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1.

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Als Nicholas das Telefonat beendet hatte, lehnte er sich erleichtert zurück. Er hatte keine Skrupeln, diese Art von Gesprächen zu führen – bereits zu Beginn, als die Sache ins Laufen gekommen war, hatte er moralische Bedenken gekonnt verdrängt –, aber irgendwie war ihm die Sache ... peinlich. Es fühlte sich so an, als würde er mit Übergewicht vor dem Fernseher sitzen und Chips fressen, während dort ein gestählter Diät-Guru seinen Waschbrettbauch in die Kamera hielt.

Nicholas blickte sich in dem Büro um, ein langer aber sehr schmaler Raum, rechts und links mit verstaubten Bücherregalen vollgestellt. Der Schreibtisch war uralt: das einstmals helle Holz hatte sich verdunkelt, und an vielen Stellen war die Tischplatte zerkratzt. Auch der Computer war nicht mehr der Jüngste, sondern ein jener Riesenkisten, die ständig abstürzten oder heißliefen. Jetzt überprüfte er, ob er keine Spuren auf der Festplatte hinterlassen hatte, ehe er ihn herunterfuhr. Es dauerte lange, bis der Bildschirm endlich erlosch. Ungeduldig hämmerte er mit seinen Fingern auf die Tischplatte.

So ein Büro würde ich mir nicht bieten lassen, dachte Nicholas, und sein Blick fiel auf den Linoleumboden, der an einer Stelle Falten warf – entweder, weil man ihn schlampig verlegt hatte, oder weil er an brütend heißen Tagen seine Form verloren hatte.

Nein, dachte er wieder, das ist grauenhaft hier.

Kein Licht leuchtete mehr auf, er erhob sich, streckte sich, packte seine Sachen. Zumindest für heute Abend hatte dieses Büro ihm gute Dienste erwiesen, und in einigen Wochen würde er selbst ein ganz anderes beziehen, groß, luxuriös und hell.

Er überlegte, was er mit dem freien Abend anstellen sollte. Selten genug, dass er mehrere Stunden frei verplanen konnte. Vielleicht sollte er wieder einmal ins Kino gehen, irgendein Actionspektakel lief im Cinestar Metropolis bestimmt, nach schwerer Kost war ihm nicht. Er könnte aber auch einfach nur über den Römer bis zum Main schlendern, am Fluss entlang einen gemütlichen Spaziergang machen, erkunden, wie sich die Stadt, in der er früher gelebt hatte und in die er bald wieder ziehen würde, verändert hatte.

Er freute sich auf Frankfurt, obwohl seine Berliner Kollegen ihn deswegen für verrückt hielten. Berlin – das hatte den Nimbus des Aufstrebenden, Unkonventionellen, Neuen; eine Stadt auf ihrem Weg zur Weltmetropole, die ihren Flair und ihre Lebendigkeit aus den Ecken und Kanten ihrer ungewöhnlichen Geschichte bezog, eine Stadt ohne diesen künstlich gestylten, überteuerten Chic von anderen Großstädte. Frankfurt hingegen war in den Augen der meisten eine öde Bankencity, über deren miefigen Geruch auch der Anblick der Skyline nicht hinwegtäuschen konnte.

Nicholas sah das anders. Die Lebensqualität – unbezahlbar. In Berlin saß man doch stundenlang in der S–Bahn, bis man die Stadt auch nur zur Hälfte durchquert hatte. Hier reichten fünfzehn Minuten, und man konnte einen Spaziergang mitten im Grünen machen. Ganz zu schweigen vom nahen Flughafen. Klar, der Fluglärm. Sollten sich doch die Grünen darüber beschweren, er war klug und praktischerweise reich genug, um in ein Viertel zu ziehen, wo er nicht davon behelligt wurde.

Nicholas nahm seine Jacke, die er um den Schreibtischstuhl gehängt hatte, und zog sie über sein weißes Hemd. Darunter trug er eine Jeans, was selten war, aber zu einem Tag wie heute passte. Er trug keine Akten- oder Laptoptasche, sondern brachte alles, was er bei sich hatte, in Jacke und Hose unter: I-Phone, Schlüssel, Geldbörse.

Er warf einen letzten Blick auf den Schreibtisch, damit er keine verräterischen Spuren oder Notizen hinterließ, prüfte sogar kurz den Mülleimer und wollte das Büro verlassen. Bevor er die Tür erreichte, bemerkte er, dass ein Schnürsenkel offen stand. Mit einem Fluch kniete er sich auf den Boden, griff nach den Bändern und verknotete sie.

Er hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet, als ihn ein Geräusch zusammenzucken ließ. Es klang wie ein Hüsteln und Schnauben, und es klang so ... nah. Seine Nackenhaare richteten sich auf, als er noch kniend herumfuhr.

Nichts.

Der Eingangsbereich war ebenso menschenleer wie das Büro. Der schwarze Bildschirm des Computers glotzte ihn gleichgültig an.

Eben, dachte er beruhigt. Hier ist niemand. Hier kann um diese Tageszeit niemand sein.

Er überprüfte noch einmal den Knoten, den er gebunden hatte, und stand auf. Diesmal nahm er kein Geräusch, sondern aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, einen schwarzen Schatten, der einem vorbeifliegenden Vogel glich.

Doch es war kein Vogel, sondern eine Hand ... eine schwarze Hand.

Sie steckte in einem glänzenden Lederhandschuh.

„Was zum Teufel ...“

Er brachte seine Frage nicht mehr zu Ende. Er kam noch nicht einmal zur Erkenntnis, wo genau sich der Angreifer versteckt hatte. Ein dumpfer Gegenstand traf seinen Hinterkopf, ehe er das Gesicht des Fremden erkannte.

Er spürte noch, wie sein Körper auf den Boden prallte, dann nichts mehr.

Nackt, dachte er, ich bin nackt.

Lange war es nur dieser eine Gedanke, der sich in seinem Gehirn festbiss. Für jede andere Wahrnehmung – Unbehagen, Angst oder gar Panik – war es zu träge. Er fühlte den klebrigen Linoleumboden unter sich, einen säuerlichen Geschmack im Mund und einen kalten Luftzug, der ihn frösteln ließ.

Jemand hatte ihm seine Kleidung vom Körper gezerrt, sehr hastig, unsanft, ein pochender Schmerz an seinem Oberschenkel verriet einen Kratzer, den der Reißverschluss seiner Jeans dort hinterlassen hatte.

„Was zum Teufel ...“, wollte er wieder ansetzen.

Auch vorhin waren das seine letzte Worte gewesen, nun brachte er nicht einmal die hervor. Aus seinem Mund kam nur ein heiseres Flüstern, seine Zunge, die ihm irgendwie größer, regelrecht geschwollen erschien, stieß an einen rauen Widerstand. Er konnte nichts sagen, er war geknebelt.

Umdrehen, dachte er, ich muss mich umdrehen ...

Wie in Zeitlupe war ihm die Erkenntnis gekommen, dass er auf dem Bauch lag, und dass er seine Lage ändern musste, um seinen Angreifer sehen zu können. Er hob den Kopf, wurde augenblicklich von einem gleißenden Schmerz in seinem Kopf bestraft, versuchte sich ächzend aufzustützen. Es gelang ihm nicht, seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt.

Er stöhnte auf, als er einen Fuß fühlte, der sich in seine Seite rammte. Zunächst dachte er, der Angreifer würde ihm die Rippen brechen, doch dann bemerkte er, dass er ihm half, sich auf den Rücken zu drehen. Wer immer ihn niedergeschlagen hatte, wollte von ihm erkannt werden.

Nicholas schluckte gegen den säuerlichen Geschmack in seinem Mund an. Nicht nur, dass ihn die Gestalt, die sich über ihn beugte, ihn auf den Rücken wälzte. Sie schnitt ihm auch die Fesseln an seinem Handgelenk auf.

Seine Finger fühlten sich taub an, und seine Augen tränten. Über alles, was er sah, legten sich kleine, silbrige Sternchen. Erst nach einer Weile lichtete sich dieser Funkenregen, er blickte in das Gesicht des Angreifers – ein vertrautes Gesicht. Der Knebel dämpfte seinen Schrei, aber seine Augen weiteten sich.

Du?, wollte er brüllen, du?

Er war dem Entsetzen noch nicht Herr geworden, als er sah, was der heimtückische Angreifer in den Händen hielt. Wieder ein tonloser Schrei. Er wollte sich aufrichten, irgendwie auf seine Beine kommen, fliehen. Doch seine Füße – das merkte er erst jetzt –, waren ebenfalls gefesselt, und bevor er sich zur Seite wälzen konnte, traf ein Tritt sein Gesicht. Er spürte das kalte Leder der Schuhsohle, roch den Straßendreck, hörte ein knackendes Geräusch – der grässlichste Laut, den er jemals in seinem Leben vernehmen musste. Sein Kopf schien zu explodieren, seine Haut zu zerplatzen, warmes Blut troff aus seiner Nase und sickerte in seinen Knebel. Er bekam Panik, konnte nicht mehr atmen, erst recht nicht, als er wie durch einen roten Schleier sah, dass der Angreifer seine Waffe bedrohlich schwang.

Nicht!, wollte er schreien. Nicht!

Verzweifelt drehte er den Kopf zur Seite, doch sein Angreifer hatte es kein weiteres Mal auf sein Gesicht abgesehen. Die Axt raste auf ihn herab, er sah silbrigen Stahl aufblitzen, fühlte, wie er in sein Fleisch schnitt, sich seinen Weg durch die Muskelmasse bis zum Knochen bahnte. Der Schmerz zerriss ihn, während sich eine rote, warme Blutfontäne über ihn ergoss. Er wusste nicht, welches Körperglied getroffen worden war, ob die Axt weiter wütete oder sich mit diesem einen Schlag begnügte. Es machte keinen Unterschied, denn der Schmerz war überall, wühlte in seinen Eingeweiden, kämpfte sich die Kehle hoch. Er schmeckte Erbrochenes im Mund, aber konnte es wegen des Knebels nicht ausspucken, biss sich auf die Zunge, während noch mehr Blut aus seiner Nase troff und sein Kinn rann.

Sein Körper verkrampfte sich, bäumte sich auf, schien noch gegen den Schmerz ankämpfen zu wollen. Sein Geist hingegen hoffte auf nichts mehr, nur mehr das gnädige Nichts, das ihn von dem Grauen erlösen würde.

Dieses Nichts ließ nicht lange auf sich warten.

„Das war erst der Anfang“, war das Letzte, was Nicholas Roth von dieser Welt hörte.

Im Staub sollst du kriechen

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