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Was Selbstmitgefühl nicht ist


Oft äußern Leute Bedenken, ob es denn eine gute Idee sei, selbstmitfühlend zu sein, oder ob wir nicht vielleicht zu einfühlsam mit uns selbst sein könnten. Ganz sicher gilt Selbstmitgefühl in der westlichen Kultur nicht als Tugend, und einige Menschen hegen ein tiefes Misstrauen gegen einen freundlichen, liebevollen Umgang mit sich selbst. Da diese Zweifel oft unsere Fähigkeit hemmen, selbstmitfühlend zu sein, ist es sinnvoll, sie einmal genauer zu betrachten.


ÜBUNG

Meine Bedenken gegenüber Selbstmitgefühl

Schreib die Bedenken auf, die du persönlich gegenüber Selbstmitgefühl hegst – die Ängste oder Befürchtungen, die du in Hinblick auf seine möglichen Nachteile hast.


Manchmal ist unsere Haltung auch durch das geprägt, was andere Menschen in unserem Umfeld tatsächlich oder unserer Meinung nach über Selbstmitgefühl denken. Schreib die Zweifel oder Einwände auf, die andere oder »die Gesellschaft« zum Thema »Selbstmitgefühl« ins Feld führen (könnten).


REFLEXION

Wenn du einige der Bedenken identifiziert hast, die du gegenüber dem Selbstmitgefühl hegst, dann ist das schon mal gut. Diese Bedenken stellen Hindernisse dar, die dich in deiner Fähigkeit hindern, selbstmitfühlend zu sein. Und sich dessen gewahr zu werden ist der erste Schritt, diese Hindernisse abzubauen. Glücklicherweise gibt es immer mehr Forschungsergebnisse, die belegen, dass die häufigsten Bedenken gegenüber Selbstmitgefühl auf einem falschen Verständnis beruhen. Mit anderen Worten, diese Missverständnisse sind im Allgemeinen unbegründet.

Im Folgenden sind einige der Befürchtungen genannt, die wieder und wieder in unseren Kursen geäußert werden. Im Anschluss daran folgt immer eine kurze Erläuterung der vorliegenden Erkenntnisse, die Gegenteiliges belegen.

Bedenken gegenüber Selbstmitgefühl beruhen häufig auf einem Missverständnis.

»Heißt Selbstmitgefühl nicht einfach, dass ich in Selbstmitleid zerfließe – nach dem Motto ›Ich Ärmste(r)!‹?«

Viele Menschen befürchten, dass Selbstmitgefühl nichts anderes als eine Art des Selbstmitleids ist. Tatsächlich ist es jedoch sogar das Gegenmittel dazu. Während das Selbstmitleid »Ich arme Socke!« schreit, erkennt das Selbstmitgefühl an, dass das Leben für alle schwer ist. Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen mit Selbstmitgefühl eher zu einer Perspektivübernahme neigen,23 als den Fokus allein auf ihren eigenen Stress auszurichten. Sie neigen auch weniger dazu, darüber zu grübeln, wie schlimm das alles ist.24 Dies ist auch einer der Gründe, aus dem Menschen mit Selbstmitgefühl über eine bessere seelische Gesundheit verfügen. Selbstmitgefühl erinnert uns daran, dass jeder leidet (die Erfahrung der gemeinsamen Menschlichkeit). Das Ausmaß des Leidens wird dabei nicht übertrieben (Achtsamkeit), und wir nehmen nicht die Haltung »Mir geht es aber am schlechtesten« … ein.

»Selbstmitgefühl ist etwas für Schwächlinge. Ich muss hart und stark sein, um mein Leben zu bewältigen.«

Ein weiterer wichtiger Einwand lautet, dass Selbstmitgefühl uns schwach und verletzlich werden lässt. In Wirklichkeit ist es jedoch eine verlässliche Quelle innerer Stärke, die uns Mut macht und unsere Resilienz fördert, wenn wir in Schwierigkeiten geraten. Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen mit Selbstmitgefühl eher in der Lage sind, mit schwierigen Situationen zurande zu kommen, zum Beispiel mit einer Scheidung,25 einem Trauma26 oder chronischen Schmerzen27.

»Ich sollte mehr an andere denken, nicht nur an mich. Selbstmitgefühl zu haben ist viel zu egoistisch.«

Manche sorgen sich, dass sie egoistisch wirken könnten, wenn sie Mitgefühl für sich selbst entwickelten. Doch ganz im Gegenteil versetzt uns Mitgefühl mit uns selbst sogar in die Lage, anderen in unseren Beziehungen noch mehr geben zu können. Die Forschung zeigt, dass Menschen mit Selbstmitgefühl in der Partnerschaft fürsorglicher und unterstützender28 sowie in Beziehungskonflikten eher zu Kompromissen29 bereit sind, mehr Mitgefühl für andere haben und nachsichtiger reagieren.30

»Durch Selbstmitgefühl werde ich träge. Wahrscheinlich werde ich dann, wann immer mir der Sinn danach steht, die Arbeit liegenlassen und den ganzen Tag im Bett bleiben und Schokolade naschen.«

Auch wenn viele Menschen die Sorge haben, dass Selbstmitgefühl bedeutet, sich gehenzulassen, führt es im eigentlichen Sinne zum genauen Gegenteil. Mitgefühl wird bei uns ein dauerhaft gesundes Verhalten und Wohlergehen fördern und nicht nur ein rein kurzfristiges Vergnügen bereiten (ähnlich wie eine mitfühlende Mutter darauf bedacht ist, ihr Kind nicht so viel Eis essen zu lassen, wie es möchte, sondern es liebevoll dazu auffordert, sich eher gesünderen Leckereien zuzuwenden). Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen mit Selbstmitgefühl zu gesünderem Verhalten neigen, weil sie Sport treiben,31 sich gesund ernähren,32 weniger Alkohol trinken33 und regelmäßiger den Arzt aufsuchen als der Durchschnitt.34

»Wenn ich Mitgefühl mit mir selbst habe, lasse ich mir alles durchgehen. Ich muss streng zu mir sein, wenn ich etwas vermassle, um sicherzugehen, dass ich niemanden verletze.«

Eine weitere Sorge besteht darin, dass Selbstmitgefühl eine Art Ausrede oder Entschuldigung für schlechtes Benehmen ist. Vielmehr gibt uns Selbstmitgefühl jedoch die nötige Sicherheit, eigene Fehler zuzugeben, statt andere für diese zu beschuldigen. Die Forschung zeigt, dass Menschen mit Selbstmitgefühl eher bereit sind, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen35 und eher dazu neigen, sich zu entschuldigen, wenn sie jemanden verletzt haben.36

»Ich werde nie dahin kommen, wo ich im Leben hinwill, wenn ich auch nur einen Moment von meiner konsequenten Selbstkritik Abstand nehme. Sie treibt mich an und lässt mich erfolgreich sein. Selbstmitgefühl mag ja für einige das Richtige sein, aber meine Messlatte hängt hoch, und ich habe hohe Ziele, die ich in meinem Leben verwirklichen will.«

Ein äußerst weit verbreitetes Missverständnis ist, dass Selbstmitgefühl die eigene Motivation untergraben könnte. Die meisten Menschen halten Selbstkritik für einen erfolgreichen Motivator, aber in Wirklichkeit unterwandert sie das Selbstvertrauen und führt zu Versagensängsten. Haben wir Selbstmitgefühl, sind wir nach wie vor motiviert, unsere Ziele zu erreichen – nicht, weil wir so, wie wir sind, unzulänglich wären, sondern weil wir uns selbst wichtig sind und unser volles Potenzial verwirklichen wollen. Die Forschung zeigt, dass Menschen mit Selbstmitgefühl hohe persönliche Standards haben, sich aber nicht so sehr darüber ärgern, wenn sie sie verfehlen sollten.37 Sie haben weniger Versagensängste38 und sind eher bereit, nach einem Scheitern einen erneuten Versuch zu wagen und ihre Bemühungen aufrechtzuerhalten.39

Spieglein, Spieglein an der Wand

Sehr häufig hören wir Bemerkungen wie die folgende, wenn wir mit den Leuten über das Thema »Selbstmitgefühl« sprechen.

»Selbstmitgefühl, das ist doch, als ob man es toll findet, in den Spiegel zu schauen und zu sagen: ›Ich bin gut, ich bin klug, und, verdammt nochmal, ich bin bei allen beliebt!‹ Oder etwa nicht?«

Um Selbstmitgefühl wirklich zu verstehen, ist es wichtig, es von einem nahen Verwandten zu unterscheiden: dem Selbstwertgefühl. In der westlichen Kultur bedeutet ein hoher Selbstwert, dass wir uns von anderen abheben, etwas Besonderes sind und Überdurchschnittliches leisten. Problematisch ist natürlich, dass nicht alle zugleich überdurchschnittlich sein können. Vielleicht gibt es einige Bereiche, in denen wir hervorragend sind; es wird aber immer jemanden geben, der attraktiver, erfolgreicher, intelligenter ist als wir. Wir könnten uns also immer wie Versager fühlen, wenn wir uns mit denen vergleichen, die »besser« sind als wir.

Selbstmitgefühl ist nicht mit Selbstwertgefühl zu verwechseln.

Unser Verlangen, besser zu sein als der Durchschnitt, und das Bemühen, das flüchtige Gefühl eines hohen Selbstwerts aufrechtzuerhalten, kann allerdings zu geradezu gemeinem Verhalten führen. Warum etwa beginnen manche Jugendliche, einander zu hänseln? Wenn ich als das »coole Kid« gesehen werde im Vergleich zu dem feigen Streber, den ich gerade gehänselt habe, pumpt sich mein Selbstwertgefühl auf. Warum haben wir so viele Vorurteile? Wenn ich denke, dass meine ethnische Zugehörigkeit, mein Geschlecht, meine Nationalität oder meine politische Gruppierung besser ist als deine, plustert sich mein Selbstwertgefühl auf.

Selbstmitgefühl ist jedoch etwas völlig anderes als Selbstwertgefühl, obwohl beide ganz eng mit psychologischem Wohlbefinden verwoben sind:

• Selbstwertgefühl kann man als positive Einschätzung der eigenen Bedeutung verstehen. Selbstmitgefühl hingegen ist mit keinerlei Bewertung oder Urteil verbunden. Es bezeichnet die Art und Weise, wie wir mit Freundlichkeit und Akzeptanz zu der sich ständig verändernden Landschaft in uns selbst in Beziehung treten – vor allem dann, wenn wir bei etwas scheitern oder uns unzulänglich fühlen.

• Für das Selbstwertgefühl ist es notwendig, sich besser als andere zu fühlen. Selbstmitgefühl erfordert anzuerkennen, dass wir alle unvollkommen sind.

• Selbstwertgefühl tendiert dazu, uns zu unterstützen, wenn wir uns auf der Sonnenseite befinden und Erfolg haben; es lässt uns häufig jedoch genau dann im Stich, wenn wir es am nötigsten bräuchten – in Momenten des Versagens oder wenn wir uns etwa zum Narren gemacht haben. Selbstmitgefühl ist immer für uns da. Es bietet eine verlässliche Quelle der Unterstützung, selbst wenn alles um uns herum zusammenzubrechen scheint. Es schmerzt auch weiterhin, wenn unser Stolz verletzt wird, aber wir können freundlich mit uns umgehen, weil es schmerzt: »Mann, das war ja ziemlich blamabel. Es tut mir sehr leid. Aber okay, so was kommt halt immer wieder mal vor.«

• Verglichen mit Selbstwertgefühl, ist Selbstmitgefühl weniger abhängig von Bedingungen wie körperlicher Attraktivität oder Erfolg und Leistung,40 und es führt im Laufe der Zeit zu einem natürlicheren, stabileren Selbstwert. Es ist mit weniger sozialen Vergleichen verbunden und weniger narzisstisch als Selbstwertgefühl.


ÜBUNG Wie funktioniert Selbstwertgefühl für dich?

Wie fühlst du dich, wenn du die Rückmeldung bekommst, deine Leistung beziehungsweise dein Verhalten in einem Bereich, der dir wichtig ist (beispielsweise im Beruf, als Elternteil oder als Freund), sei durchschnittlich?


Wie fühlst du dich, wenn jemand besser ist in einem Bereich, der dir wirklich etwas bedeutet (wenn er oder sie beispielsweise höhere Verkaufszahlen hat, köstlicheren Kuchen für die Schulfeier backt, besser Fußball spielt, besser im Badeanzug aussieht)?


Wie beeinflusst es dich, wenn du in einem Bereich scheiterst, der dir wichtig ist (wenn beispielsweise die Evaluation deiner Lehrtätigkeit schlecht ausfällt, dein Kind dir sagt, dass du ein schrecklicher Vater bist, oder wenn du kein zweites Mal zum Ausgehen eingeladen wirst)?


REFLEXION

Wenn es dir geht wie den meisten, dann fühlt es sich auch für dich nicht gerade gut an, »nur« durchschnittlich zu sein, dir wird es nicht gefallen, wenn andere besser sind als du; und ganz ehrlich gesagt: Zu scheitern zehrt ganz schön an den Nerven. Das ist nur allzu menschlich. Dennoch gilt es zu bedenken, dass dies alles wesentliche Einschränkungen des Selbstwertgefühls sind: Es verursacht, dass wir uns permanent mit anderen vergleichen, und bringt es mit sich, dass unser Selbstwert ständig auf und ab hüpft wie ein Pingpongball, abhängig von unserer jüngsten Erfahrung des Erfolgs oder des Scheiterns. Wenn uns auffällt, dass unser Bedürfnis nach einem hohen Selbstwertgefühl uns Probleme bereitet, dann ist es an der Zeit, eine neue Art und Weise zu üben, in der wir mit uns selbst in Beziehung zu treten – eben mit Selbstmitgefühl.

Selbstmitgefühl - Das Übungsbuch

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