Читать книгу Im Staub sollst du kriechen - Kristin Adler - Страница 9
4.
ОглавлениеSimon klopfte an die Schlafzimmertür. „Bist du wach?“
Die Antwort war ein unverständliches Murmeln. Er zögerte einzutreten, hielt die Türklinke eine Weile ratlos umklammert, ehe er sie niederdrückte.
Dora lag im Bett, mit einer Schlafmaske im Gesicht, die langen roten Haare um sich ausgebreitet. Die beige Satinbettwäsche bedeckte ihre Beine, der Oberkörper in einem dünnen Spitzenhemdchen lag frei.
Simon trat einen Schritt näher, er kam sich wie ein Eindringling vor.
„Dora ... bist du wach?“
„Was?“
Sie schreckte hoch, zog sich die Schlafmaske vom Gesicht, ihre Wimpern waren farblos, die Haut besonders um die Augen zerknittert. Er sah sie fast nie ungeschminkt, schon gar nicht mit ungetuschten Wimpern.
„Ich brauche das Auto, kannst du mit der Bahn fahren?“
Dora setzte sich auf, die Haarflut ergoss sich über den Rücken. Sie waren fast hüftlang, und Simon, der diese Haare geliebt hatte, als sie sich kennen lernten und ein Paar geworden waren, fragte sich später oft, wie sie hdamit schlafen konnte. Ihn brauchte das natürlich nicht zu kümmern, sie schliefen nie im gleichen Bett, von Beginn an nicht.
Weil wir beide unsere Intimsphäre wollen und brauchen, erklärte Dora ihren Bekannten und Freunden, wenn man sie fragte.
Es ist nunmal so, erklärte er, wenn man ihn fragte.
„Wieso weckst du mich?“, fragte sie gereizt. „Du weißt doch, dass ich heute nur die dritte und vierte Stunde habe.“
Sie legte ihre Hand über die Augen, entweder, um sich vor dem Licht oder die ungetuschten Wimpern vor seinem Blick zu schützen.
„Es gab ... ich muss ...“, setzte er wieder an, um dann zu wiederholen: „Ich brauche das Auto, kannst du mit der Bahn fahren?“
Sie sah zum Fenster, auf das dicke Regentropfen trommelten.
„Es schüttet“, stellte sie fest.
„Du musst doch nur eine Station bis zur Stresemannallee fahren. Ich muss so schnell wie möglich in die Innenstadt.“
„Es schüttet“, wiederholte sie.
„Eben. Darum brauche ich das Auto. Du kannst dir auch ein Taxi nehmen.“
„Warum nimmst du dir kein Taxi?“
„Was macht es denn für einen Eindruck, wenn ich dort mit dem Taxi vorgefahren komme?“
„Ach, und du meinst, in der Schule findet man es ganz normal, wenn ich das so mache? Klar, die Grafentochter hat’s ja ...“
Aufstöhnend ließ sie sich wieder auf das beige Satinkissen fallen. Er hasste diesen Stoff, er fühlte sich so glitschig an und nie wirklich warm. Aber zu Dora passte er irgendwie ... wobei er nicht sagen wollte, dass sie kalt war, nicht immer zumindest, sie konnte auch ganz anders sein, lebendig, mitreißend, eine richtige Rubensfrau. So bezeichnete sie sich selbst gerne, obwohl sie Wert darauf legte, nicht so dick zu sein und keine Cellulite zu haben, zumindest keine so starke. Nur die roten Haare hatten etwas Opulentes, Prächtiges, als stammten sie aus einem Renaissancegemälde.
„Dorothea“, setzte er an. Manchmal war es leichter mit ihr zu reden, wenn er ihren vollständigen Namen aussprach. „Es ist was Schlimmes passiert. In Claras Museum. Es gab ... es gibt dort einen Toten. Ich glaube, du kennst ihn, Nicholas Roth.“
Dora schlug die beigen Satinlaken zurück. „Wie bitte?“, entfuhr es ihr.
„Grässliche Sache, sie haben ihn in Claras Büro gefunden. Er ist ermordet worden.“
„Was hat er denn dort gemacht?“
Simon zuckt die Schultern. „Keine Ahnung, Bückner hat mich dort hinbestellt. Hartmann wird das gar nicht gefallen. Der hasst mich.“
Bückner war Leiter der Abteilung 3 des LKA, verantwortlich für die Kriminalitätsbekämpfung. Hartmann war Hauptkommissar der Unterabteilung, die für Gewalt–, Eigentums– und Sexualdelikte zuständig war. Eigentlich fiel Simon nicht in dessen Zuständigkeit, doch seit seiner Versetzung hatten sich weder seine Vorgesetzten noch die Kollegen ausreichend Gedanken gemacht, wofür der Neue taugte und wozu man ihn gebrauchen konnte.
„Der hasst dich nicht, der muss sich nur an dich gewöhnen.“
„Der hält meine Arbeit für nutzloses Brimborium“, stellte Simon fest. Er erschrak selber über den frustrierten Unterton in der seine Stimme.
Bis jetzt hatte er es Dora gegenüber nicht zugegeben, dass er beim BKA in Wiesbaden Freunde und Förderer um sich gehabt hatte, hier beim LKA Hessen nur missgünstige, abweisende Kollegen. Und das lag noch nicht mal an den üblichen Animositäten zwischen BKA und LKA. Es lag an der Furcht, er könnte kompetenter sein, ihre Fehler aufdecken, publik machen, was vor allem im Bereich der OFA – der Operativen Fallanalyse, für die es eine eigene Unterabteilung gab – nicht so optimal lief. Er war für sie der potentielle Spion vom Bund, das Kameradenschwein, nicht der Kollege.
Dora warf sich ihren Morgenmantel über. Er hatte den gleichen Farbton wie die Bettwäsche. „Wie ... wie ist er gestorben?“
„Kopfschuss“, sagte Simon knapp. „Vor seiner Ermordung ist er offenbar ... verstümmelt worden.“
Er erzählte in knappen Sätzen was er wusste – was nicht viel war, aber reichte, dass sie mit immer größeren Augen zuhörte.
„Ein Ritualmord?“, fragte sie.
Simon verkniff sich ein Grinsen. Dora konnte es nicht lassen, mit Begriffen um sich zu werfen, von denen sie nichts verstand, und sich als Expertin zu fühlen, weil sie mit einem Profiler verheiratet war. Zumindest glaubte sie, dass er das war, weil sie die Bezeichnung aus den amerikanischen FBI–Serien kannte. Vergebens hatte er ihr zu erklären versucht, dass man in Deutschland nicht von Profilern, sondern von Fallanalytikern sprach und dass seine Aufgaben woanders lagen, als sich ins kranke Hirn eines Serientäters hineinzudenken.
Er zuckte die Schultern.
„Ich kann noch nichts dazu sagen.“
„Und Clara ... weiß Clara davon? Ist sie dort?“
Sie klingt ehrlich besorgt, stellte Simon erleichtert fest. Dora bezeichnete Clara als ihre Freundin, aber Simon war nicht sicher, wie viel ihr wirklich an ihr lag. Genau genommen war er sich auch nicht sicher, wie viel Dora an ihm lag. Aber wenn sie sich um Clara Sorgen machte ...
„Ich weiß es nicht, auch deswegen muss ich dorthin. Sie kann sicher Unterstützung gebrauchen. Ich hoffe, sie hat die Leiche nicht sehen müssen.“
Dora nickte benommen. „Aber wieso soll Nicholas denn ermordet werden, und warum ...“
„Ist es also o.k., wenn ich das Auto nehme?“, unterbrach Simon sie.
Dora nickte wieder. „Dann bestell ich mir halt ein Taxi“, murmelte sie und konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Die Grafentochter hat’s ja...“
Clara versuchte Pfarrer Berger zu überzeugen, persönlich mit der Presse zu sprechen. Erwartungsgemäß lehnte er ab. „Sie machen das viel besser!“ Pfarrer Berger war bei den meisten Angelegenheiten der Meinung, dass jemand anderer es besser machen würde als er – das betraf nicht nur sein Amt als Kurator des Museums, sondern auch die Leitung der Pfarrei Sankt Andreas. Sobald er eine Mütterrunde begleiten, einen Pastoralkurs für Erwachsene organisieren oder Veranstaltungen beim Kirchen–Infopoint in der Liebfrauenstraße ankündigen sollte, hatte er den gleichen Satz parat: „Sie machen das viel besser!“
Leider konnte seine Pastoralreferentin ihm nicht die sonntägliche Messe abnehmen, obwohl Pfarrer Berger wohl auch das gerne delegiert hätte. Im Museum galt das Frauenpriesterverbot immerhin nicht, sodass er Clara sämtliche Pflichten überließ, erst recht bei einem Notfall wie heute.
Pfarrer Berger war am späten Vormittag gekommen – mit üblicher Hektik und nicht für den Tag gerüstet: Seine Haare waren unfrisiert und ungewaschen, auf seiner uralten schwarzen Anzugjacke, die am Ellbogen mit runden Lederstreifen ausgebessert war, sammelten sich Haarschuppen. Er verströmte üblichen Mundgeruch, als er sich aufgeregt vorbeugte und sich von Clara berichten ließ, was geschehen war. Mehrmals schüttelte er den Kopf, eher betrübt als ehrlich schockiert. Erst als sie ihn darauf hinwies, dass die Presse bereits Wind von der Sache bekommen hätte, schon mehrere Journalisten hier aufgekreuzt wären, auch RTL–Hessen und jemand von der BILD Frankfurt, erschien echtes Entsetzen in seinem Gesicht.
„Ich doch nicht!“, rief er empört, als Clara forderte, dass er so bald wie möglich eine Stellungnahme vor der Presse abgab. „Natürlich in Absprache mit der Kriminalpolizei“, fügte sie hinzu.
„Im Grunde habe ich mit diesem Museum doch nichts zu tun!“, rief er entgeistert.
So ehrlich hatte er das noch nie ausgesprochen.
„Pfarrer Berger, das Museum befindet sich in kirchlicher Trägerschaft. Und das ist nicht nur ein Detail am Rande ... es wird die Leute womöglich besonders interessieren. Pfarrer Berger“, wiederholte sie mit Nachdruck, „Sie sind der Amtsträger, mit dem die Journalisten reden wollen ... nicht ich.“
Wo Kirche drauf steht, soll auch Kirche drin sein. Das hatte sie in einem Seminar für Öffentlichkeitsarbeit gelernt, das sie vor Antritt dieser Stelle besucht hatte.
„Wenn die Presse einen O–Ton über eine kirchliche Angelegenheit haben will“, fuhr sie fort, „dann sollte ein Priester oder eine Nonne ihn geben, kein Laie.
„Was soll ich denn überhaupt sagen?“
Clara zuckte die Schultern.
„Das werde ich im Laufe des Tages mit der Kripo klären. Aber halten Sie sich sicherheitshalber mal bereit.“
Seit den ersten Anfragen von der Presse, versuchte sie mit Kommissar Hartmann zu sprechen, doch der war offenbar der Meinung, ihr genug Zeit gewidmet hatte. Noch ehe sie die weitere Vorgehensweise mit ihm abklären konnte, war der Gau in Sachen Öffentlichkeits– und Pressearbeit eingetreten: Frau Zielińska war beim Verlassen des Museums einem Reporter in die Hände gefallen, dem sie leichenblass und völlig verwirrt Bericht erstattete. Als Clara, die die Szene vom Fenster aus beobachtete, hinaus rannte, lächelte der Reporter befriedigt, und Frau Zielińska war wieder den Tränen nahe. Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört.
„He!“, rief in diesem Augenblick der junge Polizist mit dem Flaumbärtchen. „Sie können Ihr Auto nicht einfach hier stehen lassen! Die hätten es schon abgeschleppt, wenn ich nich t...“
„Ja, ja ...“ Clara rang entnervt die Hände. Als sie sich wieder umdrehte, war Frau Zielińska verschwunden und der Reporter stürzte auf sie zu. „Frau Mohr, stimmt es, dass der Leichnam von Nicholas Roth ...“
Sie hatte sämtliche Fragen zurückgewiesen, ihn darauf vertröstet, dass es im Verlauf des Tages eine Pressekonferenz geben würde.
„Nein“, bestand Pfarrer Berger gerade, „ich kann Ihnen nicht helfen ... ich war ja nicht dabei ... ich kenne mich hier nicht aus.“
„Ja denken Sie, ich habe zugesehen, als Nicholas Roth ermordet wurde?“, entfuhr es Clara gereizt. Sie biss sich auf die Lippen.
„Aber Sie haben den Toten doch gesehen, oder? Sie können das bestimmt besser.“ Er seufzte anstandshalber. „Außerdem habe ich jetzt einen Termin in Sankt Andreas. Ein Taufgespräch.“
Das macht doch sicher Frau Schneider, ging es Clara durch den Kopf, aber sie schwieg und ließ den Pfarrer ziehen.
Das Gespräch hatte in der Kaffeeküche stattgefunden, die leere Tasse von Hartmann stand ungewaschen auf der Anrichte. In ihrem Magen grummelte es, kein Anzeichen von Übelkeit wie vorhin, sondern Hunger. Sie war jetzt sechs Stunden auf den Beinen, ohne etwas zu essen, wobei sich der Appetit auf ein krosses Frühstücksbrötchen oder eine Croissant in Grenzen hielt.
Nicht, wenn sie daran dachte ... an die Hand ... an das Blut ... an den restlichen Leichnam ...
Clara schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verdrängen. Sie entschied, sich ein wenig zurechtmachen, die mittlerweile trockenen Haare frisieren und sich etwas schminken, falls noch ein aufdringlicher Journalist hier auftauchte.
Der Lippenstift war im Auto... richtig, das Auto, das noch immer im absoluten Halteverbot stand. Sie blickte auf sich herab, erkannte, dass ihre Kleidung nicht zusammenpasste. Die schwarze Nadelstreifhose und der rosa Pulli waren in Ordnung, aber die braunen Schuhe passten nicht dazu. Zu dem rosa Pulli trug sie eigentlich die Wildlederstiefel im gleichen Farbton, die sie vor einem Monat im Ausverkauf bei Salamander gefunden hatte. Wobei es der Presse heute wahrscheinlich egal war, ob die Schuhe den gleichen Farbton wie die Hose hatten. Egal, was sie trug, sie würde Philip keine Schande mehr machen, es gab keine Schnappschüsse mehr, die in der BUNTE unter der Rubrik „So nicht, Frau Gräfin“ auftauchten. Sie war keine Gräfin von Haidhausen mehr, nur Clara Mohr.
Eben sprach jemand diesen Namen aus. Es klang langgezogen, leicht nörgelnd wie immer.
„Frau Ried“, stellte Clara fest, „Sie müssen nicht hier bleiben. Heute bleibt das Museum selbstverständlich geschlossen, also gibt es keinen Kartenverkauf. Und mit Kommissar Hartmann haben Sie doch bereits gesprochen.“
„Er hat gesagt, dass ich später aufs Präsidium kommen muss, um die Aussage zu unterschreiben“, sagte Frau Ried mit beleidigtem Unterton. „Und ich kann doch jetzt nicht gehen, wie stellen Sie sich das vor, Frau Mohr. Ich kann Sie doch nicht allein lasse. Draußen steht eine Schulklasse, die wollte heute ins Museum.“
„Dann schicken Sie sie weg! Sprechen Sie bitte mit der Lehrerin!“
„Aber was soll ich denen sagen? Dass da ein Toter liegt?“
Der Busen bebte.
„Sagen Sie der Lehrerin einfach, dass die Führung auf morgen ... nein, auf nächste Woche verschieben werden muss“, erklärte Clara knapp und trat zum Ein–Euro–Fünzig–Kaffeeautomaten, der Kommissar Hartmann so verärgert hatte.
„Und ständig klingelt das Telefon“, klagte Frau Ried. „Ich werde noch wahnsinnig! Lauter Presseleute!“
Clara kramte in der Tasche, aber fand natürlich keine passenden Münzen. Ihr fiel ein, dass sie noch ein paar im Handschuhfach ihres Autos haben könnte ... zum Auto musste sie ohnehin ... wegen des Lippenstifts und um es in die Parkgarage zu fahren.
„Ich kann Ihnen da auch nicht helfen“, sagte sie. „Wimmeln Sie die Leute irgendwie ab! Ich nehme mal an, die Polizei wird demnächst eine Erklärung an die Presse abgeben ... und wir wahrscheinlich auch, sobald es mit der Kripo abgesprochen ist. Vertrösten Sie die Journalisten da drauf.“
„Aber was mache ich, wenn man Sie persönlich sprechen will?“, fragte Frau Ried nörgelnd.
Clara hatte das Gefühl, dass ihr Kopf gleich platzte.
„Dann teilen Sie ihnen mit, dass ich nicht da bin“, sagte Clara. „Oder nein, noch besser: Sagen Sie, dass ich einen auswärtigen Termin habe.“
Frau Ried starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Aber den haben Sie doch nicht!“
„Natürlich nicht!“, rief Clara entnervt.
„Also soll ich für Sie lügen“, stellte Frau Ried vorwurfsvoll fest. „Und wo finde ich Sie, wenn ich Sie erreichen muss.“
„Ich bin in Sankt Andreas“, erklärte sie knapp. „Ich muss einen Raum für die Pressekonferenz organisieren.“
Kurz ging ihr durch den Kopf, ob es nicht besser war, zum Haus am Dom gleich gegenüber zu gehen. Sie kannte dort einige Kollegen von der Katholischen Medienarbeit des Rhein–Main–Gebiets und konnte nach einem leerstehenden Konferenzraum fragen. Allerdings – und damit verwarf sie den Gedanken wieder – wollte sie keine langen Erklärungen abgeben und vom Pfarrsaal in Sankt Andreas hatte sie die Schlüssel.
„Grade ist übrigens ein schwarzer Wagen vorgefahren“, bemerkte Frau Ried. „Das ist der Leichenwagen, oder?“
„Kann sein“, sagte Clara, „vielleicht ist es auch der Notarzt.“
„Der ist doch schon tot, der Mann. Was soll denn da noch ein Arzt machen?“
„Irgendjemand muss doch offiziell den Tod feststellen, einen Totenschein ausfüllen“, überlegte Clara, „ich nehme an, er wird danach in die Gerichtsmedizin gebracht ... zur Obduktion.“
Sie starrte auf den Kaffeeautomaten. Ihr war so schwindlig, dass sie sich am liebsten kurz dagegen gelehnt hätte.
Nicht nachdenken, zwang sie sich, nicht nachdenken.
„Das wäre alles“, beschied sie Frau Ried knapp, ehe sie ins Freie stürzte.
Die Stühle im Gemeindesaal standen im Kreis. Offenbar hatte hier kürzlich der Kurs für die Firmlinge stattgefunden. Auf der Tafel waren mit verschiedenfarbiger Kreide zwei Kreise gemalt worden. In dem einen stand GOTT und in dem anderen ICH. Und dann gab es noch einen dritten, der sich mit den anderen beiden überschnitt, doch das Wort SAKRAMENT, das darin stand, war schon halb gelöscht worden. In dem Raum war schon lange nicht mehr gelüftet worden, die Luft stand zum Schneiden dick. Neben dem Mülleimer lag, sorgfältig zusammengefaltet, ein Stück Alufolie. Wer immer es hier entsorgt hatte, hatte nicht den Eimer verfehlt, sondern wohl auf die fehlende Mülltrennung aufmerksam machen wollen.
Clara zerknüllte die Alufolie, öffnete das Fenster und warf sie in den Innenhof. Schwer ließ sich auf einen der Stühle fallen. Er war sehr klein, schien aus einer Grundschule zu stammen. Vielleicht konnte ein 12jähriger noch bequem darauf sitzen, sie sicher nicht. Dennoch blieb sie darauf hocken, stützte ihre Ellbogen auf die Knie und senkte ihren Kopf auf die Hände.
Ihre Kopfschmerzen und das flaue Gefühl im Magen wurden gerade etwas besser, als sich Schritte dem Raum näherten, kurz abwartend vor der Türe stehen blieben, dann über die Schwelle traten.
Als Clara hochblickte stand eine Frau vor ihr, die ihr irgendwie bekannt vorkam, die sie aber nicht einordnen konnte. Kaum hatte diese Clara erblickt, fing sie grußlos zu fragen an: „Frau Mohr, können Sie bestätigen, dass es sich bei dem Toten um Nicholas Roth handelt? Stimmt es, dass er demnächst die Direktion des Städel–Museum übernehmen wollte? War es ein Raubüberfall, wurden Exponate des Museums gestohlen? Ist es richtig, dass er mit einem Kopfschuss hingerichtet worden ist?“
Die Fragen prasselten auf Clara ein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie keine Kopfverletzung wahrgenommen hatte, als sie die Leiche musterte. Ihre Augen waren an ganz anderen Details hängen geblieben, ehe sie in den Plastikabfalleimer gekotzt hatte.
„Was wollen Sie hier?“, fragte sie unwirsch.
Die Frau war offenbar keine erfahrene Journalistin, sonst würde sie nicht den Kapitalfehler begehen, zu viele Fragen auf einmal zu stellen. Auf diese Weise verlor man die Gesprächsführung, überließ es dem Gegenüber, auf welche er antworten und welcher er ausweichen wollte.
Anstatt sich des Fehlers bewusst zu werden, blickte sie Clara erwartungsheischend an. Sie war noch sehr jung, mit unauffälligem Gesicht und mausgrauem Haar, aber schriller Kleidung: Sie trug einen karierten Faltenrock, der schon kurz nach der Hüfte endete, gelbe, bis zu den Knien reichende Socken über eine fleischfarbene Strumpfhosen und weinrote Ballerinas.
Warum müssen sich erwachsene Frauen wie kleine Mädchen anziehen, dachte Clara.
Auch auf den zweiten Blick kam ihr die Journalistin bekannt vor. Vielleicht hatte sie bis vor kurzem ein Praktikum in irgendeiner Kulturredaktion gemacht und sich mit einer Pressemeldungen befasst, die Clara im Namen des Museums veröffentlichte. Genau betrachtet war das nur alle paar Monate der Fall, von einem unbedeutenden Minimuseum wie dem ihren gab es nicht viel zu berichten.
„Es tut mir leid“, sagte Clara. „Ich kann keine Auskunft geben. Sie müssen Geduld haben.“
„Ist es wahr, dass der Tote verstümmelt worden ist? Richtete sich die Tat gegen Nicholas Roth persönlich oder gegen das Museum für Sakrale Kunst? Was machte Nicholas Roth eigentlich in dem Museum? Wussten Sie, dass er dort war? Woher kennen sie ihn?“
Unfähige Kuh!, durchfuhr es Clara. Bis jetzt hatte sie in ihrer klammen Kleidung gefröstelt, nun brach ihr der Schweiß aus allen Poren. Die Journalistin stellte zwar völlig unkoordiniert Fragen, aber sie schien zumindest ein Gespür dafür zu haben, auf welchem wunden Punkt sie einhacken konnte.
Was, wenn sie zu schnüffeln beginnt, wenn sie draufkommt, dass ich und Nicholas ... aber ich bin bei der ganzen Angelegenheit nicht so wichtig ... Clara Mohr ist nicht wichtig ... Clara von Haidhausen wäre es, aber die Journalistin hat keine Ahnung, dass die eine mit der anderen identisch ist ...
„Hören Sie ...“
Sie atmete tief durch. Wieder fiel ihr das Seminar für Öffentlichkeitsarbeit ein.
Wenn Sie vor die Presse treten, dann versuchen Sie gar nicht erst, etwas zu vertuschen. Falls eine Caritas–Mitarbeiterin Spendengelder unterschlagen hat, dann kommt das ans Licht. Falls ein Priester in Ihrem Bistum ein Chorknaben missbraucht hat auch. Auf Gerüchte müssen Sie nicht eingehen – aber wenn Sie mit Fakten konfrontiert werden, nützt es nicht, sie zu leugnen. Sie machen eine bessere Figur, wenn Sie sie nüchtern benennen und zur Aufklärung beitragen.
„Das ist ja typisch“, hatte damals ihr Sitznachbar gemurmelt, „dass der jetzt mit dem pädophilen Priester kommt ... als ob es kein anderes Beispiel gebe.“
Ihr Sitznachbar war selber Priester.
„Hören Sie ...“, wiederholte Clara. „Ich kann bestätigen, dass Nicholas Roth im Museum für Sakrale Kunst tot aufgefunden wurde. Es hat den Anschein, dass er ermordet wurde. Aber mehr weiß ich wirklich nicht ...“
Die junge Journalistin riss interessiert die Augen auf. „Und der Leichnam?“, fragte sie neugierig. „Was ist denn jetzt mit dem Zustand des Leichnams?“
Clara schüttelte abwehrend den Kopf. Sie gab keine Antwort, aber sie konnte nicht verhindern, dass der grässlichen Anblick erneut vor ihr aufstieg.
Nackt war Nicholas auf dem Bauch gelegen. Auf dem fahlen, gräulichen Hintern hatten sich einzelne Haare gekräuselt; kleine, rote Pickeln waren sichtbar, offenbar ein Hautausschlag, der sich am Rücken fortsetzte. Zwischen den Beinen hatte sich ein feuchter, bräunlicher Fleck gebildet - ein Zeichen, dass sich Darm und Blase entleert hatten, als man ihm die Hand abhackte. Oben, an den Schultern, war der Tote halbwegs muskulös, aber gegen die Hüften hin schwabbelte die Haut. Die Arme waren sonnengebräunt, der Rücken hingegen blass. Auch an Nicholas – in der Kleidung ein attraktiver, jugendlich wirkender Mann – hatte die Zeit zu nagen begonnen ...
Clara wich dem Blick der jungen Journalistin aus.
Die abgehackte Hand und das Blut auf der Wand waren nicht alles gewesen. Nicholas’ Füße waren mit einer schwarzen, klebrigen Flüssigkeit übergossen - dem Geruch nach zu schließen Teer. Auch der Boden war mit den zähen Fäden überzogen, die einem dunklen Spinnennetz glichen, und Nicholas' Schulterblättern. Der Mörder hatte sich nicht damit begnügt, sie mit Teer zu bestreichen, sondern hatte darauf die dünnen, grauen Federn einer Taub geklebt. Der linke Armstumpf war dort, wo die Hand abgetrennt worden war, auf dem Boden aufgestützt; das viele Blut, das sich darum gesammelt hatte, war ebenso schwarz verkrustet wie die Lake, die sich um die abgehackte Hand gebildet hatte. Es sah nicht so aus, als würde die Hand fehlen, sondern sich diese in die Tiefe graben. Merkwürdig war auch die Lage der schwarzverschmierten Beine: Sie waren leicht angewinkelt, und damit sie diese Position behielten, hatte der Mörder ein Kleidungsstück darunter gelegt.
„Bitte ...“, stammelte Clara. „Bitte ... lassen Sie mich jetzt in Ruhe.“
Sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. In ihrem Magen begann es wieder zu grummeln, der Druck an den Schläfen verstärkte sich. Und noch etwas stieg in ihr hoch, sie konnte es nicht benennen, es war nicht dieses kalte Entsetzen von vorhin, eher ... Irritation.
Während sie daran dachte, hatte sie das Bild des toten Nicholas ganz deutlich vor sich, nur dass es diesmal von ihrem Büro losgelöst war, im luftleeren Raum zu schweben schien. Diese schwarz verklebten Füße, dieser Armstumpf, der so gehoben war, als würde die Hand sich in den Boden graben ...
Ihr Blick irrte durch den Raum, blieb wieder an der Tafel und den drei Kreisen hängen. ICH, GOTT, SAKRAMENT ...
„Gibt es schon Erklärungen, warum der Mörder das getan hat?“, fragte die aufdringliche Journalistin. „Hat die Polizei einen ersten Verdacht? Handelt es sich um die Tat eines geistesgestörten Irren?“
Sie verschluckte sich beinahe an den Fragen.
Ich habe es schon mal gesehen, fiel Clara ein, ich hab schon mal einen Menschen so wie Nicholas daliegen gesehen ...
Clara flüchtete aus dem Gemeindesaal von Sankt Andreas. Zunächst hatte es den Anschein gehabt, dass sich die junge Journalistin mit den paar Brocken zufrieden ab, doch nun kam sie ihr über die Straße nachgelaufen.
„Wir kennen uns übrigens“, rief sie. „Letztes Jahr bei der Orgelmeile ... ich habe darüber berichtet, für den HR4. Du hast mir ein paar O–Töne gegeben.“
Clara nickte geistesabwesend. Sie war noch etwa zwanzig Schritte vom Museum entfernt, vor dessen Eingang gerade ein grauer Wagen parkte.
Die Journalistin folgte ihrem Blick. „Scheint, dass der Leichnam in die Pathologie gebracht wird. Kannst du ... kannst du mir nicht doch mehr Informationen geben?“
Clara fragte sich, warum die Junge sie plötzlich duzte.
„Ich habe alles gesagt ...“
„Aber was denkst du darüber? Wollte sich jemand an Nicholas rächen, so wie man ihn zugerichtet hat?“
Clara entging nicht, dass die andere Nicholas' Nachnamen weggelassen hatte, als sprächen sie über einen gemeinsamen Bekannter. Ein guter Trick, um Vertraulichkeit zu schaffen.
„Ich kann es mir nicht erklären“, sagte Clara knapp, „ich muss jetzt ... etwas essen.“
„Wenn du magst, können wir in die Cucina delle Grazie gehen – ist doch gleich hier um die Ecke. Dort gibt’s auch leckeren Kaffee. Ich lade dich ein.“
„Nein“, wehrte Clara ab, „nein, das halte ich für keine gute Idee.“
„Aber wenn dir etwas einfällt, wenn du darüber reden möchtest ... dann rufst du mich doch an, oder?“
Die Junge drückte ihr ein Visitenkärtchen in der Hand. Gaby Lercher. Clara konnte sich nicht erinnern, diesen Namen jemals gehört zu haben; ebenso fremd war ihr der Name der Zeitung, für die sie offenbar arbeitete.
„Alles klar!“, meinte sie und versuchte freundlich zu lächeln, in der Hoffnung, Gaby Lercher schneller loszuwerden. Es klappte, denn schließlich stapften die leuchtenden Strümpfe in den Ballerinas davon.
Die Atempause dauerte genau dreißig Sekunden.
„Na großartig“, ertönte es rechts von ihr, „jetzt reden Sie auch noch mit der Journaille!“
Clara fuhr herum. Kommissar Hartmann hatte angelegentlich seine Hände in den Hosentaschen versenkt.
„Ich habe kein Wort gesagt“, verteidigte sie sich hastig. „Diese ... diese Journalistin ist mir einfach nachgegangen, aber ich habe ihr jegliche Auskunft verweigert.“
„Der HR3 hat eben von einem verstümmelten Mordopfer berichtet“, sagte er anklagend, und obwohl es nicht Claras Schuld war, dass die Nachricht ihre Runde gemacht hatte, senkte sie schuldbewusst den Kopf.
„Ich gebe nur Informationen weiter, die das Museum betreffen“, murmelte sie.
„Und welche wären das? Dass es heute wegen Regen geschlossen bleibt oder was?“
Clara wollte sich nicht weiter auf diese Auseinandersetzung einlassen. „Haben Sie schon einen Anhaltspunkt ... ich meine, wer das war und ... warum.“
Er trat sehr dicht an sie heran, der Geruch seiner Lederjacke drang ihr in die Nase.
„Nein. Sie etwa?“
„Ich dachte, das ist Ihr Job.“
„Und ich dachte, sie hätten Nicholas Roth gekannt. Irgendwelche Vermutungen? Hatte er Probleme, hatte er Feinde?“
„Nicht das ich wüsste, aber ...“, Clara zögerte, wusste nicht, ob sie sich ihm anvertrauen sollte, „Aber mir ist noch etwas aufgefallen“, sagte sie schließlich. „Die Art, wie sein Leichnam dalag ... die kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich meine, ich habe noch nie einen Toten gesehen, aber irgendwas an dieser Armhaltung ... ich weiß auch nicht, es fällt mir nicht recht ein, aber ...“
Sie geriet vollends ins Stammeln. Hartmann verdrehte entnervt die Arme, ehe er laut „He!“ schrie. Clara zuckte zusammen, aber der Schrei galt nicht ihr. „He! Luis! Kannst du mir was mitbringen?“
Er ließ Clara stehen, rannte über die Straße zu seinem Kollegen, der offenbar auf dem Weg zur Wurstbude war. Clara verstand nur Wortfetzen. Hartmann wollte kein Wurst, auch keinen Fleischkäse, nur eine Brezel, aber nicht vom Würstelstand, sondern vom Brezen–Benno, der einen eigenen Stand hatte und wo die Brezel halb so teuer waren wie in der Bäckerei.
Wieder fühlte Clara, wie es ganz flau in ihrem Magen wurde. Vielleicht sollte sie selbst ins Schirn–Café gehen, gleich gegenüber der gleichnamigen Kunstsammlung, und schauen, was dort als Mittagsgericht angeboten wurden. Oder zu dem Suppenladen, der um die Ecke aufgemacht hatte.
Ehe sie sich aufraffen konnte, fiel ihr Blick auf ein weiteres Auto, das direkt vor dem Museum geparkt – ebenso im absoluten Halteverbot, in dem immer noch ihres stand. Ein Mann lehnte sich an die geschlossene Tür und blickte ihr vorwurfsvoll entgegen.
Mist!, ging ihr durch den Kopf. Mist, Mist, Mist! Der hat mir gerade noch gefehlt ...