Dora vor versammelter Runde einen ihrer großen Auftritt hinlegte. Nie hatte er Verachtung darin gelesen, aber immer Verständnis - und ein ganz klein wenig Überdruss.

Clara hatte das Auto erreicht, und der Mann sprach auf sie ein, ohne dass Simon ihr Gesicht sehen konnte. Vorhin war es ihm sehr blass vorgekommen, was vielleicht nicht nur an dem Schock, sondern an dem rosa Pulli lag.

„Ich verstehe nicht, warum sie keine kräftigeren Farben trägt“, hatte Dora mal gesagt. Sie selber sparte an diesen kräftigen Farben nicht und genoss es, der absolute Hingucker bei jeder Gesellschaft zu sein. „Clara ist doch eigentlich eine hübsche Frau. Na gut, ihre Haare sind ein wenig zu dünn; einen etwas dunkleren Farbton würde sie auch vertragen, und in ihrem Gesicht, da müsste sie andere Konturen setzen, aber ansonsten kann man was aus ihr machen. Hast du mal Hochzeitsfotos von ihr und Philip gesehen? Da hatte sie natürlich einen Visagisten.“

Simon kannte die Hochzeitsfotos, aber Clara war ihm darauf nicht sonderlich aufgefallen. Dora hingegen – ab diesem Tag nicht mehr nur Claras Freundin, sondern auch ihre Schwägerin – hatte sich gekonnt in Szene gesetzt.

„Ich habe die beiden verkuppelt“, behauptete sie, solange Philip und Clara noch glücklich verheiratet gewesen waren. „Wie kommt ihr auf die Idee, dass ich sie verkuppelt habe?“, fragte sie irritiert nach ihren Scheidung, um hinzuzufügen: „Ich habe doch gleich gesehen, dass sie nicht zusammenpassten.“

Simon überlegte, ob er hinausgehen und Clara helfen sollte, aber er wusste nicht wie. Eigentlich war er nie mit ihr allein.

„Immer noch hier?“

Hartmann kaute an einem zähen Brezel. In seinem Schlepptau hatte er einen seiner Mitarbeiter, den Simon nicht kannte und aus dessen Mundwinkel eine Zigarette hing.

„Ich verstehe gar nicht, wie du noch rauchen kannst, Mike“, sagte Hartmann nuschelnd zu ihm. „Wär’ mir zu schade ums Geld ... Also Kollege Fabiani, was machen Sie noch hier?“

Simon war es unangenehm, in Hartmanns Augen zu sehen. Der betonte das I am Ende seines Namens immer so unnatürlich, als wäre die Tatsache, dass ihm irgendein italienischer Vorfahre diesen Nachnamen eingebrockt hatte – während er doch weder schwarze Haare noch funkelnde Augen noch irgendwelche Machoqualitäten hatte - ein weiterer Minuspunkt. Nicht, dass der noch besonders zählte. Er hatte einen nutzlosen Beruf. Man hatte ihn nach Frankfurt versetzt, ohne dass sich die dortigen Kollegen rechtzeitig beschweren konnten. Und das Allerschlimmste: Er selbst hatte um die Versetzung angesucht, anstatt beim BKA in Wiesbaden zu bleiben.

„Ich will den Tatort ...“, setzte Simon an.

„Spusi ist bald fertig“, fiel Hartmann ihm ins Wort und wandte sich an Mike. „Keine nennenswerten Spuren. Der Täter scheint nach dem Mord einfach seelenruhig rausspaziert zu sein. Bei der Tat selber ist er äußerst geschickt vorgegangen. Fingerabdrücke, Stofffasern – alles Fehlanzeige. Ich glaube nicht, dass wir den Raum versiegeln müssen. Leiche ist schon ab zur Gerichtsmedizin. Da kann sich unser Doktor Tod 'nen schönen Nachmittag mit machen. In einer halben Stunden ist Besprechung im Präsidium.“

„Hat die Museumsmaus ein Alibi?“, fragte Mike.

Hartmann konnte nicht antworten, er kaute an einem besonders zähen Bissen Brezel.

„Ja, das hat sie“, erklärte Simon und blickte Hartmann erstmals in die Augen. „Clara Mohr ist die Freundin meiner Frau. Sie war gestern Abend bei uns. Der Arzt meinte vorher, dass Nicholas Roth seit mindestens zwölf Stunden tot ist.“

„Kannten Sie den Toten womöglich auch?“

Simon sah Hartmann an, dass er eine Chance witterte, den lästigen Mitarbeiter loszuwerden. ‚Persönlich involviert’ hieß das Zauberwort.

„Nein, Nicholas Roth kannte ich nicht“, erklärte er, um ohne Pause fortzufahren: „Und ich bin noch hier, weil uns der Tatort über die Spurensicherung hinaus noch eine Menge verraten könnte.“

„Ach ja? Was uns der Tatort sagt? Lassen Sie mich mal überlegen ... ich weiß zwar nicht, ob ich ohne die Nachhilfe eines Klugscheißers draufkomme, aber ... ich tippe mal, der Täter kam mit Mordabsichten, weil man nicht so zufällig eine Schusswaffe und eine Axt mit sich rumträgt. Und da es hier nirgendwo Fingerabdrücke gibt, wird er wohl Handschuhe getragen haben.“

„Die Frage ist doch: Wenn der Täter Nicholas Roth kannte, hätte er ihn auch woanders töten können“, meinte Simon und tat so, als hätte er Hartmanns höhnischen Unterton überhört. „In seiner Berliner Wohnung oder in dem Hotelzimmer, das er hier in Frankfurt hatte.“

„Hier war er ungestört.“

„Kann sein. Aber interessant ist doch, dass dieses Umfeld Nicholas Roths Beruf entspricht. Womöglich richtet sich die Tat nicht gegen ihn als Privatperson, sondern als künftigen Museumsdirektor.“

„Gut“, sagte Hartmann sarkastisch, „jetzt müssen wir nur mehr klären, warum der Mörder Nicholas Roth niedergeschlagen, gefesselt und geknebelt hat, warum er ihn danach auszog, ihm seine Nase kaputt trat und ihm seine Hand abhackte.“

„Erst danach hat er ihn übrigens erschossen“, sagte Simon schnell. „Das heißt, er wollte ihm durchaus Schmerzen zufügen. Allerdings hat er ihn nicht langsam zu Tode gefoltert.“

„Tja, und dann bleibt noch zu klären, warum Roths Füße mit Teer bestrichen waren. Und warum man auf seinen Rücken Federn klebte. Ist doch ganz nachvollziehbar, dass man so etwas tut, oder?“

Simon ignorierte Hartmann und ging nachdenklich durch den Raum. „Er hat ihn nicht nur verstümmelt und getötet“, stellte er fest. „Der Mörder hatte ein Interesse daran, ihn über den Tod hinaus zu demütigen, ihn bloßzustellen – deswegen die Nacktheit. Und was den Rest anbelangt, glaube ich nicht, dass irgendein Detail dem Zufall entsprang. Der Mörder wusste, was er wollte, er hat sich einen entsprechenden Plan zurechtgelegt – und er hat ihn Schritt für Schritt umgesetzt. Er hat sich Zeit dafür genommen, um eine Botschaft zu vermitteln, quasi ein Statement über diesen Nicholas Roth abzugeben.“

„Clever kombiniert“, ätzte Hartmann und tauschte mit dem rauchenden Mike ein Grinsen. „Auf so eine Idee würde ein armes Hirn wie ich nie kommen. Na Gott sei Dank haben wir einen Psychologen, der uns das sagen kann. Haben Sie zufällig schon rausgefunden, ob der Täter als Kind Bettnässer war?“

Simon hatte gehofft, dass Hartmann es besser wüsste als die meisten Menschen, die Profiler für Psychologen hielten und glaubten, dass sie in erster Linie die Psyche des Täters ergründeten.

„Ich bin kein Psychologen, sondern Kriminalbeamter wie Sie“, erklärte Simon, „ich war jahrelang im Deliktsbereich tätig – erst danach habe ich die Ausbildung als Fallanalytiker begonnen.“

Hartmann ging nicht darauf ein. „War er nun ein Bettnässer oder nicht?“

„Es geht hier nicht um die Persönlichkeitsmerkmale des Täters. Sein Profil ist völlig sekundär. Es geht um die Analyse seines Verhaltens. Wir müssen aus der objektiven Spurenlage den Tathergang rekonstruieren. Dabei ist es legitim, verschiedene Vermutungen aufzustellen – auch wenn sich die später vielleicht als hinfällig erweisen. Das ist wie eine Art ... Brainstorming.“

„Ach du Scheiße!“, stieß Hartmann aus.

Mikes Grinsen wurde breiter. „Wenn jede Vermutung erlaubt ist, will ich es mal versuchen“, mischte er sich ein. „Dieser Typ da, der Tote, steckte in irgendeiner unschönen Sache drin. Und jetzt hat man ihm sein Händchen abgehackt, damit er nie wieder etwas Böses anstellen kann.“

„Und warum dann der Teer auf Beinen und Rücken?“, fragte Hartmann.

„Nun“, Mike zuckte mit den Schultern. „Als Zeichen, dass er mit beiden Beinen in der Scheiße steckte, sich förmlich darin gewälzt hat. Und dafür hat er nun eine auf den Deckel bekommen.“

Obwohl Simon sich sicher war, dass der junge Beamte ihn nur verarschen wollte, ging er darauf ein.

„Da könnte was dran sein“, sagte er, „aber in erster Linie gilt es nicht zu analysieren, was der Täter beabsichtigt hat und warum, sondern wie er vorgegangen ist. Und das erscheint sehr planmäßig, durchdacht, gründlich. Ich glaube ...“

„Wir machen’s wir auf meine Weise“, unterbrach Hartmann ihn deutlich rüder, ehe er sich wieder an Mike wandte. „Dieses ganze diffuse Blabla bringt doch nix. Zum Täter führt uns das Opfer. Also will ich möglichst viel über das Opfer wissen. Wir rekonstruieren seinen gestrigen Tagesablauf. Und wir sprechen mit sämtlichen Bekannten, Kollegen, seiner Familie ... Seine Frau lebt ihn Berlin, ist das richtig?“

„Hast du nicht eben gesagt, dass wir eine Besprechung im Präsidium machen?“

Kurz schien Hartmann irritiert. „Klaro, dann können wir die Ermittlungsgruppen einteilen ... Darf ich davon ausgehen, dass Sie, Herr Kollege, noch am Tatort bleiben, der da ja so aufschlussreich ist?“

„Wir sollten noch eine Sache klären, nämlich ob ...“

„Ich habe vollstes Vertrauen in Sie, Fabiani ...“, Hartmann zog wieder das I in die Länge. „Gehen wir“, sagte er zu Mike.

Philip blieb am Auto gelehnt, als Clara ihn erreichte. Sein Lächeln war freundlich – zumindest konnte man es dafür halten, wenn man ihn nicht kannte.

„Wie geht es dir, liebe Clara, ich hoffe doch gut“, begann er mit samtiger Stimme. „Sicher hast du einen ganz tollen Vormittag gehabt, wenn auch sehr arbeitsreich, und deswegen hast du vergessen, unsere Tochter von der Vorschule abzuholen, obwohl das seit einigen Tagen so ausgemacht war. Aber macht ja nichts, darin bist du richtig gut, nämlich andere Menschen irgendwo ... sitzenzulassen. Mich hat eben die Schulleiterin angerufen. Katharina hat geweint.“

Philips Lächeln verstärkte sich, auch der letzte Satz war im gleichbleibenden freundlichen Singsang erklungen.

„Philip ...“

Clara zögerte. Sie wollte sich nicht rechtfertigen, denn aus Erfahrung wusste sie, dass Erklärungen alles noch schlimmer machten. Im besten Fall würde sie ein weiteres zynisches Lächeln ernten, im schlimmsten Fall würde ihr jene Mischung aus kindlichem Trotz und tiefer Kränkung entgegenschlagen, auf die nach Beziehungskrachs meist eisiges Schweigen gefolgt war.

Es liegt an dir, hatte dieses Schweigen verkündet, nur an dir. Ich biete dir ein traumhaftes Leben, alle Frauen beneiden dich, und du kannst einfach nicht glücklich sein.

Früher hatte sie den Fehler gemacht, ihm zu erklären, dass sich das Leben, das er ihr auf dem Silber– nein, dem Goldtablett servierte, auch nach fünf Jahren nicht wie das eigene anfühlte, sondern wie eine Filmrolle. Es war eine richtig tolle Filmrolle, sogar eine oskarträchtige, aber es war eben nicht die, die sie spielen wollte.

„Weißt du, Clara“, sagte Philip eben, und diesmal klang es nicht süßlich, sondern ernsthaft und nachdrücklich. „Weißt du ... du hast mich Knall auf Fall verlassen ... das ist in Ordnung, ich bin erwachsen, ich komme drüber hinweg. Aber du kannst dein Kind nicht verlassen, du kannst nicht ...“

„Jetzt hör aber auf!“, fiel sie ihm scharf ins Wort. Sie atmete tief durch. „Nicholas Roth ist tot“, fügte sie etwas gemäßigter hinzu.

Philip schwieg und gab ihr die Gelegenheit, ihn genauer zu mustern. Seine Kleidung war schlicht, aber elegant: ein schwarzer Boss–Anzug und ein weißes Hemd von Baldessarini, ausnahmsweise keine Krawatte darüber. Er trug die Haare jetzt kürzer, sportlicher, nicht mehr so wellig wie zu Beginn ihrer Ehe. Spitz standen sie vom Kopf weg, vielleicht hatte er sie gegelt, obwohl das nicht seine Art war. Schlicht, aber elegant war sein Motto, am besten von nichts zu viel: nicht zu laut, nicht zu heftig, nicht zu gefühlsgeladen.

„Triffst du dich etwas noch mit ... dem?“, fragte er kalt. Die zynische Phase schien abgeschlossen zu sein. Nicholas Roth und die zwei Nächte währende Affäre mit ihm war eine der schlimmsten Beleidigungen, die sie Philip je zugefügt hatte, fast so schlimm, wie ihn zu verlassen. Aber er war ja großmütig gewesen, geduldig mit ihr, nicht zu laut, nicht zu heftig, nicht zu gefühlsgeladen, er hatte ihr am Ende verziehen. Klar doch, sie hatte nur fremd gevögelt, weil sie so unter Druck stand, ach du Arme, es war nicht so, dass er kein Verständnis dafür hatte, aber jetzt reiß dich wieder zusammen.

Clara hatte sich nicht zusammengerissen.

„Er ... er wollte demnächst einen Job hier in Frankfurt antreten. Am Städel–Museum. Philip, er ist ermordet worden!“

Er kniff die Lippen zusammen, schien erst recht gekränkt, weil sie ihm nicht mal den gerechten Ärger gönnte.

„Ich wusste nicht, dass ihr noch Kontakt hattet“, bemerkte er spitz. „Weiß seine Frau davon?“

„Hörst du mir eigentlich zu? Er ist tot ... er ist in meinem Museum erschossen worden ... sie haben ihm ...“

„Und was hatte er bitte schön in deinem Museum verloren?“

„Das geht dich gar nichts an“, rief sie heftig, um dennoch kleinlaut hinzuzufügen: „Ich habe mich mit ihm zu einem späte Kaffee getroffen und danach wollte er etwas faxen oder kopieren oder was weiß ich und deswegen ...“

„Es stimmt“, fiel er ihr scharf ins Wort. „Es geht mich nichts an. Mir ist völlig egal, ob du mit ihm Kaffee getrunken oder gefickt hast. Glaub nicht, ich könnte einen Schlussstrich nicht akzeptieren. Du wolltest deine Freiheit – bitte schön: Jetzt hast du deine Freiheit. Aber leb sie bitte nicht auf Kosten unserer Tochter aus. Sie hat das nicht verdient.“

Mit einem Ruck erhob er sich, stieg ins Auto und schloss laut die Tür.

„Philip ...“

Er startete, und seine Worte wurden fast vom Motorenlärm übertönt. „Ich hole Katharina jetzt ab. Du musst dich heute nicht um sie kümmern. Aber wenn du sie noch einmal enttäuscht, dann musst du mit den Konsequenzen leben.“

Die Reifen quietschten, als er losfuhr. Er war kaum um die Ecke gebogen, als Clara ein kalter Tropfen traf. Sie blickte nach oben zum grauen Himmel, es begann wieder zu regnen.

Im Eingangsbereich traf sie auf Simon, er stand vor dem Museumsshop und musterte den Stand mit den Ansichtskarten.

Er fuhr auf, als er sie erkannte. „Clara ... gut, dass ich dich noch treffe ... es tut mir so leid, was geschehen ist.“

Seine Stimme war leise und sanft. Clara konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn jemals laut werden gehört hatte. Undenkbar, dass er mit Dora schrie. Undenkbar aber auch, dass er sich mit dieser sanften Stimme bei seinen Kollegen durchsetzen konnte.

„Du bist hier?“, fragte sie.

„Ja“, meinte er, irgendwie kleinlaut, „sie haben mich zu dem Fall gerufen ... das heißt, Bückner, der Leiter der Abteilung hat mich dazu gerufen. Hartmann war nicht so begeistert ... du kennst ihn ja mittlerweile“

Clara verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Hat man schon eine Ahnung, wer ... und warum ...“

Simon schüttelte den Kopf. „Die Ermittlungen stehen ganz am Anfang. Möchtest du dich setzen, du siehst blass aus.“

„Ehrlich gesagt möchte ich vor allem etwas essen“, bekannte sie.

Knapp fünf Minuten später erreichten sie das Schirn–Café. Der Weg dorthin führte durch einen Holzverbau entlang der Ausgrabungen einer römischen Siedlung. Sie betraten das Lokal, gingen an der langgezogenen, ellipsenförmigen Bar vorbei in den hinteren Teil und nahmen dort - vor einer grell gelben Wand und im Schatten zweier Säulen - Platz. Zum Essen bestellte Clara einen doppelten Espresso macchiato und eine Ingwer–Orange–Bionade. Als der Kaffee kam, nahm sie schnell ein paar kräftige Schlucke, spürte, wie sich Wärme in ihrer Brust verbreitete, sie kurz, sehr kurz alles vergessen konnte - das nasskalte Wetter, das frühe Aufstehen, den Schock über den Toten ... vor allem Philip und seine Vorwürfe.

Aber dann ging ihr auf, wie bitter der Kaffee schmeckte, sie hatte vergessen, ihn zu zuckern ... sie hatte auch Katharina vergessen, und das hätte ihr niemals passieren dürfen, nicht einmal an einem Tag wie heute, was war sie nur für eine Mutter.

„Wie gut kanntest du Nicholas?“

Simons Frage klang ehrlich interessiert, und sie vermutete, dass er nichts von ihrer Affäre mit ihm wusste. Warum auch, Dora würde mit ihm nicht über eine Sache reden, die nicht mit ihr selber zu tun hatte.

„Ein alter Bekannter“, log sie, „er ist einfach ein alter Bekannter. Ich verstehe überhaupt nicht, wie jemand so etwas tun kann. Warum ... warum hat man ihm die Hand abgehackt?“

Simon zuckte die Schultern. „Was weißt du über ihn?“, fragte er zurück.

„Er ist einige Jahre älter als ich, Ende dreißig, vielleicht hat er den Vierziger schon gefeiert. Seine Frau und seine Kinder leben noch in Berlin, aber wollte mit ihm demnächst nach Frankfurt ziehen. Eigentlich stammt er aus dieser Gegend, seine Frau auch. Wenn ich es recht im Kopf habe, wollte gerade sie immer nach Frankfurt zurück.“

„Kennst du sie?“

„Karola Roth? Nur flüchtig“, Clara dachte nach. „Sie haben sehr früh geheiratet, weil ein Kind unterwegs war.“

„Wie viele Kinder hatte er?“

„Zwei Söhne. Der erste muss so um die achtzehn sein, der zweite kam relativ knapp danach. Ich weiß gar nicht, ob er beim ersten schon Assistent an der Uni war, ich glaube er hat noch studiert.“

„Auch nicht leicht ... so ohne Kohle“, warf Simon ein.

„Ohne Kohle? Nicholas?“ Clara lächelte flüchtig. „Da irrst du dich. Nicholas kommt aus einem richtig reichen Stall. Sein Vater hatte ein eigenes Unternehmen, irgendetwas mit Autoteilen. Anfangs war es kaum mehr als eine Werkstatt, aber am Ende gab es mehr als zweihundertfünfzig Filialen in ganz Deutschland. Ich glaube, er wollte, dass einer seine Söhne das Geschäft übernahm, Nicholas oder sein Bruder, aber die haben sich gesträubt, wollten etwas anderes machen. Der Vater hat nur schwer verkraftet, dass Nicholas ausgerechnet so was Nutzloses wie Kunstgeschichte studiert hat, aber irgendwann hat er sich damit abgefunden. Er hat den Betrieb an einen Riesenkonzern verkauft, dem er bis dahin Konkurrenz gemacht hat. Da ging’s um zig Millionen Euro ... damals noch Mark. Auf jeden Fall reden wir von einem dreistelligen Bereich. Bald darauf ist er gestorben und hat alles den Söhnen vererbt.“

„Nicholas ist ... war also wohlhabend ...“

„Du meinst, das könnte ein Grund sein, dass man ihn...“

„Ich weiß nicht. Du hast einen Bruder erwähnt, kennst du auch ihn?“

„Alexander Roth? Auch nur flüchtig. Ich bin ihm ein–, zweimal begegnet, ich weiß gar nicht mehr, zu welchem Anlass. Vielleicht bei einer Geburtstagsparty. Er muss jünger sein als Nicholas ... ja, ganz sicher ist er das, Nicholas hat immer gesagt, dass er der Stammhalter ist. Alexander hat den Vater genauso enttäuscht wie der ältere Bruder. Kunstgeschichte interessierte auch ihn mehr als Autos. Er hat eine eigene Galerie, ich denke, sogar hier in Frankfurt. Müsstest du nicht eigentlich auf dem Präsidium sein? Hast du überhaupt Zeit, mit mir hier zu sitzen?“

„Ich bin nicht so gern dabei, wenn Hartmann das Revier absteckt. Ich bin dann meistens der erste, den er anpisst ... ’tschuldigung.“

„Schon gut.“ Clara lächelte. „Er ist ein ziemlicher Kotzbrocken, nicht wahr?“

„Er ist vor allem ein Geizkragen. Rechnet jede Minute Überstunde ab. Und was Essen und Trinken anbelangt – da knausert er wie ein Weltmeister.“

„Das habe ich schon bemerkt.“

Wie aufs Stichwort kam die Kellnerin und brachte das Essen. Bunter Salat mit Honig–Sesamhuhn und Wassermelone für Clara. Putenrollbraten mit Zucchini, Parmesan und Bratkartoffeln für Simon – beides Gerichte des täglich wechselnden „Lunch–Specials“.

Die ersten Bissen nahmen sie schweigend zu sich.

„Clara, ich will dir den Appetit nicht verbergen“, begann Simon schließlich und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. „Aber du hast doch Nicholas Roth gestern getroffen. Du wirst sicher nochmal dazu befragt werden, aber schon mal jetzt so unter uns: Ist dir irgendetwas aufgefallen? Hat er was Merkwürdiges gesagt? Hat er irgendetwas erwähnt - was er sonst noch macht, wen er trifft?“

„Nein“, sagte sie. „Er hat viel von seinem neuen Job erzählt ... wie er ihn bekommen und wie sehr er sich freut. Wir haben überlegt, ob es ein Projekt gibt, bei dem wir zusammenarbeiten können, irgendeine museumsübergreifende Ausstellung zum Beispiel.“

Sie sah Nicholas’ gönnerhaftes Lächeln noch vor sich. Am Charmantesten war er immer zu Leuten gewesen, denen er überlegen war und von denen er keine Konkurrenz zu befürchten hatte. Er Direktor des Städels. Sie die Leiterin des Museums für sakrale Kunst. Ein himmelhoher Unterschied, den man gar nicht erst erwähnen musste.

„Also gibt es nichts, was dir im Nachhinein sonderbar vorkommt?“

„Nein“, wiederholte sie, „nichts.“

Das Bild des Toten ging ihr durch den Kopf, wieder so schablonenhaft wie vorhin im Pfarrgemeindesaal, losgelöst von Raum und Zeit ... und irgendwie vertraut. Die fehlende linke Hand, die schwarzen Füße, die dunklen Flecken auf den Schulterblättern ... wie abgerissene Flügel ...

„Ja?“, fragte Simon.

„Wie bitte?“

„Du hast eben deine Stirn gerunzelt, als würdest du über eine Sache nachdenken.“

„Du bist ein guter Beobachter.“

„Das ist Teil meines Jobs.“

„Ich weiß ...“, Clara nahm einen Bissen Salat, „aber nein, da war nichts, nicht von Bedeutung.“

Einige Stunden später ließ Clara ihre Handtasche auf den terrakottafarbenen Steinfußboden im Vorzimmer fallen, schlüpfte aus den braunen Schuhen und schob sie mit den Zehenspitzen achtlos zur Seite. Im Wohnzimmer ließ sie sich augenblicklich auf die Couch fallen. Zuerst lag sie auf dem Bauch, vergrub den Kopf in das Kissen, bis endlich das schmerzhafte Pochen, das am Nachmittag immer schlimmer geworden war, nachließ. Dann stand sie auf, um zu essen. Sie hatte Sushi gekauft, im Untergeschoß der Galeria Kaufhof an der Hauptwache, wo es ein Riesenangebot an vegetarischen Sorten gab – Clara mochte keinen rohen Fisch –, und jetzt aß sie, in der Küche stehend rasch ein paar Bissen von den Tamago mit Ei und den Inari mit Tofu.

Sie war bis zum frühen Abend im Museum geblieben, obwohl sie zur Untätigkeit verbannt war und ihr Büro nicht betreten durfte. Sie konnte es sich nicht erklären, aber es wäre ihr pietätlos erschienen, einfach zu gehen.

Ob man Nicholas' Frau Karola schon informiert hatte? Ob es die beiden Söhne schon wussten?

Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie diese hießen, vielleicht hatte Nicholas es ihr auch nie gesagt, so strikt wie er Berufs– und Privatleben voneinander abschottete.

Clara aß die Sushi aus der Plastikhülle, deckte sie aber bald mit Küchenfolie zu, schon die wenigen Bissen lagen ihr wie Steine im Magen.

Auf der Suche nach einem Magenbitter öffnete sie den Küchenschrank. Normalerweise hatte sie keinen Alkohol zu Hause, nahm nur hin und wieder aus dem Supermarkt ein kleines Fläschchen Underberg oder Fernet Branca mit.

Sie fand keinen Underberg, zu ihrem eigenen Erstaunen jedoch eine halbleere Wodkaflasche. Erst als sie sie öffnete und an ihre Lippen setzte, erinnerte sie sich, dass der Wodka von ihrer kleinen Einstandsparty stammte, in deren Verlauf Dora sich unbedingt einen Cosmopolitan trinken wollte.

„Was ist denn das?“, hatte Eugen gefragt, irgendein entfernter Verwandter der von Haidhausen, der – von Dora mal abgesehen – als einziger der Familie bereit war, über Claras Scheidung hinaus mit ihr in Kontakt zu bleiben.

„Das ist der Cocktail, den sie in Sex and the City immer getrunken haben“, hatte Clara erklärt.

„Gütiger Gott!“, schrie Eugen theatralisch. „Wann habt ihr denn zuletzt ferngesehen? Sex in the City, was für'n Bullshith. Heute guckt man 'Girls'.“

Clara hatte 'Girls' noch nie gesehen, aber Dora nickte. „Habe in der FAZ unlängst einen Artikel über Lena Durham gelesen. Können wir trotzdem einen Cosmopolitan trinken?“

Clara hatte im nahen plus–Markt eine kleine Flasche Wodka, Zitronensaft und Cranberry–Saft gekauft. Nur Cointreau gab es nicht.

„Macht nix“, hatte Dora gesagt, „blöd ist nur, dass du keine Eiswürfel hast.“

Eugen hatte auf seinem I-Phone ein Folge 'Girls' vorgespielt. Das Bild rauschte.

Clara nahm drei Schlucke Wodka. Eigentlich waren es sechs, aber so kleine, dass sie im Grunde als drei durchgehen konnten. Danach nahm sie allein schon aus Trotz einen siebten und achten. Sie konnte trinken so viel sie wollte, es gab niemanden, vor dem sie sich rechtfertigen musste, niemanden, nur ...

Ob sie Katharina anrufen sollte, sich bei ihr entschuldigen, ihr erklären, warum Mama sie nicht aus der Vorschule abgeholt hatte, obwohl Mama ohnehin so selten da war, nur jedes zweite Wochenende und in den Ferien?

Mama wohnt ja jetzt nicht mehr auf dem Schloss ...

Ihr fiel keine Ausrede ein, mit der sie einer Fünfjährigen ihre Vergesslichkeit erklären konnte, ohne den Tod von Nicholas zu erwähnen.

Nicholas.

Der nackte, blutüberströmte Nicholas.

Mit der Wodkaflasche in der Hand ging sie zurück ins Wohnzimmer, der Raum drehte sich ein wenig oder vielleicht war sie selbst es, die nicht gerade stehen konnte. Ihr Blick fiel auf das Bücherregal, auf die Bildbände im vierten Fach ... Michelangelo, Caravaggio, die Sixtinische Kapelle und ...

Clara nahm einen letzten Schluck, stellte die Flasche auf dem Boden ab. Das Bild vor ihren Augen zerstob in kleine Funken, als sie sich wieder aufrichtete. Als sie sich an die Wand lehnte, fiel ihr ein, woran Nicholas Roths Leichnam sie erinnert hatte.

Im Staub sollst du kriechen

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