Читать книгу Im Staub sollst du kriechen - Kristin Adler - Страница 8

3.

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Der Beamte kam wieder zurück, ebenso langsam wie er gerade die drei Stufen hinauf gestapft war und mit noch missmutigerem Gesicht.

„Seid ihr wahnsinnig?“, fragte er.

Clara fuhr herum. „Bitte?“

„Ein Euro fünfzig für so 'ne künstliche Scheißbrühe, das kann doch nicht euer Ernst sein!“ Er schnaubte verächtlich. „Und jetzt?“, fragte er Clara.

„Was ... jetzt? Können Sie mir bitte endlich sagen ...“

„Wo kriege ich einen anständigen Kaffee her? Und danach habe ich ein paar Fragen an Sie.“

Was für ein ..., ging Clara durch den Kopf, aber sie brachte den Gedanken nicht zu Ende. Noch größer als der Ärger über diesen Idioten, war ihre Angst.

„Kommen Sie mit. Es gibt eine kleine Kaffeeküche.“

Die Ausstellungsräume sahen aus wie immer. Die Vitrinen, in denen sich Prunkkelche und Strahlenmonstranzen, liturgische Gewänder und Faksimile, Kruzifixe, Weihereliquiare und Siegel des ehemaligen Bartholomäusstiftes befanden, waren dunkel. Sie wurden ausschließlich während der Öffnungszeiten beleuchtet – ebenso wie diverse Heiligenstatuen, die Kreuzblume vom Frankfurter Dom oder die Gemälde, die an den Wänden hingen und von denen eine Mariendarstellung aus der Spätgotik, das älteste der Bilder, das Highlight darstellte. Die Tür zu ihrem Büro war verschlossen.

„Da können Sie jetzt nicht reingehen“, meinte der Mann, der ihr gefolgt war.

Als sie die Kaffeeküche erreicht hatte, merkte Clara, dass ihre Hände zitterten. Hartmann schmiss schwungvoll den noch vollen Kaffeebecher in den Müll. Kleine, braune Spritzer beschmutzen die weißen Fliesen.

„Das ist alles?“, fragte er. Clara folgte seinem Blick. In der Ecke stand eine verkalkte, altmodische Kaffeemaschine. Unter der Spüle befand sich zwar eine italienische Espressomaschine und ein Milchschäumer, mit denen sie sich manchmal einen Cappuccino machte, aber sie nickte, stellte sich unauffällig vor die Spüle und deutete Richtung Wandregal.

Hartmann öffnete es, zog eine Tüte mit Filter und eine Packung Eduscho hervor. Viel Pulver war nicht mehr drinnen, höchsten drei Kaffeelöffel. Er schüttete alles in den Filter, und als ihr der Kaffeeduft in die Nase stieg, begannen ihre Schläfen zu schmerzen.

Als er damit kämpfte, den Stecker der Kaffeemaschine in die Dose zu stecken, kämpfte sie gegen das Bedürfnis, ihm zu helfen.

Bei ihrem ersten Praktikum in einem Museum – damals hatte sie im dritten Semester Kunstgeschichte studiert –, war es neben Kopierarbeiten und Telefonate ihre wichtigste Aufgabe gewesen, Kaffee zu kochen. Ihr Chef hatte behauptet, dass niemand so eine gute Latte macchiato zaubern könnte wie sie. Clara war geschmeichelt gewesen, aber gelernt hatte sie während des Praktikums so gut wie gar nichts.

„Hauptkommissar Martin Hartmann“, knurrte der Mann, während er den Filter in den Behälter gab, eine Tasse aus dem Wandschrank holte, deren Henkel abgebrochen war, sie mit Wasser füllte und es in den Wassertank der Maschine.

„Machen Sie für mich auch eine Tasse!“, forderte Clara ihn auf.

Er hob die Brauen. „Haben Sie noch mehr Kaffee?“

„Nein.“

„Dann wird das aber 'ne schwache Plörre.“

Sie zuckte die Schultern, er kippte eine zweite Tasse Wasser in den Tank.

„Herr Hartmann ...“

„Hauptkommissar Hartmann. Und Sie sind Clara Mohr, habe ich das richtig im Kopf? Die Leiterin des Museums?“

„Es ist Nicholas.“ Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage, auch wenn sie immer noch hoffte, sie würde sich irren.

Doch Hartmann bestätigte ihre Vermutung. „Wenn Sie Nicholas Roth meinen – dann ja. Der Name steht zumindest im Perso, den wie beim Toten gefunden haben. Sie kennen ihn also. Wie gut kennen Sie ihn?“

Clara fühlte, wie sämtliches Blut aus ihrem Gesicht wich. Kurz setzte ihr Zeitgefühl aus, sie wusste nicht, ob nur einige Sekunden oder eine ganze Minute vergangen waren, bis Hartmann seine Frage wiederholte: „Also – wie gut kennen ... kannten Sie ihn?“

„Er ist ein Bekannter ... ein Freund ...“, stammelte sie.

„Eher Bekannter oder eher Freund?“

„Wir haben an der gleichen Uni studiert.“

Sie hatte Nicholas etwa ein halbes Jahr nach besagtem Praktikum kennen gelernt. Sie arbeitete an einer Seminararbeit über das gleiche Thema, dem er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät seine Dissertation widmete – dem Lutherbild von Lucas Cranach dem Älteren. So waren sie ins Gespräch gekommen, und seitdem war Nicholas in regelmäßigen Abständen in ihrem Leben aufgetaucht, zuerst als Lehrer, dann, als sie ihr Studium abgeschlossen hatte und kurzzeitig an der Uni arbeitete, als Kollege. Nachdem sie geheiratet und ihren Job aufgegeben hatte, trafen sie sich weiterhin, nicht, weil sie ihn besonders mochte, sondern weil er sie an ein freies, ungebundenes Leben erinnerte, als sich die Yellow–Press noch keinen Deut um sie geschert hatte und sie noch kein Mitglied eines der größten Adelshäuser Deutschlands war. Und dann ... als ihre Ehe mit Philip zu kriseln begann ...

„Sie wussten also, dass er sich gestern Abend hier im Museum aufgehalten hat?“, fragte Kommissar Hartmann.

Clara schreckte aus ihren Gedanken hoch, fühlte sich ertappt. In der Kaffeemaschine begann es zu brodeln, erste dunkle Tropfen platschten in die gläserne Kanne. Ihre Haare tropften auch noch immer. Sie nahm ein Stück Küchenrolle und wischte über den Kopf und Nacken.

„Nicholas arbeitete die letzten Jahre in Berlin“, sagte sie. „In der Generaldirektion der Städtischen Museen. Aber demnächst wollte er nach Frankfurt umziehen, er ist der designierte Direktor des Städelmuseums. Wir haben uns am Nachmittag auf einen Kaffee getroffen, weil wir uns länger nicht mehr gesehen haben ... Und er hat gefragt, ob er am Abend eine Weile mein Büro benutzen kann.“

Kommissar Hartmann blickte hoch. „Ich verstehe Sie richtig: der künftige Direktor des Städelmuseums muss seine ehemalige Kollegin ... Bekannte ... Freundin um Hilfe bitten, damit er seine Emails checken kann? Hatte er denn kein I-Phone oder einen Laptop?“

„Es ging nicht nur um Emails. Er hat im Städel noch kein eigenes Büro, dort fängt er erst übernächsten Monat an. Er war hier in Frankfurt, weil er eine Wohnung suchte, für sich und seine ... Frau. Und seine beiden Söhne natürlich.“

„Er ist also verheiratet.“

Wieder fühlte sich Clara ertappt. Ja ... seit sie ihn kannte war da immer eine Ehefrau gewesen ...

Sie nickte. „Er wollte gestern in Ruhe an ein paar Sachen arbeiten. Und hier hatte er alles, was er brauchte: Faxgerät, Kopierer, Internetzugang, Telefon.“

„Das heißt, er konnte auf Kosten des Museums so viel telefonieren wie er wollte, obwohl er gar nicht hier arbeitet, sondern nur ein Freund von Ihnen ist.“

„Worauf wollen Sie hinaus? Dass ich meinen Arbeitgeber hintergehe?“

„Wer ist denn Ihr Arbeitgeber? Und wie schaut Ihre Tätigkeit genau aus?“

In der Kaffeemaschine brodelte es lauter als zuvor, dann verstummte sie plötzlich. Die Kanne war halb voll, als Hartmann sie wegzog, obwohl noch weiterer Kaffee durch den Filter tropfte. Es zischte, als ein Tropfen auf die heiße Platte fiel und dort verdampfte.

„Wie gesagt, ich ... ich bin Leiterin des Museums“, erklärte Clara, um rasch hinzuzufügen: „Das klingt nach mehr als es ist. Das Museum ist sehr klein ... sehr überschaubar, wie Sie gesehen haben, es gibt nicht so viel zu tun. Ich schreibe die Pressemeldungen, wenn es Veranstaltungen oder Sonderausstellungen gibt, ich mache manchmal auch Führungen, vor allem mit Schulklassen. Außerdem leite ich eine Arbeitsgruppe, bei der über die künftige Ausrichtung des Museums diskutiert wird. Zum Beispiel ob es auch zeitgenössische kirchliche Kunst zeigen soll. Oder ob es in ‚ars sacrale’ unbenannt werden soll, weil das moderner klingt. Manchmal planen wir auch Ausstellungen mit anderen Museen, zum Beispiel mit dem Liebighaus am Schaumainkai, dort gibt es eine große Skulpturensammlung. Ich kümmere mich auch um die Post ... genau betrachtet ist es nur eine halbe Stelle, die ich hier ausfülle.“

Clara redete immer schneller. Nicht, dass irgendetwas davon wichtig war. Aber so lange sie sprach, musste sie nicht hören, was mit Nicholas geschehen war.

Wie kann man so was nur machen ... grässlich zugerichtet ... die Hand ... das Blut ...

„Ich arbeite aber trotzdem Vollzeit“, fuhr sie fort. „Die übrige Zeit als Kunstexpertin des Bistum Limburgs. Das ist ein wenig kompliziert, weil Limburg ja das Museum und folglich auch meine Stelle als Leiterin hier finanziert.“

„Limburg?“ fragte Hartmann.

„Frankfurt gehört zum Bistum Limburg und nicht zum Bistum Mainz.“

„Aha.“ Hartmann sah weder so aus, als habe er das schon mal gehört, noch wüsste er überhaupt genau, was ein Bistum ist.

„Und was machen Sie so als ... Kunstexpertin? Wie wird man so etwas überhaupt?“

„Ich habe Kunstgeschichte studiert, und ein paar Semester lang Mediävistik ... also mittelalterliche Geschichte. Und Theologie. Mein Schwerpunkt war Sakrale Kunst des Spätmittelalters, darüber habe ich auch meine Dissertation geschrieben. Viele wertvolle Kunstgegenstände befinden sich im Besitz der Kirche. Angenommen, es fällt die Renovierung eines Triptychon ...“

„Eines was?“

„Ein Block aus drei Tafeln. Die Form ist typisch für gotische Altarbilder. In so einem Fall werde ich dann hinzugezogen, ermittle die Kosten, stelle Kontakt zu Restauratoren her. Falls auf dem Dachboden irgendeiner Pfarrei bei der Entrümpelung ein altes Bild oder eine Statue gefunden wird – das kommt gar nicht so selten vor –, werde ich hinzugezogen, um ein Gutachten zu schreiben, also dessen Wert festzustellen.“

Clara schenkte sich den restlichen Kaffee ein, es war nicht viel, er füllte kaum die Hälfte der Tasse aus. Sie nahm einen hastigen Schluck, er war stark und so heiß, dass sie sich ihre Zunge verbrannte. Erst jetzt hatte sie den Mut, selber eine Frage zu stellen.

„Können Sie mir sagen, was genau mit Nicholas passiert ist?“

„Wie es ausschaut ist er durch einen Kopfschuss getötet worden“, sagte Kommissar Hartmann. „Aber das ist leider nicht alles. Zuvor hat ihn der Täter ...“

Er brach ab.

„Ja?“

Hartmann lugte aus dem Fenster. „Die Spusi ist da. Ich fürchte, so bald werden Sie Ihr Büro nicht nutzen können.“

Anstatt seinen Kollegen entgegen zu gehen, trank Kommissar Hartman den Kaffee in raschen Zügen leer. Als er die Tasse mit einem lauten Knall auf die Anrichte stellte, zuckte Clara zusammen. Die Gedanken, in die sie versunken war, waren banal, schrecklich banal.

Jetzt muss das Städel einen neuen Direktor suchen. Dabei hätten sie kaum einen besseren als Nicholas finden können. Nicholas war der geeignete Mann für den Posten, das war von Anfang an klar. Zielstrebig und gutaussehend. Charmant, vor allem mit Frauen, aber nicht minder beinhart, wenn das zielführender war.

Sie selbst hatte er immer mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt, ohne eine gewisse Distanz je abzulegen. Einmal hatte er behauptet, er wäre in sie verliebt, aber sie hatte gewusst, dass er mit solchen Gefühle nur kokettierte. Nicht nur wegen seiner Frau. Sondern weil er genaue Vorstellungen von seinem Leben hatte und jemand wie sie nicht in dieses Leben passte, zumindest nicht langfristig, höchstens mal für einen Café- oder Restaurantbesuch.

Ich wollte doch mit ihm ins „Oosten“ gehen, dachte sie plötzlich.

Das war ein Ausflugslokal auf dem Gelände der ehemaligen Ruhrorter Werft. Sie hatte gelesen, dass für das Interieur gebrauchte Materialien, die neu aufbereitet wurden - die Sessel auf der Terrasse waren aus altem Bootsholz aus Indonesien gebaut -, und als sie Nicholas davon erzählt hatte, war er genauso neugierig darauf gewesen wie sie. Jetzt, das wusste sie, würde sie sich wohl nie aufraffen, ins Oosten zu gehen, und sie war sich nicht sicher, wofür sie sich mehr schämte: Dass sie angesichts von Nicholas' Tod an etwas so Banales wie indonesische Bootsholzstühle dachte. Dass sie keine anderen Freunde hatten, die mit ihr Frankfurts Gastronomie erkundeten. Oder dass sie sich nicht aufraffen konnte, das allein zu tun.

„Wo waren Sie gestern Abend?“, fragte Kommissar Hartmann.

„Bin ich eine Tatverdächtige?“

„Sie haben zu diesem Museum doch jederzeit Zugang, oder? Ich schätze mal, dass es außerhalb der Öffnungszeiten abgeschlossen ist. Wer hat noch einen Schlüssel, wie viel Mitarbeiter gibt es?“

Wenn er das fragt, ging Clara durch den Kopf – sehr langsam, irgendwie zeitversetzt – dann gibt es keine Spuren eines gewaltsamen Einbruchs. Sie erinnerte sich, dass sie ihm einen Reserveschlüssel gegeben hatte, damit er später abschließen konnte.

„Pfarrer Berger ist der Kurator des Museums. Eigentlich ist er Pfarrer in der Gemeinde Sankt Andreas, deswegen hat er für das Museum kaum Zeit.“

Genau betrachtet ist er auch nicht oft in der Pfarrei, dachte sie.

„Frau Zielińska“, fuhr sie fort, „die kennen Sie schon, sie hat Nicholas ja gefunden. Und dann gibt es Frau Ried, sie arbeitet halbtags hier, das heißt, an den Tagen, an denen das Museum geöffnet sind. Ich kann Ihnen eine Liste mit allen Personen geben, die am Wochenende hier arbeiten – Frau Ried kümmert sich normalerweise darum. Sie ist außerdem für den Kartenverkauf und den Museumsladen zuständig. Manchmal springt sie bei den Führungen ein, wenn ich schon eine Gruppe habe.“

„Sie haben mir noch nicht gesagt, wo Sie gestern Abend waren.“

„Ich war bei meiner Schwägerin.“

Meiner Ex–Schwägerin, fügte sie im Stillen hinzu.

„Den ganzen Abend, bis etwa 23.00 Uhr“, fuhr sie fort. „Sie und ihr Mann werden das gerne bestätigen. Was genau ist denn nun mit ihm passiert? Kann ich ... kann ich ihn sehen?“

„Das geht während der Ermittlungen nicht. Außerdem würde ich mir das an Ihrer Stelle nicht antun, ist 'ne echte Schweinerei“, meinte Hartmann. Es klang gleichgültig, eher wie ein vorschriftsmäßiges „Betreten auf eigene Gefahr!“.

„Ich muss ihn sehen!“, wiederholte Clara nachdrücklich.

Hartmann zuckte die Schultern, ehe er die Männer der Spurensicherung empfing, die die Treppe hoch stürmte.

„Na endlich“, brummte er. „Noch schön ausgeschlafen vor Dienstbeginn? Wird Zeit, dass ihr endlich loslegt.“

Einer der Männer war im Türrahmen der Kaffeeküche stehen geblieben, sein Blick schweifte durch den Raum und blieb bei Hartmanns Kaffeetasse hängen. „Na großartig“, knurrte er. „Das nenne ich, sich am Tatort gemütlich machen. Du weißt aber schon, dass überall Spuren ...“

„Der Tatort ist nebenan, nicht hier“, unterbrach Hartmann ihn unbeeindruckt. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sich der Mörder hier erst 'nen Drink zubereitet hat, bevor er losschlug und dabei ein paar Fingerabdrücke hinterließ? Und außerdem ...“

Clara hörte nicht mehr auf seine Worte. Unauffällig war sie an Hartmann vorbeigeschlüpft, den Männern von der Spurensicherung einfach gefolgt.

Sie sah, wie der erste von ihnen langsam den Türknauf von ihrem Büro niederdrückte, auf der Schwelle kurz innehielt, den Raum schließlich betrat. Die anderen folgten, ohne auf Clara zu achten.

Sie atmete kräftig aus. Beim Ausatmen fühlt man weniger Schmerz, hieß es. Vielleicht hatte man beim Ausatmen auch weniger Angst. Sie wusste nicht, ob es half, ob es einen nennenswerten Unterschied gab, ob beim Einatmen dieses Unbehagen noch größer gewesen wäre – das Unbehagen bis zur Türschwelle vorzutreten, zu sehen, was sich dahinter verbarg. Es fühlte sich so an wie damals als Kind, als sie Urlaub bei den Großeltern machte und es eine Mutprobe war, in den finsteren Keller zu steigen, an dessen Decke eine flackernde Glühbirne baumelte und wirre Schatten warf. Überall standen Kisten mit verschrumpelten Äpfeln und Kartoffeln oder waren Regale mit grünlich–bräunlichen Plastikvorhängen verhängt. Obwohl ihre Großmutter gesagt hatte, dass dahinter Einmachgläser, Gemüse und Obst lagerten, hatte sie immer gedacht, dass dort tote oder, was noch schlimmer war, noch lebende Ratten lauerten.

Sie starrte auf ihren Schreibtisch, auf den Kalender, der dort stand, er hatte keinen einzigen Eintrag, ihre wenigen Termine merkte sie sich auswendig.

Wieder atmete sie langsam aus. Ihr Blick glitt weiter zum Drehsessel, auf den man einen Haufen geknüllter Kleidungsstücke geworfen hatte. Die Jacken der Polizisten, dachte sie, doch dann sah sie genauer hin und stellte fest, dass es Nicholas' Kleidung war: seine Jeans, sein weißes Hemd, seine schwarze Anzugjacke. Als sie gestern Kaffee getrunken hatte, hatte er sie abgelegt.

Warum haben die Beamten ihn denn ausgezogen?, dachte sie. Erst später, viel später, ging ihr auf, dass das nicht die Polizisten getan hatten, sondern der Mörder.

Ihr Blick glitt tiefer, sie presste die Augen zusammen, sodass sie alles nur durch einen schmalen Spalt sah. Irgendetwas Großes lag dort auf dem Fußboden, neben dem Schreibtisch, sie hätte einen Schritt vortreten müssen, um es genauer zu sehen, doch sie stand wie festverwurzelt.

Die Leiche, wahrscheinlich war es die Leiche. In ihrem Magen breitete sich ein merkwürdiges Kitzeln aus.

Einer der Männer erhob sich, gab den Blick auf etwas anderes frei, was auch auf dem dunkelbraunen Laminat–Fußboden lag. Dieses Ding war kleiner als die Leiche, und Clara riss unwillkürlich die Augen auf, um es besser zu erkennen. Wenn es so klein war, konnte sein Anblick doch nicht so schlimm sein.

Es war eine Hand.

Nicholas’ linke Hand.

Der Verlobungsring befand sich noch dran. Die Hand war zwischen Handgelenk und Ellenbogen abgetrennt, blutete nicht, zumindest jetzt nicht mehr; die Lake, in der sie lag, glich einem schwarzen, zähen Schleim. Clara durchstöberte ihr medizinisches Grundwissen, glaubte sich vage zu erinnern, dass solche Mengen an Blut ein Zeichen dafür waren, dass man das Gliedmaß schon vor dem Tod abgetrennt hatte.

Sie schluckte, und es schmeckte metallisch in ihrem Mund, obwohl sie das vertrocknete Blut doch nur sah, nicht roch. Es war nicht nur auf den Boden geflossen. Ihr Blick fiel auf die vormals noch weiße Wand, über die die roten Blutspritzer fast lächerlich akkurat einen halben Kreis zogen, als der Mörder Nicholas die Hand abgeschlagen hatte. Rasch starrte sie wieder auf diese Hand, als wäre ein Anblick erträglicher als der andere, obwohl beides ihre Übelkeit wachsen ließ.

Die Finger waren etwas verkrümmt, so, als würde Nicholas Klavierspielen, und die Kuppen waren bläulich verfärbt. Ansonsten sah die Hand nicht tot aus, sondern irgendwie noch ... warm.

Das Kitzeln in Claras Bauch verstärkte sich, ließ dann kurz nach, kam schließlich in Form eines Würgreflex wieder. Dennoch konnte sie nicht aufhören, auf die Hand zu starren, machte sogar noch einen Schritt nach vorne, um sie besser sehen zu können. Der Schnitt, mit dem sie abgetrennt worden war, war nicht glatt. Die Haut, diese bleiche, fast ins bläuliche gehende Haut sah wie ein abgerissener Stofffetzen aus. Sie konnte noch die Spuren von Adern sehen, die gerunzelten, im Sonnenlicht vertrockneten Würmern glichen. Etwas Weißes blitzte an der Schnittfläche hervor, vielleicht ein Knorpel, vielleicht der Knochen.

Jetzt wich Clara endlich zurück, betrachtete – ohne es zu wollen – auch den Leichnam, erkannte, was der Mörder mit diesem getan hatte. Dann erst drehte sich um, fühlte, dass es zu weit bis zu den Toiletten war und beugte sich über den weißen Abfalleimer, der im Gang stand.

Während sie würgte, fühlte sie Hartmanns Blick auf sich ruhen, abschätzig und irgendwie genervt. Er war ihr gefolgt, ohne dass sie es merkte, hatte jedoch nicht zu verhindern versucht, dass sie den Toten sah.

Noch peinlicher als vor ihm zu kotzen, war, kotzen zu wollen, aber es nicht zu können. Ihre letzte Mahlzeit – irgendein Tandoorigericht mit Linsen, das ihre Schwägerin ... Ex–Schwägerin Dora nicht selber gemacht, sondern beim Inder bestellt hatte – lag länger als zwölf Stunden zurück. Nur Speichel floss aus ihrem Mund, zäher, bitterer Speichel, und dann, als ihr die Kehle unendlich weh tat, eine bräunliche Masse.

Hartmann trat neben sie.

„'ne echte Schweinerei“, murmelte er und ließ offen, auf was er anspielte.

„Herrgott, Hartmann!“, rief der Mann von der Spurensicherung genervt. „Das ist ein Tatort, kein Scheißhaus! Schaff sie raus!“

Clara wusste nicht, ob er sie oder die Leiche meinte.

Im Staub sollst du kriechen

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