Читать книгу Selbstmitgefühl - Das Übungsbuch - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 7

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Was ist Selbstmitgefühl?


Selbstmitgefühl zu haben bedeutet, dass du dich selbst so behandelst, wie du mit einem Freund oder einer Freundin umgehen würdest, die gerade eine schwere Zeit durchmachen – auch wenn sie etwas vermasselt haben, sich unzulänglich fühlen oder einfach vor einer schwierigen Herausforderung im Leben stehen. Die westliche Kultur betont sehr stark, wie wichtig es ist, zu unseren Freunden, unserer Familie und unseren Nachbarn freundlich zu sein, gerade wenn diese Probleme haben, welcher Art auch immer. Keinesfalls wird diese Fürsorglichkeit aber von uns verlangt, wenn es um uns selbst geht. Durch die Praxis des Selbstmitgefühls können wir jedoch lernen, uns selbst ein guter Freund oder eine gute Freundin zu sein, und zwar in den Momenten, in denen wir es am dringendsten benötigen – und zu einem inneren Verbündeten zu werden statt zu einem Feind. Üblicherweise behandeln wir uns selbst allerdings nicht so gut, wie wir mit unseren Freunden umgehen.

Durch Selbstmitgefühl lernen wir, uns selbst ein innerer Verbündeter zu werden statt ein innerer Feind.

Die goldene Regel lautet: »Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt werden möchtest.« Allerdings willst du höchstwahrscheinlich andere lieber nicht so behandeln, wie du mit dir selbst umgehst! Stell dir vor, dass deine beste Freundin dich anruft, nachdem ihr Partner gerade mit ihr Schluss gemacht hat, und die Unterhaltung läuft wie folgt ab:

»Hi«, sagst du, als du das Telefon abnimmst. »Wie geht’s dir denn so?«

»Furchtbar«, erwidert sie, die Tränen unterdrückend. »Weißt du, Michael, dieser Typ, mit dem ich einige Male ausgegangen bin? Der war der erste Mann, zu dem ich mich wirklich wieder hingezogen gefühlt habe seit meiner Scheidung. Gestern Abend hat er mir gesagt, ich würde ihn zu sehr unter Druck setzen und dass er lieber nur befreundet sein möchte. Ich bin vollkommen fertig.«

Du seufzt und sagst: »Na ja, um ehrlich zu sein, liegt es wahrscheinlich daran, dass du alt, hässlich und langweilig bist, mal ganz abgesehen davon, auch noch bedürftig und abhängig. Außerdem hast du mindestens zehn Kilo zu viel auf den Knochen. Ich würde jetzt einfach aufgeben, denn es gibt wirklich keinerlei Hoffnung, jemanden zu finden, der dich lieben könnte. Ganz offen gesagt, verdienst du das auch einfach nicht!«

Würdest du je so mit jemandem sprechen, der dir wichtig ist? Selbstverständlich nicht. Seltsamerweise sind es aber genau solche Worte, die wir in einer derartigen Situation zu uns selbst sagen – wenn nicht gar Schlimmeres. Durch Selbstmitgefühl lernen wir, stattdessen wie eine gute Freundin mit uns selbst zu sprechen. »Das tut mir so leid. Geht’s dir gut? Du musst ganz aufgewühlt sein. Denk dran, ich bin für dich da, und ich schätze dich sehr. Kann ich irgendetwas tun, um dir zu helfen?«

Sich selbst so zu behandeln, wie wir eine gute Freundin behandeln würden, ist eine einfache Art und Weise, Selbstmitgefühl zu verstehen. Eine umfassendere Definition enthält jedoch drei Kernelemente, die wir aufbringen, wenn wir Schmerzen erleben: Selbstfreundlichkeit, ein Gefühl für die gemeinsame menschliche Erfahrung und Achtsamkeit.22

SELBSTFREUNDLICHKEIT: Wenn wir einen Fehler machen oder in irgendeiner Hinsicht versagen, neigen wir eher dazu, uns selbst fertigzumachen, als uns in Gedanken einen Arm um die eigene Schulter zu legen. Denk an all die großzügigen, fürsorglichen Menschen, die du kennst, die sich selbst aber ständig mit Kritik zerfleischen (vielleicht gehörst du ja auch dazu). Selbstfreundlichkeit begegnet dieser unseligen Neigung und lässt uns mit der eigenen Person so freundlich umgehen, wie wir andere behandeln sollten. Statt mit uns selbst ins Gericht zu gehen, wenn wir persönliche Unzulänglichkeiten an uns bemerken, geben wir uns Unterstützung und sprechen uns Mut zu, bemüht, uns selbst vor Verletzungen zu beschützen. Statt uns selbst anzugreifen und dafür zu schelten, dass wir nicht gut genug sind, schenken wir uns Wärme und bedingungslose Akzeptanz. Das kommt uns vor allem auch dann zugute, wenn unsere äußeren Lebensumstände herausfordernd und schwer auszuhalten sind – wir spenden uns aktiv Trost und geben uns Geborgenheit.

Theresa war vor Freude ganz aufgeregt: »Ich hab’s geschafft. Ich kann’s selbst kaum glauben, dass es mir gelungen ist. Aber ich war auf einer Firmenfeier letzte Woche, und da rutschte mir einer Kollegin gegenüber eine etwas unpassende Bemerkung heraus. Statt mich dann, wie sonst üblich, selbst innerlich auszuschimpfen, versuchte ich in der Folge, freundlich und verständnisvoll mit mir umzugehen. Ich sagte zu mir selbst: ›Herrje, davon geht die Welt nicht unter. Ich hab’s doch gut gemeint, selbst wenn es nicht so geschickt rübergekommen ist.‹«

GEMEINSAMES MENSCHSEIN. Ein Gefühl der verbindenden Humanität, des Miteinander-verbunden-Seins aller Menschen, ist ein weiterer zentraler Aspekt des Selbstmitgefühls. Wir sitzen alle in einem Boot. Es bedeutet zu erkennen, dass niemand »perfekt« ist und wir uns alle in ständiger Entwicklung befinden, hin und wieder versagen, Fehler machen, schwierige Umstände zu durchleben haben oder gar in arge Not geraten. Selbstmitgefühl erkennt die unvermeidliche Tatsache an, dass das Leben auch Leiden bereithält, und zwar für alle, ohne Ausnahme. Dies scheint offensichtlich zu sein, dennoch verlieren wir das häufig aus den Augen. Wir unterliegen der falschen Annahme, dass die Dinge stets glattlaufen sollten und dass mit uns irgendetwas »nicht stimmt«, wenn mal wieder etwas schiefgegangen ist.

Die drei Elemente des Selbstmitgefühls


Obwohl also eine große Wahrscheinlichkeit besteht – es in der Tat sogar unvermeidlich zu sein scheint –, dass uns Fehler unterlaufen und wir regelmäßig in Schwierigkeiten geraten, neigen wir dazu, diesbezüglich keinesfalls rational zu sein. Stattdessen leiden wir nicht nur, sondern fühlen uns isoliert und allein in unserem Leid. Wenn wir uns daran erinnern, dass Schmerz ein Teil der gemeinsamen menschlichen Erfahrung ist, dann wandelt sich jeder Moment des Leidens in einen Moment der Verbindung mit anderen. Der Schmerz, den ich in schweren Zeiten spüre, ist derselbe, den du in schweren Zeiten empfindest. Die Umstände unterscheiden sich, ebenso der Stärkegrad des Schmerzes, die grundlegende Erfahrung des menschlichen Leidens jedoch ist gleich.

Theresa fuhr fort: »Dann habe ich mich daran erinnert, dass jedem mal was rausrutscht. Ich kann nicht erwarten, dass ich in jedem Moment das Richtige sage. Es ist nur natürlich, dass so etwas geschieht.«

ACHTSAMKEIT. Achtsamkeit bedeutet, sich des gegenwärtigen Erlebens von Moment zu Moment klar und ausgewogen gewahr zu sein. Sie impliziert, der Realität des aktuellen Augenblicks offen zu begegnen, sie vorurteilsfrei zu akzeptieren, alle Gedanken, Emotionen und Empfindungen in unser Gewahrsein treten zu lassen, ohne ihnen Widerstand entgegenzusetzen oder sie vermeiden zu wollen.

Warum ist Achtsamkeit die dritte Kernkomponente des Selbstmitgefühls? Weil wir in der Lage sein müssen, uns unserem Leiden zuzuwenden, anzuerkennen, wenn wir leiden, und in unserem Schmerz lange genug präsent zu sein, um ihm mit Fürsorge und Freundlichkeit begegnen zu können. Während es vielleicht so scheint, dass Leiden vollkommen offensichtlich ist, verhält es sich dennoch so, dass viele Menschen nicht anerkennen, wie viel Schmerz sie durchmachen, vor allem dann, wenn der Schmerz ihrer eigenen Selbstkritik entspringt. Oder aber sie verlieren sich im Problemlösemodus, wenn das Leben sie mit Herausforderungen konfrontiert, dass sie nicht innehalten, um zu betrachten, wie schwer es gerade für sie ist. Achtsamkeit wirkt der Tendenz entgegen, schmerzhafte Gedanken und Emotionen zu vermeiden, und erlaubt es uns, der Wahrheit unseres Erlebens zu begegnen, selbst wenn es unangenehm ist. Gleichzeitig bewahrt uns die Achtsamkeit davor, vollkommen von den negativen Gedanken und Gefühlen absorbiert zu werden und uns mit ihnen zu »überidentifizieren«, uns in unserer Ablehnungsreaktion zu verstricken und uns von dieser forttragen zu lassen. Grübeln und Wiederkäuen unserer Gedanken verengt unseren Fokus und bauscht unsere Erfahrung auf. Ich habe nicht nur versagt, sondern glaube: »Ich bin ein Versager.« Ich war nicht nur enttäuscht, sondern denke: »Mein Leben ist enttäuschend.« Wenn wir unseren Schmerz jedoch achtsam beobachten, können wir unser Leiden anerkennen, ohne es aufzublähen. Dies erlaubt uns, eine weisere und objektivere Perspektive auf uns und unser Leben einzunehmen.

Um mitfühlend mit uns selbst zu sein, bedarf es also eigentlich zunächst einmal der Achtsamkeit als ersten Schritt – wir brauchen geistige Gegenwärtigkeit, um auf neue Art und Weise zu antworten. Statt ihren Kummer mithilfe einer Tafel Schokolade zu ersticken, fasste auch Theresa gleich nach ihrem Fauxpas auf der Firmenfeier all ihren Mut zusammen, um zu betrachten, was geschehen war.

Theresa fügte hinzu: »Ich erkannte einfach an, wie schlecht ich mich in dem Moment fühlte. Ich wünschte, es wäre nicht geschehen, ist es aber. Erstaunlicherweise konnte ich einfach mit den Gefühlen der Verlegenheit sein, den rot angelaufenen Wangen, der Hitze, die mir in den Kopf stieg, ohne dass ich mich in Selbsturteilen verlor. Ich wusste, dass die Gefühle mich nicht umbringen und schließlich auch vorübergehen würden. Und genau das geschah auch. Ich redete mir selbst ein wenig gut zu und traf mich dann am nächsten Morgen mit meiner Kollegin, um mich zu entschuldigen und mich zu erklären, und alles war gut.«

Einen Zustand liebevoller, verbundener Präsenz zu kultivieren kann unsere Beziehung zu uns selbst und unserem Umfeld positiv verändern.

Die drei wesentlichen Elemente des Selbstmitgefühls können auch als liebevolle (Selbstfreundlichkeit), verbundene (gemeinsames Menschsein) Präsenz (Achtsamkeit) beschrieben werden. Befinden wir uns im Zustand liebevoller, verbundener Präsenz, wandelt sich unsere Beziehung zu uns selbst, anderen und der Welt.


ÜBUNG Wie behandele ich einen Freund/eine Freundin?

• Schließ die Augen, und denk einen Moment über die folgenden Fragen nach: Ruf dir ein einen Moment in Erinnerung, in denen ein enger Freund, eine enge Freundin mit etwas zu ringen hatte – Pech, Versagen, einem Gefühl der Unzulänglichkeit –, während es dir gerade gutging und du dich mit dir selbst wohl gefühlt hast. Wie gehst du typischerweise in solchen Situationen mit deinen Freunden um? Was sagst du? Welchen Ton hat deine Stimme? Welche Körperhaltung nimmst du ein? Welche nonverbalen Gesten nutzt du?

• Schreib auf, was du entdeckt hast.


• Schließ nun erneut die Augen, und widme dich dieser Frage:

Ruf dir einen Moment in Erinnerung, in denen du selbst mit irgendetwas zu ringen hattest – Pech, Versagen, einem Gefühl der Unzulänglichkeit. Wie gehst du typischerweise in solchen Situationen mit dir selbst um? Was sagst du? Welchen Ton hat deine Stimme? Welche Körperhaltung nimmst du ein? Welche nonverbalen Gesten nutzt du?

• Schreib auf, was du entdeckt hast.


• Denk nun über die Unterschiede nach zwischen der Art, wie du nahestehende Menschen und Freunde behandelst, wenn diese etwas Schweres durchmachen, und der Art, wie du mit dir selbst in solchen Situationen umgehst. Fallen dir irgendwelche Muster auf?


REFLEXION

Was ist während dieser Übung an Empfindungen und Eindrücken in deinem Inneren aufgetaucht?

Viele Menschen sind, wenn sie diese Übung machen, erschrocken darüber, wie schlecht sie sich selbst im Vergleich zu ihren Freunden behandeln. Wenn es dir auch so geht, bist du also nicht allein. Viele Datenerhebungen weisen darauf hin, dass der Großteil der Menschen mitfühlender mit anderen umgeht als mit sich selbst. Unsere Kultur ermuntert uns nicht gerade dazu, uns selbst freundlich zu behandeln. Deswegen müssen wir ganz bewusst üben, die Beziehung zur eigenen Person zu verändern, um dieser lebenslang abträglichen Gewohnheit entgegenzuwirken.


ÜBUNG

Uns selbst mitfühlend behandeln

Denk an eine aktuelle Schwierigkeit, die du gerade in deinem Leben zu bewältigen hast. Sie sollte allerdings nicht allzu problematisch sein. Beispielsweise ein Streit mit deiner Partnerin, in dem du etwas gesagt hast, was du bereust; oder vielleicht hast du einen Auftrag vermasselt und hast nun Sorge, dass deine Chefin dich zu sich rufen wird, um dich zurechtzuweisen.

• Schreib die Situation nieder.


• Zuallererst schreibst du alle Gedankenszenarios auf, in denen du dich vielleicht verlierst oder die mit dir durchgehen. Denkst du ständig darüber nach, oder machst du die Sache größer, als sie ist? Hast du beispielsweise Angst, dass dir gekündigt wird, auch wenn dein Fehler verhältnismäßig geringfügig war?


• Nun schau, ob es dir möglich ist, den Schmerz in Zusammenhang mit diesem Geschehnis achtsam anzuerkennen, ohne ihn aufzubauschen oder zu dramatisieren. Schreib alle schmerzhaften oder schwierigen Gefühle auf, die du darauf bezogen hast, und versuch dabei, einen relativ objektiven und ausgewogenen Tonfall zu treffen. Erkenn die Schwierigkeit dieser Situation an, während du dich bemühst, dich nicht in der Geschichte um deine Gefühle zu verwickeln. Beispielsweise: »Ich habe wirklich Angst, dass ich nach diesem Vorfall Ärger mit meiner Chefin bekomme. Es fällt mir schwer, das jetzt zu fühlen.«


• Als Nächstes schreib alle Gedanken dazu nieder, die zum Ausdruck bringen, dass du dich in dieser Situation vielleicht allein und isoliert fühlst, denkst, es hätte nicht passieren dürfen oder dass du der Einzige bist, der je in solch einer Situation war. Denkst du beispielsweise, dass deine Arbeit immer perfekt und glattlaufen sollte und es nicht normal ist, Fehler zu machen? Dass niemandem deiner Kollegen solche Fehler unterlaufen?


• Erinnere dich jetzt an die gemeinsame menschliche Erfahrung in dieser Situation – wie normal es ist, solche Gefühle zu haben, und dass viele Menschen wahrscheinlich Gefühle erleben, die deinen ähneln. Beispielsweise: »Ich nehme an, dass es normal ist, ein flaues Gefühl zu haben, nachdem man auf der Arbeit einen Fehler gemacht hat. Jedem unterläuft hin und wieder ein Fehler, und ich bin mir sicher, dass viele andere Menschen schon in ähnlichen Situationen waren, wie ich es gerade bin.«


• Als Nächstes schreib alle Urteile über das Geschehene auf, die du vielleicht über dich hast. Beschimpfst du dich beispielsweise (»Blöder Idiot!« oder »Dumme Gans!«), oder bist du übertrieben streng mit dir (»Du vermasselst immer alles, wann wirst du je dazulernen?«)?


• Bemüh dich nun zum Schluss darum, dir selbst gegenüber ein paar freundliche Worte zu deinen schwierigen Gefühlen aufzubringen. Schreib genau die liebevollen, unterstützenden Worte nieder, die du nutzen würdest, ginge es um eine liebe Freundin, die dir am Herzen liegt. Beispielsweise: »Es tut mir sehr leid, dass du gerade Angst hast. Ich bin mir sicher, dass alles gut wird, und ich werde da sein und dich unterstützen, egal was passiert.« Oder: »Es ist vollkommen in Ordnung, Fehler zu machen, und es ist auch okay, Angst vor den Konsequenzen zu haben. Ich weiß, dass du dein Bestes gegeben hast.«


REFLEXION

Wie war diese Übung für dich? Nimm dir einen Moment, um ganz und gar zu akzeptieren, wie du dich jetzt gerade fühlst. Lass dich einfach genau so sein, wie du jetzt bist.

Einige Menschen spüren allein schon dadurch Linderung und Trost, dass sie diese Übung machen und die Worte der Achtsamkeit, der gemeinsamen menschlichen Erfahrung und der Selbstfreundlichkeit niederschreiben. Wenn es dich unterstützt hat, kannst du dir erlauben, diese Gefühle der Selbstfürsorge zu genießen?

Manch einer erlebt es jedoch als seltsam oder unangenehm, in dieser Art zu schreiben. Wenn dies auch deine Erfahrung ist beziehungsweise wenn es dir zu schnell vorkommt, kannst du dir erlauben, dich erst einmal an diese Vorgehensweise zu gewöhnen und in deinem eigenen Tempo vorzugehen, in dem Wissen, dass es Zeit bedarf, neue Gewohnheiten auszubilden.

Selbstmitgefühl - Das Übungsbuch

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