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Das Yin und Yang des Selbstmitgefühls


Auf den ersten Blick wirkt Mitgefühl vielleicht wie eine weiche, zarte Eigenschaft, die ausschließlich damit in Verbindung gebracht wird, jemanden zu umsorgen und zu trösten. Da Mitgefühl für andere zu empfinden auch mit Fürsorge im Zusammenhang steht und hier insbesondere mit der Fürsorge für Kinder, kann es darüber hinaus sein, dass wir es ganz instinktiv eher den traditionellen Normen einer weiblichen Geschlechterrolle zuschreiben.51 Bedeutet das also, dass Selbstmitgefühl nicht wirklich etwas für uns alle ist? Dann frage dich einmal: Ist es weniger mitfühlend, in ein brennendes Gebäude zu stürmen, um eine dort eingesperrte Person zu retten, oder viele Stunden am Tag zu arbeiten, um die Familie zu versorgen – Verhaltensweisen also, die eher einer männlichen, handlungsorientierten Geschlechterrolle zugeordnet und kaum als weich oder zart beschrieben werden? Es wird ganz deutlich, dass wir unser kulturelles Verständnis von Mitgefühl und Selbstmitgefühl erweitern müssen, damit es seinen vielfältigen Erscheinungsformen gerecht wird.

Erforschen wir die Eigenschaften des Selbstmitgefühls, finden wir feminine wie auch maskuline Aspekte – genau wie alle Menschen beide Eigenschaften verkörpern, weibliche sowie männliche. In der traditionellen chinesischen Philosophie wird diese Dualität von den Prinzipien Yin und Yang repräsentiert. Das Konzept von Yin und Yang basiert auf der Annahme, dass alle scheinbar gegensätzlichen Eigenschaften, wie beispielsweise männlich und weiblich, hell und dunkel, aktiv und passiv, sich ergänzen und in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, wobei keines dem anderen über- oder untergeordnet ist. Dies bedeutet, dass Menschen, die sich als männlich oder weiblich identifizieren, auch die gegensätzlichen Qualitäten benötigen, um im Gleichgewicht zu sein. Bezeichnenderweise trägt jede Seite des Yin-Yang-Symbols einen Punkt mit der Farbe der anderen Seite in sich.


• Das Yin des Selbstmitgefühls umfasst die Eigenschaften des mitfühlenden »Mit-uns-selbst-Seins« – uns selbst liebevoll umsorgend, tröstend, bestätigend.

• Das Yang des Selbstmitgefühls umfasst das »Handeln in der Welt« – uns selbst beschützend, versorgend und motivierend.

Monique war sich nicht ganz sicher, was sie von so etwas wie Selbstmitgefühl halten sollte. Sie war in einer rauen Wohngegend aufgewachsen und erzählte jedem stets ganz stolz, dass sie nur hatte überleben können, weil sie sich schon im jungen Alter mit jeder Menge Mumm und Gewieftheit durchgeschlagen hatte. Wann immer sie vor einem Problem stand, ist sie ohne Zögern direkt darauf losgegangen.

Kürzlich wurde bei ihr Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Hier war ihr üblicher Umgang mit Problemen nicht so hilfreich. Moniques Familie, ihre Freunde und auch ihre Ärzte mussten einige Standpauken und Rüffel über sich ergehen lassen, wann immer Monique sich verletzlich fühlte oder ihre Diagnose und die verschriebene Ruhe und Entspannung sie ängstigten. Monique stürzte sich stets gern hektisch in Aktivitäten, um sich davor zu schützen, ihren Gefühlen ausgesetzt zu sein. Der MS gegenüber jedoch funktionierte diese Abwehrtaktik nicht. Der Gedanke, Selbstmitgefühl zu üben und mit sich selbst sanft und liebevoll umzugehen, waren ein Gräuel für Monique, die sich selbst für stoisch und tough hielt.

Xavier hatte das gegenteilige Problem. Obgleich auch seine Kindheit nicht leicht war, sein Stiefvater immer seine Mutter anschrie, so hatte er jedoch gelernt, Zuflucht in seinen Büchern zu finden und sich so unauffällig wie irgend möglich zu verhalten, bis der häusliche Sturm vorbeigezogen war. Er hatte schon in jungen Jahren erfahren, dass ein »Konfrontationskurs« die Dinge nur noch schlimmer macht.

Jetzt war Xavier Anfang zwanzig, das College lag hinter ihm, und er musste beginnen, sein eigenes Leben zu führen, und genug Geld verdienen, um aus der Wohnung seiner Mutter ausziehen zu können. Allerdings war er sich nicht sicher, ob ihm dies gelingen würde. Er nahm einen Job als Krankenpfleger an, nur um zu Hause ausziehen zu können. Damit fühlte er sich jedoch zutiefst unbefriedigt. Xavier brauchte jemanden, der an ihn glaubte und ihn ebenso ermutigen würde, das zu erreichen, was in seinen Möglichkeiten lag.

MSC bietet eine große Vielfalt an Übungen an. Jeder kann erforschen, welche Übungen am besten zu ihm passen. Einige der Übungen lassen sich eher der Yin-, andere eher der Yang-Kategorie zuordnen. Die meisten berücksichtigen beide Aspekte. Die Tabelle zeigt Beispiele von Übungen, die eher Eigenschaften des Yin oder des Yang des Selbstmitgefühls entsprechen. Natürlich wirken diese Eigenschaften zusammen und sind wechselseitig voneinander abhängig. Wenn wir unsere Bedürfnisse anerkennen, sind wir häufig motiviert, sie uns in unserem Leben zu erfüllen.

Das Yin und Yang des Selbstmitgefühls kultivieren



Der rote Faden, der all diese Übungen durchzieht, ist eine freundliche und fürsorgliche innere Haltung. Manchmal besteht mitfühlende Selbstfürsorge darin, sich selbst Trost zu spenden und sich sanft den schwierigen Emotionen zuzuwenden (sich zu beruhigen). In anderen Momenten besteht sie eher aus einem entschlossenen »Nein!« und darin, sich von einer Gefahr abzuwenden (sich zu beschützen). Zuweilen geht es darum, unserem Körper zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist, ihm Wärme und Sanftheit zu schenken (ihn zu umsorgen), und ein anderes Mal besteht sie darin herauszufinden, was wir brauchen, und uns dies zu geben (uns zu versorgen). Manchmal erfordert Selbstmitgefühl, dass wir dem, was sich uns zeigt, mit Offenheit und Akzeptanz begegnen (es bestätigen beziehungsweise anerkennen), und manchmal bedeutet Selbstmitgefühl, dass wir aufstehen und ins Handeln kommen müssen (uns motivieren).

Monique war sehr geschickt darin, wenn es um die Yang-Eigenschaften Stärke, Handeln und Entschlossenheit ging, um Herausforderungen an ihr Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden zu begegnen. Ihre Yin-Seite, der empfängliche Teil, war eher unterentwickelt, was vielleicht darin begründet lag, dass es sich für sie als Kind nicht sicher anfühlte, dem, »was ist«, mit Empfänglichkeit zu begegnen und es für »gültig« zu erklären. Moniques MS-Diagnose bedeutete, dass sie sich neue Fähigkeiten aneignen musste, um durchzukommen.

Moniques Freundin erzählte ihr von der »Selbstmitgefühlspause« (Kapitel 4), die eine Kombination verschiedener Elemente des Selbstmitgefühls in sich vereint. Sie vermittelt aber vor allem jene Eigenschaften, die ihr halfen, ihre Situation anzuerkennen und zu validieren (»Eine MS-Diagnose zu bekommen macht ganz schön Angst«), zu erkennen, dass sie nicht allein ist (»So gut wie jeder Mensch fühlt sich einsam und verletzlich, wenn er eine schwere Krankheit hat«), und sich dann selbst tröstende Worte zu sagen: »Alles wird gut. Wir gehen das Tag für Tag an.«

Die Selbstmitgefühlspause öffnete Monique die Tore für mehr Selbstmitgefühl. Allerdings fiel ihr das nicht leicht, da sie sehr viel Schmerz aus früheren Beziehungen in sich trug. Damals war sie jung und verletzlich. Monique hatte jedoch Mut, und den Silberstreif am Horizont, den ihr die MS eröffnete, sah sie darin, dass sie ihre Umstände akzeptieren musste. Den mit dieser Akzeptanz einhergehenden inneren Frieden, den sie nun zu spüren begann, hätte sie nie für möglich gehalten.

Xavier wiederum hatte nicht sehr viel Antrieb, aber ein sanftes Herz. Sein wütender Stiefvater hatte ihm jegliche Initiative ausgetrieben, da er immer das letzte Wort haben musste, und Xavier wurde ein Meister darin, Konflikte zu vermeiden und ein Schattendasein zu führen. Jetzt brauchte er Stärke und Mut, um in die Welt hinauszugehen.

Ganz »zufällig« sprang ihm im Krankenhaus ein Flyer ins Auge, der einen kurzen Selbstmitgefühlskurs für Fachkräfte im Gesundheitswesen bewarb. In diesem Kurs entdeckte Xavier, dass dieselbe innere Stimme, die ihm nahelegte, Sicherheit dadurch zu gewinnen, dass er zu Hause unsichtbar blieb, ihn nun bat, aus sich herauszugehen. Die beste Selbstmitgefühlsübung bestand für ihn darin, einen mitfühlenden Brief an sich selbst zu schreiben (Kapitel 11), sich selbst liebevoll zu motivieren, ganz so, wie er einem guten Freund schreiben würde, der in einer ähnlichen Situation steckte. Er schrieb sich jede Woche einen Brief, der jeweils die Schwierigkeiten und Herausforderungen thematisierte, die ihm aktuell begegneten. Schritt für Schritt wurde eine neue Stimme in Xavier wach – sein eigener innerer Coach, der ihm vom Spielfeldrand aus zujubelte. Nach einer Weile war Xavier in der Lage, das für sich zu beanspruchen, was er für ein sinnerfülltes Leben benötigte – seine eigenen grundlegenden Werte –, und dann unternahm er praktische Schritte, um diese in seinem Alltag zu verwirklichen.


ÜBUNG Welche Eigenschaften des Selbstmitgefühls brauche ich gerade?

Selbstmitgefühl umfasst wahrscheinlich mehr unterschiedliche Eigenschaften, als du bisher gedacht hast. Einige Yin- und Yang-Aspekte des Selbstmitgefühls sind im Folgenden aufgeführt. Schau sie dir einmal an, und überleg dir, welche davon du jetzt gerade am ehesten benötigst. Dies wird dir beim weiteren Durcharbeiten dieses Buches helfen zu verstehen, auf welche Weise Selbstmitgefühl für dich nützlich sein kann.

YIN

• Umsorgen. Umsorgen ist etwas, was wir für eine(n) liebe(n) Freund(in) tun würden, dem/der es nicht gutgeht. Es bezieht sich darauf, einem leidenden Menschen speziell dadurch zu helfen, dass wir uns liebevoll seinen emotionalen Bedürfnissen zuwenden und unsere Unterstützung anbieten, damit er sich besser fühlen kann. Ist das etwas, was jetzt auch dir guttäte? Denkst du, es könnte dir helfen, mehr darüber zu lernen, wie du dich selbst halten und für dich sorgen kannst, wenn du aufgewühlt bist?


• Beruhigen. Auch durch Beruhigung können wir Menschen helfen, sich besser zu fühlen. Hierbei geht es insbesondere darum, ihnen zu helfen, mehr körperliche Ruhe zu spüren. Ist das etwas, wovon du dir mehr wünschen würdest? Würdest du dich gerne körperlich wohler und entspannter fühlen?


• Anerkennen/Bestätigen. Wir können jemandem auch dadurch helfen, dass wir verstehen, was er oder sie durchmacht, und dies durch liebevolle und behutsame Worte zum Ausdruck bringen. Fühlst du dich allein und missverstanden, und sehnst du dich nach einer Art von Anerkennung/Bestätigung? Meinst du, es könnte hilfreich für dich sein zu lernen, wie du deine eigenen Gefühle anerkennen kannst?


YANG

• Beschützen. Der erste Schritt in Richtung Selbstmitgefühl besteht darin, sich selbst sicher und beschützt zu fühlen. Sich zu schützen bedeutet, Nein zu sagen: zu anderen, die uns verletzen, ebenso zu uns selbst und den Verletzungen, die wir uns häufig auf unbewusste Weise zufügen. Wirst du in irgendeiner Weise verletzt und möchtest einen Weg finden, die innere Stärke aufzubringen, dies zu beenden?


• Versorgen. Uns zu versorgen bedeutet, uns selbst das zu geben, was wir wirklich brauchen. Zuerst einmal müssen wir wissen, was wir tatsächlich benötigen, dann entwickeln wir die Überzeugung, es verdient zu haben, dass sich unsere Bedürfnisse erfüllen, und im Anschluss daran müssen wir aktiv werden und versuchen, uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Niemand kann das so gut für uns tun wie wir selbst. Möchtest du gern lernen, wie du dich effektiver um deine Bedürfnisse kümmern kannst?


• Motivieren. Die meisten von uns haben Träume und Ziele, die wir in diesem Leben verwirklichen möchten. Darunter sind auch kleinere, kurzfristigere Ziele. Selbstmitgefühl motiviert uns wie eine gute Trainerin mittels Freundlichkeit, Unterstützung und Verständnis und nicht durch strenge Selbstkritik. Denkst du, es wäre hilfreich für dich zu lernen, dich selbst durch Liebe zu motivieren anstatt durch Angst?


REFLEXION

Wir hoffen sehr, dass dir die Frage »Was brauche ich jetzt gerade?« eine ständige Begleiterin ist, während du dieses Buch durcharbeitest. Einfach allein, indem du dir diese Frage stellst, erlaubst du dir einen Moment des Selbstmitgefühls, selbst wenn du gerade keine Antwort findest oder nicht die Möglichkeit hast, dir deine Bedürfnisse zu erfüllen.

Selbstmitgefühl - Das Übungsbuch

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